Gott, wie peinlich!
Annalena Baerbock als Mose: Was die Kampagne einer Interessenvereinigung über unseren Zeitgeist offenbart
Tim Wegner
11.06.2021

Ein weises Gebot für das eigene Handeln im Internet lautet: "Stop making stupid people famous!" Heißt: Man soll Dummheiten nicht noch dadurch zu mehr Reichweite verhelfen, weil man sie empört teilt oder kommentiert. Das hilft nur den Absendern, die so ihr Ziel erreichen - in aller Munde zu sein.

Die Anzeigenkampagne der "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft", kurz INSM, ist allerdings einen Verstoß gegen diese Regel wert, zumal es heute sowieso kaum ein Entrinnen gibt, sie ist omnipräsent (wer es gar nicht lassen kann: bitte). Zweitens verrät die Aktion sehr viel über die Zeiten, in denen wir leben.

Tim Wegner

Nils Husmann

Nils Husmann ist Redakteur und interessiert sich besonders für die Themen Umwelt, Klimakrise und Energiewende. Er studierte Politikwissenschaft und Journalistik an der Uni Leipzig und in Växjö, Schweden. Nach dem Volontariat 2003 bis 2005 bei der "Leipziger Volkszeitung" kam er zu chrismon.

Das Motiv der Anzeige zeigt die Parteivorsitzende und Kanzlerkandidatin der Grünen, Annalena Baerbock, in einer Pose, die Mose nachempfunden ist, der die Zehn Gebote nach biblischer Überlieferung auf dem Berg Sinai von Gott empfing. Dazu die Zeile: "Wir brauchen keine Staatsreligion." Ja, okay, die will Frau Baerbock, nach allem, was man so weiß, auch nicht, aber vielleicht will ja "die" Wirtschaft allwissend und religionsstiftend sein und uns den rechten Weg weisen? Eine gewisse Hybris darf man der INSM jedenfalls unterstellen. Dass die Zehn Gebote des Alten Testaments nicht nur Verbote enthalten, wie es die INSM nahelegt - geschenkt. So viel Allgemeinbildung darf man in einem Lobbyverband vielleicht nicht erwarten. Baerbock und ihre Partei, die an diesem Wochenende über ihr Programm - Achtung, das Wort wird noch wichtig - streiten will, haben in der Anzeige jedenfalls nur Verbote zu verkünden, zum Beispiel: "Du darfst kein Verbrenner-Auto fahren."

Dieser Kommentar soll nun keine Liebeserklärung an Baerbock oder die Grünen werden. Allein schon deshalb nicht, weil die Partei derzeit viel zu viele Fehler macht; es ist nur logisch, dass sie an Zustimmung verliert. Trotzdem ist diese Kampagne nicht nur hochnotpeinlich, sie spielt auch mit antisemitischen Vorurteilen, wie etwa Charlotte Knobloch moniert.

Verliert Wahlen, wer es wagt, inhaltlich zu werden?

Und sie offenbart ein plumpes Kalkül: Dass man in diesem Land Wahlen verliert, wenn man es wagt, inhaltlich zu werden und Positionen zu vertreten. Das ist der Preis für die lange Ära Merkel. Die scheidende Kanzlerin ist jeder Programmatik ausgewichen, unvergessen ihr Wahlslogan "Sie kennen mich" (mit dem, absurd genug, kürzlich auch der Grüne Winfried Kretschmann Erfolg hatte). Offenbar will auch Armin Laschet nahtlos daran anknüpfen. Oder weiß man, wofür er steht? Sein Fraktionschef im Bundestag ist ja immerhin so ehrlich, einen höheren CO2-Preis grundsätzlich zu befürworten.

Sehr geehrte INSM, wenn das Kalkül, dass konkrete Positionen nur schaden, mal nicht fehlgeht! Wir leben schließlich in einer Zeit, in der wir Streit um die besten Lösungen belohnen und nicht bestrafen sollten. Da sind etwa die Folgen der Pandemie, die noch lange nicht ausgestanden ist. Da ist der demografische Wandel, mit all den Herausforderungen, die eine älter werdende Gesellschaft mit sich bringt. Da ist die wachsende Vermögensungleichheit, in der die Reichen selbst in einer Pandemie noch vermögender geworden sind. Und da ist vor allem die menschgemachte Erderwärmung, die uns kaum mehr Zeit für gute Lösungen lässt. Eine davon ist - Stichwort "Marktwirtschaft", die die INSM ja im Namen trägt - übrigens ein echter Energiemarkt, der nicht nur aus vielen Nachfragern, sondern auch aus vielen Anbietern besteht, die Strom produzieren, etwa mit Solaranlagen.

Die Anzeige der INSM offenbart die trügerische Hoffnung, dass auch in Zukunft alles irgendwie so bleiben kann, wie es immer war, wenn nur die bösen Grünen nicht ihre Öko-Religion verkünden. Bloß keine Veränderungen!, das ist die Botschaft.

Man kann nur hoffen, dass dieser Ansatz bei den Wahlen im September nicht belohnt wird, sondern dass wir mutig, ehrlich und fair für eine gute Zukunft streiten. Viele Unternehmerinnen und Unternehmen hoffen das übrigens auch, denn sie erwarten von der Politik verlässliche und klare Rahmenbedingungen, mit denen sie in Zukunft arbeiten können.

Im Kuratorium der INSM sitzt Stefan Wolf, Präsident des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, und es wäre schön, wenn Mitglieder dieses Verbandes ihm zu verstehen geben: "Meine Güte, ist das peinlich!"

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Warum echauffiert sich der Autor über die Qualifizierung der grünen Programmatik als Staatsreligion ?
Es ist seit langem üblich, politische Ideologien,welche, wie die der Grünen,mit einem säkularen Erlösungsanspruch auftreten, als Ersatzreligionen o.Ä. zu bezeichnen, z.B. als "essentiell religiöse Erscheinungen, als Religion aus bloßem Kult,ohne Dogma" (Walter Benjamin) - und dies nicht nur in abschätziger Weise. So schreibt der Mitbegründer der SPD und Co-Autor des Gothaer Programms, Joseph Dietzgen,in seiner Schrift "Die Religion der Sozialdemokratie": "Arbeit heißt der Heiland der neuen Zeit. In der...Verbesserung ... der Arbeit ... besteht der Reichtum, der jetzt vollbringen kann, was bisher kein Erlöser vollbracht hat."
Die INSM ist somit in politisch unverdächtiger Gesellschaft ...
Dennoch ist es natürlich abwegig, die Grünen mit mosaischen oder christlichen Glaubensinhalten in Verbindung zu bringen.
In ihrer Realitätsfremdheit erinnern jene nämlich eher an die spätantiken Anachoreten und in ihrem Schwarz-Weiß-Denken an radikale Manichäer.
Was sie jedoch anrichten werden, sollten sie an die Macht kommen, wird wohl an das Treiben der Wiedertäufer von Münster heranreichen ...

Hochdramatisch, was Sie da andeuten, lieber Herr Querdenker! "Was sie jedoch anrichten werden, sollten sie an die Macht kommen, wird wohl an das Treiben der Wiedertäufer von Münster heranreichen."

Der seit 10 Jahren als Ministerpräsident amtierende grüne Machthaber Winfried Kretschmann wird also demnächst folgendes Schicksal erleiden: Ihm wird "alles Fleisch mit glühenden Zangen von den Knochen abgerissen und dann Gurgel und Herz mit glühenden Eisen durchstoßen werden".

Quelle: https://wiki.muenster.org/index.php/Wiedert%C3%A4ufer-K%C3%A4fige

Vorher muss aber das grüne Regiment in Baden-Württemberg nach monatelanger Belagerung durch mutmaßlich bayerische und schweizerische Truppen gestürzt werden. Quergedachte Geschichte eben.

Fritz Kurz

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Apropos Zukunft: Von keiner Partei, von keiner Religion eine Aussage darüber, was man denkt, wie lange denn die Menschheit noch existieren könnte. 500, 1000, 1 Mio. Jahre? Ist am Ende auch die Religion zu Ende? Tabu-Fragen?

Der Querdenker denkt nicht zu kurz. Es gibt kaum noch eine wirkliche Konkurrenz zwischen der politischen und der religiösen Paradieserwartung. In trauter Eintracht wird beides miteinander verwoben. Von Kanzeln und auf Kirchentagen, in den Reden führender EKD-Mitglieder und im Programm wird mit ähnlichen Inhalten nahezu das gleiche Lied gesungen. Sind grüne Katholiken die Ausnahme? Wie ist eigentlich die Konfessionsverteilung bei Pro und Contra, bei der Sorge und der Gleichgültigkeit? Oder wird Rom es schon richten? Wenn schon das jenseitige Paradies nicht mehr den alten Vermittlungswert hat, und die Hölle als vage angesehen wird, dann muss unbedingt ein zeitlich nächstliegender Realismus in Form des Klimas als Heilserwartung geboten und als Untergang (wohin?) befürchtet werden. Die Hölle in Form der Zukunft, und das Heil als gutes Gewissen. So bleibt man auf der Höhe der Zeit. Warum eigentlich nicht? Eine naheliegende und vortreffliche Arbeitsteilung. Aber es wird immer welche geben, die auch diesen Zusammenhang leugnen.

Lieber Herr Ockenga, Sie werden geplagt von der Sorge um den ungehinderten Wettbewerb zwischen verschiedenen Paradieserwartungen. "Es gibt kaum noch eine wirkliche Konkurrenz zwischen der politischen und der religiösen Paradieserwartung."

Da muss endlich das Bundeskartellamt einschreiten! Sonst gibt es am Ende nur noch ein Paradies und dann haben wir den Salat! Wer soll dann entscheiden, ob das nur ein lausiges politisches oder doch ein hoch angesehenes religiöses Paradies ist?

Wenn ich Wäsche wasche, wird die doch auch nur deswegen sauber, weil es mindestens zehn weitere Waschmittel gibt, die in Konkurrenz zu dem von mir verwendeten stehen. Und wer jetzt einwenden will, dass Waschmittel und Paradies nicht dasselbe sind, hat Recht. Ein Waschmittel ist nämlich zumindest zu einem Zweck gut.

Fritz Kurz

Zitat Kurz: " Und wer jetzt einwenden will, dass Waschmittel und Paradies nicht dasselbe sind, hat Recht. Ein Waschmittel ist nämlich zumindest zu einem Zweck gut".

Lieber Herr Kurz, Anerkennung, sie haben Recht! Aber mehr auch nicht. Es geht mir um die unheilvolle Verquickung von Religion und Politik, die jetzt dazu geführt hat, dass besonders die ev. Kirche mangels anderer Überzeugungsvoraben versucht, ihr Heil in der Politik zu suchen. Die EKD ist da höchst flexibel, wie auch in vielen Glaubensinhalten. Bis zum Glaubensmischmasch von Religion und den Folgen der Zivilisation. Rom ist nicht so flexibel. Deren Organisationsform behindert sie. Im Dunkeln soll noch die Macht funkeln. Auch das Konkordat war und ist ein Zeugnis innigster Verbundenheit von Kirche und Staat. Dazu muß es nicht kommen. Und wer dafür Bundeskartellamt beansprucht, der sollte sich von anderen Sorgen plagen lassen.

Keine Sorge, lieber Herr Ockenga, mir war auch diesmal nicht entgangen, dass Sie, wie so oft, eine Verquickung von Religion und Politik beklagen. Als Beleg für Ihren Standpunkt weisen Sie dann gerne auf die Konkordate hin.

Da unterläuft Ihnen ein Irrtum. Das Mitmachertum großer Teile der Gläubigen beim Faschismus ist nicht deswegen zu kritisieren, weil eine angebliche Trennung von Religion und Politik nicht beachtet worden wäre. Das Mitmachen bei den oder Gewährenlassen der Braunen ist deswegen ein Fehler, weil die braune Politik zu kritisieren ist. Genau das erfolgte nicht. Im Gegenteil. Selbst bei wesentlichen Teilen der Bekennenden Kirche stand nicht die Kritik des Faschismus an erster Stelle, sondern man regte sich darüber auf, dass der Adolf in die Kirche hineinregieren wollte. Das sollte den evangelischen Bischöfen oder Christus persönlich vorbehalten sein, bei den Katholiken dem Stellvertreter Christi.

Glaube und Poltik können überhaupt nicht grundsätzlich getrennt werden. Sie haben beide dasselbe im Blick: Das Treiben der Zweibeiner. Das ist immer auch politisch.

Weder beim damaligen Kooperieren von Kirchen und Faschismus noch bei dem derzeitigen Schmusekurs von Evangelischen und Grünen ist die Verquickung der Knackpunkt. Der Fehler war damals die fehlende oder mangelhafte Kritik am Faschismus. Der Fehler heute ist die fehlende oder mangelhafte Kritik an Marktwirtschaft, Demokratie und daraus folgender moralischer Inanspruchnahme der Staatsinsassen unter ökologischen Berufungstiteln.

Fritz Kurz

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