Zufall? Bestimmung!
Für seine Bar-Mizwa musste Hermann Simon hebräische Thoraverse vortragen. Erst viel später ging ihm auf, wie gut sie zu ihm passen.
Hermann SimonMichael Gottschalk/ddp images
06.04.2021
Deutsche Übersetzung der Thora Prophet Amos, Kapitel 9, Vers 7 bis 15, Vers 11:  "An  jenem Tag erstelle ich Davids zerfallene Hütte wieder, ich verzäune ihre Risse, ihre Trümmer stelle ich wieder her, ich baue sie wie in den Tagen der Vorzeit ."

Eine Woche nach meinem 13. Geburtstag, am 28. April 1962, sollte in der Ostberliner ­Synagoge Rykestraße meine Bar-Mizwa stattfinden. Das heißt: Ich sollte im Rahmen des Schabbat-Gottesdienstes in den Kreis der ­Erwachsenen aufgenommen werden und von da an zum Minjan zählen, der Anzahl von zehn ­religiös mündigen Männern, die zur Abhaltung eines Gottes­dienstes erforderlich sind. 

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Hermann Simon

Hermann Simon, geboren 1949, ist ­Historiker, Publizist, Herausgeber zahlreicher Schriften. Von 1988 bis 2015 war er Direktor der Stiftung "Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum".

Zur Bar-Mizwa gehört üblicherweise, dass man sich an der Lesung des Thora-Abschnitts (hebräisch Parascha) für diesen Tag beteiligt. Das hört sich vielleicht einfach an. Doch der Text der hebräischen Bibel und die dazuge­hörigen Segenssprüche werden auf Hebräisch vorge­tragen. Erschwerend kam hinzu, dass Rabbiner Martin Riesenburger (1896–1965), bei dem ich Bar-Mizwa-Unterricht hatte, und mein Vater sehr musikalisch waren. ­Deshalb sollte ich den Text aus der Thora und die begleitenden Segenssprüche nicht sprechen, sondern singen!

Zum Glück war ich noch nicht im Stimmbruch, zum Glück konnte ich ein bisschen Hebräisch aus dem Religions­unterricht. Es war trotzdem eine Qual. Rabbiner Riesenburger hatte die Melodiezeichen unter dem gedruckten Bibeltext in Notenschrift übertragen. Und so setzte sich mein Vater jeden Tag ans Klavier, um mich zu begleiten, und ich musste aus dem Gebetbuch die gelernten Segenssprüche und den Abschnitt aus der Thora wiederholen. Über wie viele Wochen sich das hinzog, weiß ich nicht mehr. Gefühlt entsetzlich lang. 

Was für eine Mühe!

Was ich da auswendig lernte, war mir unklar. Ich er­innere mich nicht, dass irgendjemand mit mir damals darüber gesprochen hätte, was eigentlich in den hebräischen Texten steht und wie sie zu interpretieren seien. Nachdem ich den Thora-Abschnitt und die Segenssprüche einigermaßen beherrschte, eröffnete mir mein Vater, dass zu einer "richtigen Bar-Mizwa" gehöre, dass ich auch die prophetische Lesung (hebräisch Haftara) für diesen Tag vortrage, die sich auf den Thora-Abschnitt bezieht. Sie wird natürlich auch von Segenssprüchen umrahmt, und die sind doppelt so lang wie die, die ich gerade memoriert hatte. Was für eine Mühe!

Der Inhalt der prophetischen Lesung war mir damals nicht bewusst. Und doch hatte sie für mein Leben eine große Bedeutung. Das ging mir 33 Jahre später auf. Ich war Historiker geworden und hatte sieben Jahre intensiv darauf hingearbeitet, dass die Berliner Neue Synagoge in der Oranienburger Straße in Teilen wieder aufgebaut ­wurde. 

Synagoge in der Oranienburger Straße

Sie war im November 1938 von den National­sozialisten geschändet und in Brand gesteckt worden, im ­November 1943 hatten Bomben sie schwer beschädigt. 1958 wurde der einstige Synagogenraum abgerissen, und erst 1988 ­konnte mit dem Wiederaufbau des vorderen Teils be­gonnen werden. Nun war es so weit: Die Synagoge erstrahlte in neuem Glanz und sollte als Centrum Judaicum eingeweiht werden, ich war Gründungsdirektor.

Kurz vor der Einweihung am 7. Mai 1995 fragte mich mein Vater: "Erinnerst du dich an deine Haftara? Sie wird dieses Jahr am 6. Mai in allen Synagogen dieser Erde ge­lesen, ist sozusagen im Jahreszyklus dran." Ich schlug ­eine deutsche Übersetzung der Thora auf, beim Propheten Amos, Kapitel 9, Vers 7 bis 15, und konnte nicht fassen, was ich in Vers 11 las: "An jenem Tag erstelle ich Davids zerfallene Hütte wieder, ich verzäune ihre Risse, ihre Trümmer stelle ich wieder her, ich baue sie wie in den Tagen der Vorzeit . . ."

Mein Vater wusste, dass diese Zeilen bei meiner Bar-Mizwa eine Rolle gespielt hatten. 1962 waren die Trümmer in Berlin noch sichtbar gewesen, und meine Eltern ­waren gezeichnet von den Spuren der Verfolgung durch die Nationalsozialisten. "Es ist ein überwältigendes Gefühl zu wissen, für die Wiedererrichtung dieses Hauses, bei dem die Narben der Geschichte durch die optische Konfronta­tion des Gewesenen mit dem Seienden für immer sichtbar sind, Verantwortung getragen zu haben", habe ich in meiner Eröffnungsrede im Mai 1995 gesagt und die Worte des Propheten Amos zitiert. Ich habe sie nie mehr vergessen.

Bibelzitat

Deutsche Übersetzung der Thora Prophet Amos, Kapitel 9, Vers 7 bis 15, Vers 11: "An jenem Tag erstelle ich Davids zerfallene Hütte wieder, ich verzäune ihre Risse, ihre Trümmer stelle ich wieder her, ich baue sie wie in den Tagen der Vorzeit ."

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An den Zufall glaube ich so wenig wie an eine sinnvolle Erfüllung des SCHICKSALS (das man auch "göttliche Sicherung" vor den Möglichkeiten des Freien Willens und der Schöpfung eines neuen/weiteren Geistes nennen kann).

Es ist also weder Grund zu Freude oder Stolz, wenn man die Vorsehung spürt und offenbar nichts weiter als die Illusionen als befriedigend erkennt!

Zufall oder Bestimmung, das sind die beiden Seiten ein und derselben metaphysischen Spekulation auf ein Absolutes hin. Die Wirklichkeit besteht hingegen aus einem ständig sich verändernden, lebendigen Beziehungsgeflecht; und die Koinzidenzen, d.h. die sich überschneidenden Linien von Begegnungen und Ereignissen, ergeben sich aus diesem dynamischen Zusammenhang. Klug ist, wer seine Aufmerksamkeit auf den Sinn oder die Deutungsmöglichkeiten dieser schicksalhaften und lebenswichtigen Schnittstellen richtet. Das ist der Prüfstein, der zumindest ein Körnchen Wahrheit enthält.

Antwort auf von Alfred Schubert (nicht registriert)

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"Die Wirklichkeit besteht hingegen aus einem ständig sich verändernden, lebendigen Beziehungsgeflecht". Davon habe ich noch nichts bemerkt. Die Wirklichkeit besteht aus Arbeitgebern und Arbeitnehmern, Politikern und Bürgern, Gefängnisinsassen und Gefängniswärtern, Mietern und Vermietern, Käufern und Verkäufern.

"Klug ist, wer seine Aufmerksamkeit auf den Sinn oder die Deutungsmöglichkeiten..." Wer auf Sinnsuche und Deutungen aus ist, will offenbar nicht erklären, was es mit den verschiedenen gesellschaftlichen Gestalten auf sich hat. Das ist das Gegenteil von klug.

Friedrich Feger

Antwort auf von Friedrich Feger (nicht registriert)

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Ja, der Herr Schubert hat den scheusslichen bewusstseinsbetäubten Opportunismus zur Hierarchie im geistigen Stillstand umschrieben zu rechtfertigen versucht!?

"Die glücklichen Sklaven sind die erbittertsten Feinde der Freiheit." (Marie von Ebner-Eschenbach)

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