Behandlung von COVID Patienten auf der Intensivstation des Unispitals Basel
Fabian Fiechter
Was tun bei überfüllten Intensivstationen?
Wen retten, wenn zu viele Corona-Kranke Beatmung brauchen – dafür gibt es nun eine Leitlinie. Interview mit einem Ethiker
Tim Wegner
02.12.2020

chrismon: In vielen Ländern gab es zuletzt zu wenig Intensivbetten für all die Covid-Kranken, also zu wenige dieser Betten mit all den Geräten dran, die messen und ganze Organe ersetzen können, etwa die Lunge…

Michael Coors: … wobei wir in Deutschland im europäischen Vergleich ungewöhnlich viele Intensivbetten haben. Viel kritischer als der Mangel an Betten ist bei uns der Mangel an Pflegefachkräften.

Und es gibt ja noch mehr Schwerkranke zu versorgen als nur die Covid-Kranken.

Genau. Im Normalbetrieb sind immer etwa 80 Prozent der Intensivplätze belegt, und zwar mit Menschen, die zum Beispiel einen Unfall, Herzinfarkt oder Hirnschlag erlitten haben oder wegen eines Krebsgeschwürs operiert worden sind.

Frank Brüderli

Michael Coors

Michael Coors ist außerordentlicher Professor für Theologische Ethik an der Universität Zürich und leitet dort das Institut für Sozialethik und das interdisziplinäre Ethik-Zentrum der Universität. Er lebt mit seiner Familie in Hannover.

Pro Krankenhaus waren Anfang Dezember nur noch drei Intensivbetten frei. Wenn nicht mehr alle behandelt werden können, muss man auswählen, also eine Triage machen.

Normalerweise ist es im Gesundheitssystem so: Wer am meisten in Not ist, wer am meisten Hilfe braucht, der bekommt auch mehr Hilfe. Aber das funktioniert dann nicht mehr, wenn die Intensivstationen überfüllt sind, auch überregional überfüllt sind. Wenn Sie dann einen Schwerkranken haben, der drei Pflegefachkräfte bindet, mit denen Sie sonst zwei, drei nicht ganz so schwer Erkrankte versorgen könnten – dann ist das in einer akuten Überlastungssituation eine schwere Abwägung, in der man dann aber naheliegender Weise den Erkrankten, der besonders viel Hilfe braucht, sterben lässt, weil man dafür zwei oder drei andere Patienten versorgen kann. So eine Situation haben wir in unserem deutschen Gesundheitssystem außerhalb des Krieges nie gehabt. Andere Länder haben bei den Grippeepidemien Anfang der 2000er Jahre bereits Notfall-Triage machen müssen. Aber für uns ist das eine völlig neue Situation.

Das muss furchtbar sein für die Ärzt:innen, die so was entscheiden müssen.

Ja, das ist wirklich hart, denn sie müssen mit ihrer Berufsethik brechen, die eigentlich sagt: Dem in der größten Not wende dich sofort und ganz zu.

Damit nicht willkürlich über Leben und Tod entschieden wird, haben mehrere deutsche medizinische Fachgesellschaften eine Leitlinie verfasst, wie bei einem absoluten Mangel zu entscheiden ist.

Das Ziel ist, möglichst viele Leben zu retten. Aber in Deutschland sollen nicht automatisch die mit der größten Lebensresterwartung gerettet werden, also die Jüngeren, wie es in der Not wohl in Norditalien passiert ist, sondern wir schauen allein auf die Überlebenswahrscheinlichkeit eines Patienten…

… also wie wahrscheinlich es ist, dass er überlebt, wenn er auf der Intensivstation behandelt wird.

Genau. Wir schauen auf die Prognose. Bei extremen Gegensätzen ist eine Entscheidung noch recht einfach – der eine Patient hat nur eine Chance von zehn Prozent zu überleben, der andere hat 80 Prozent. Schwierig ist es im Mittelfeld. Aber in diesen Graubereich kommt man erst, wenn die Überlastungssituation wirklich katastrophal wird. Das heißt, am Anfang so einer Überlastungssituation wird nur der Patient mit der ganz schlechten Prognose nicht auf der Intensivstation beatmet.

Was passiert dann mit so einem Patienten, der nicht invasiv beatmet werden kann? Kümmert sich um den keiner mehr?

Nein, nein, das darf und wird auf keinen Fall passieren. Es gibt grundsätzlich die ärztliche Pflicht zur Leidenslinderung. Also wird auch das Leiden an der Atemnot gelindert werden, indem der Patient zum Beispiel sediert, also in eine Art künstlichen Schlaf versetzt wird. Der Patient wird palliativ behandelt.

Man will in Deutschland also nicht automatisch die alten Menschen aussortieren, das ist ja schon mal gut. Aber es hat doch auch mit dem Alter zu tun, ob jemand eine gute Prognose oder eine schlechte Prognose hat!

Indirekt, ja. Eine invasive Beatmung, also mit Beatmungsschlauch im Rachen, ist ein starker Eingriff in den Körper. Die gesamte Behandlung hat viele Nebenwirkungen und Risiken, die man umso schlechter verträgt, je gebrechlicher man ist. Es ist tatsächlich so: Wenn man zu den sogenannten Risikogruppen gehört, hat man in der Situation der Triage eine schlechtere Aussicht, behandelt zu werden. Aber die Entscheidung, ob jemand auf der Intensivstation behandelt wird, hängt nicht direkt vom Alter ab, sondern vom gesundheitlichen Gesamtzustand. Der kann bei einem 70-Jährigen besser sein als bei einem 50-Jährigen.

Das klingt so, dass besonders jene Menschen durch die Triage benachteiligt werden, die bisher schon schlechte Karten hatten.

Ja, ich würde schon sagen, dass durch Triage-Entscheidungen die bestehenden Diskriminierungen deutlicher werden, vielleicht sogar verstärkt. In den USA zum Beispiel werden Menschen mit lateinamerikanischem Hintergrund oft sehr viel schlechter medizinisch versorgt, sie haben eine niedrigere Lebenserwartung, viel mehr Krankheiten. Wenn jetzt eine Triage durchgeführt wird, fallen sie aufgrund dieser schlechten Aussichten erst recht durchs Raster. Das ist auch das, was die Behindertenverbände in Deutschland massiv kritisieren an der Triage-Leitlinie: Die, die sowieso schon benachteiligt sind, wissen von vornherein, ich werde eine deutlich schlechtere Chance haben auf einen Beatmungsplatz, wenn die Ressourcen knapp werden.

Einige Menschen mit Behinderung – etwa einer angeborenen Krankheit oder einem transplantierten Organ – haben ja nun auch Verfassungsbeschwerde eingereicht gegen diese Leitlinien.

Diese Menschen sagen: Das muss rechtlich geregelt werden, also per Gesetz. Das geht nicht per Leitlinie von medizinischen Fachgesellschaften.

Warum gibt es kein Gesetz zur Triage?

Der Deutsche Ethikrat hat sich damit gründlich auseinandergesetzt und sagt: Wenn man das per Gesetz regeln würde, würde man ja rechtlich erlauben, Menschen, die man lebensrettend behandeln könnte, unter bestimmten Bedingungen sterben zu lassen – ohne dass diese Menschen der Nichtbehandlung zugestimmt haben. Und die Frage ist, ob das mit dem Grundgesetz zu vereinbaren ist. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Wenn alle die gleiche Würde haben, dann darf ich eigentlich nicht ein Menschenleben gegen ein anderes Menschenleben abwägen, so wie man es in der Triage tut.

Riskiert eine Ärztin, die eine Not-Triage macht, eine Anklage?

Wahrscheinlich nicht. Juristen sprechen davon, dass die Ärztin in einem "rechtfertigenden Notstand" gehandelt hat. Es ist ein Notstand, dass ich nur ein Bett habe, aber zwei Patienten. Einen von beiden kann ich nicht versorgen, ich muss also entscheiden.

Es gäbe ja noch zwei andere Möglichkeiten, in einer Mangelsituation zu entscheiden: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Oder man verlost den Beatmungsplatz, jeder hat die gleiche Chance. Der Rest ist dann Schicksal.

Genau, das sind die beiden Alternativen, die es gibt. Aber "First come, first serve" entwickelt eine falsche Anreizlogik: Die Leute kommen tendenziell zu früh in die Notaufnahme – in der Hoffnung, doch noch genommen zu werden. Das bedeutet aber, dass ab einem gewissen Punkt der pandemischen Entwicklung alles voll ist, und dann wird eben keiner mehr aufgenommen. Da wäre das Losverfahren schon eher fair.

Losen wäre fair? Das gäbe doch einen Aufstand!

Aber unter dem Aspekt der Chancengleichheit ist Losen in der Tat fairer, weil eine Person mit Behinderung dann eine genau so gute Chance auf Therapie hat wie eine Person ohne, eine hochaltrige genau so eine Chance wie eine 20-jährige Person. Unabhängig von der Prognose. Jetzt kann man fragen: Warum gäbe es einen Aufstand? Warum leuchtet dagegen das Triage-Verfahren so unglaublich vielen Menschen doch ein? Es gibt dagegen ja erstaunlich wenig Widerstand in der breiten Bevölkerung.

Und, warum scheint vielen Leuten die Triage das kleinere Übel?

Weil klar ist, dass weniger Menschen überleben werden, wenn wir die Intensivplätze verlosen. Denn es werden immer auch einige ein Los ziehen, bei denen die Ärzte nur fünf Prozent Chance sehen, dass sie überleben, und dafür blockieren sie fünf Wochen lang ein Intensivbett. In der Zeit könnten dann aber zum Beispiel zwei, drei andere mit besseren Chancen gerettet werden.

Was finden Sie selbst besser – Verlosung oder Triage?

Ich selber halte die Triage-Auswahl nach Erfolgsaussicht für plausibel. Unter den schlechten Optionen scheint mir diese die am wenigsten schlechte.

Es gibt Anregungen, von sich aus auf ein Intensivbett verzichten. Ganz offen wird den Menschen in der Schweiz, aber nun auch in Deutschland geraten, darüber nachzudenken, ob sie nicht in einer Patientenverfügung regeln wollen, eine invasive Beatmung oder andere lebensverlängernde Intensivmaßnahmen abzulehnen im Fall eines schweren Covid-Verlaufs. Ist das nicht ziemlich unpassend?

Es wird ja nur gesagt: Denken Sie darüber nach. Das finde ich sinnvoll. Denn wenn Menschen das eigentlich für sich klar haben, dass sie in bestimmten Situationen keine Maximaltherapie haben wollen, wenn sie das aber nie aufgeschrieben und auch niemandem gesagt haben, dann werden sie womöglich in Zeiten des Mangels maximal behandelt, weil niemand von ihrem Wunsch weiß. Und andere, die gern eine Behandlung gehabt hätten, bekommen keine.

Eine Patientenverfügung geht nicht so schnell. Reicht es, einem Angehörigen zu sagen: Hör mal, ich will keine Luftnot spüren, ich will nicht leiden, aber drei Wochen invasive Beatmung und hinterher muss ich neu atmen lernen, das muss ich nicht haben.

Das reicht, aber Sie müssen der Person eine schriftliche Vollmacht geben, damit sie Sie vertreten darf. Sie können sich aber auch einfach hinsetzen und sagen: Okay, ich hab jetzt keine Patientenverfügung, aber zumindest diesen Teilbereich hier will ich schriftlich regeln. Sie können einfach schreiben: Für den Fall einer schwer verlaufenden Covid-19-Infektion möchte ich folgende medizinische Behandlungen nicht…. Mit Ihrer Unterschrift ist das dann nach deutschem Recht schon eine gültige Patientenverfügung.

Es ist also irgendwie gerecht, Kranke nach ihrer Überlebensaussicht auszuwählen, zu triagieren. Aber nicht alles, was gerecht ist, ist auch gut.

Eine Triage ist kein idealer Zustand. Es würden Menschen sterben, die unter normalen Bedingungen nicht sterben müssten. Das ist die bittere Wahrheit.

Das hat man aus Italien erfahren: Es traumatisiert, manche Patient:innen nicht behandeln zu dürfen in so einer Notsituation.

Ja, das traumatisiert massiv, das ärztliche Personal, aber auch die Pflegekräfte. Weil es eine Entscheidung ist gegen ihre antrainierte moralische Intuition: Wer viel braucht, kriegt unsere ganze Aufmerksamkeit.

Das heißt: Wir müssen alles tun, um eine Triage-Situation zu vermeiden.

Das ist eine ganz wichtige Schlussfolgerung aus all diesen Problemen. Wir müssen vermeiden, dass so viele infiziert werden, dass die Intensivstationen überlastet werden. Deswegen treiben wir diesen ganzen gesellschaftlichen Aufwand.

Ist an der furchtbaren Situation, dass man nicht alle retten kann, die man normalerweise retten würde, nicht auch was hausgemacht? Wie viele Pflegekräfte es gibt, ist ja eine politische Entscheidung.

Im besten Fall wäre es so, dass wir als Gesellschaft etwas daraus lernen. Aber der Umgang mit der Pflege nach der ersten Welle lässt mich da skeptisch zurück. Es hätte im Sommer ja nun wirklich die Gelegenheit gegeben zu sagen: Okay, wir sehen, wie wichtig Pflege ist, und wir ändern was an dem System – aber das ist ja nicht passiert.

Also eine viel bessere Bezahlung?

Ja, aber auch die Arbeitssituation insgesamt verbessern, mehr Personal pro Station, den Beruf attraktiver machen, deutlich machen, dass es ein gut bezahlter, dass es ein hochqualifizierter und extrem anspruchsvoller Beruf ist. Dass das nicht passiert ist, das ist wirklich... "bedauerlich" ist noch freundlich gesagt.

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"Im besten Fall wäre es so, dass wir als Gesellschaft etwas daraus lernen."

Was wir die Gesellschaft daraus lernen sollten, ist die Erkenntnis das die Privatisierung des Gesundheitssektors rückgängig gemacht werden muss, damit mehr Personal, mehr Lohn gezahlt wird, und das im Krisenfall ganz schnell, OHNE die Frage nach "Wer soll das bezahlen?", mehr Notfallstationen, mehr Testlabore und mehr Impfzentren eröffnet werden.
Ausserdem ist noch eine extreme Ungerechtigkeit in der Corona-Krise deutlich geworden, und zwar das Spekulanten wie Vermieter und Versicherer, aber auch Energieversorger, keine Rücksicht, bzw. keine der Krise angemessenen Kürzungen hinnehmen müssen, und somit die Krise sogar noch verschärfen!

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Meiner Überzeugung nach hat Prof. Coors das Problem überzeugend dargestellt. Trotzdem bleibt eine Frage: wer entscheidet in solchen Fällen? In einer Vorschrift des Heeres habe ich vor 35 Jahren festgelegt: "Der erfahrenste Arzt." Diese Ergänzung der Ethik-Richtlinien halte ich für geboten, vielleicht mit der (selbstverständlichen) Ergänzung "der erfahrenste verfügbare Arzt".
Joachim H. Schlüter

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Covid-19: Was tun, wenn die Intensivstationen überfüllt sind?

Eine Triage, die Entscheidung über Leben oder Tod eines Menschen, ist zweifellos sehr unangenehm. Aber dazu müsste es doch gar nicht kommen.

Vorab: Als Berater von Klein- und Mittelunternehmen erkennt man nach Einsicht der betrieblichen Kennzahlen sehr schnell wo man Ansetzen muss, will man die wirtschaftliche Lage des Unternehmens verbessern. Ein Wert fällt aus dem Rahmen und dort setzt man an, ähnlich wie bei den schwer Erkrankten und Sterbefällen während der Corona-Pandemie.

Wollte man die Quote senken, so dass die Intensivstationen nicht an die Grenze ihrer Belastbarkeit stoßen, hätte man bereits im Frühjahr 2020 umfassende Hygienekonzepte für die Alten- und Pflegeheime entwickeln müssen, die dann konsequent angewendet worden wären. Statt beispielsweise Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr bei den Gesundheitsämtern abzustellen, um eventuell Infektionsketten zurück zu verfolgen, was nur in wenigen Fällen erfolgreich war, wären dieselben Personen vor den Eingängen der Alten- und Pflegeheime besser eingesetzt gewesen. Niemand, kein Mitarbeiter, kein Besucher, kein Lieferant, kein Handwerker dürfte das Haus betreten haben, bevor nicht Fieber gemessen, die Hände desinfiziert, der Mund-Nasenschutz überprüft worden wäre und eventuell noch mehr. Und die Heimbewohner säßen nicht wie üblich dicht beieinander, sondern mit Abstand zum Nachbarn. Um entsprechende Maßnahmen vorzubereiten, wäre in den Sommermonaten Zeit gewesen. Es ist wenig passiert, obwohl zu jedem Zeitpunkt die allermeisten Covid-19-Fälle in den Heimen auftraten. Hätte man entsprechende Maßnahmen ergriffen, hätte sich das Problem einer Triage gar nicht gestellt.

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