Ist "höflich" spießig?
Formen und Manieren dienen nicht der Macht, sondern der Freiheit.
Lena Uphoff
20.12.2019

Aufstehen, wenn man mit dem Lehrer spricht! Der Befehl aus der Schulordnung war für mich Anlass zum Aufstand: Nach meiner Wortmeldung mit dem erhobenen Zeigefinger blieb ich sitzen. Ich tat dies selbst dann, wenn mir die Lehrkraft androhte, mich zum Sitzenbleiber zu machen.

Daran musste ich denken, 
als ich mit ein paar ­Freunden neulich darüber plauderte, wie schlimm es um unsere alltägliche ­Kultur bestellt sei. "Da hocken sich Leute in unserem Wartezimmer gegen­über und sagen nicht mal "Guten Tag, Hallo oder Grüß Gott" zu­einander", berichtete Irmhild, von Beruf Internistin. Und Manfred ergänzte: "Manieren beantworten die Frage: Wie gehen wir anständig miteinander um? In einer Welt der Formlosigkeit gelten solche Regeln als überholt. Und dennoch sind die Leute auf der Suche nach Zeichen, die Gemeinschaft symbo­lisieren."

Lena Uphoff

Arnd Brummer

Arnd Brummer, geboren 1957, ist Journalist und Autor. Bis März 2022 war er geschäftsführender Herausgeber von chrismon. Von der ersten Ausgabe des Magazins im Oktober 2000 bis Ende 2017 wirkte er als Chefredakteur. Nach einem Tageszeitungsvolontariat beim "Schwarzwälder Boten" arbeitete er als Kultur- und Politikredakteur bei mehreren Tageszeitungen, leitete eine Radiostation und berichtete aus der damaligen Bundeshauptstadt Bonn als Korrespondent über Außen-, Verteidigungs- und Gesellschaftspolitik. Seit seinem Wechsel in die Chefredaktion des "Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatts", dem Vorgänger von chrismon im Jahr 1991, widmet er sich zudem grundsätzlichen Fragen zum Verhältnis Kirche-Staat sowie Kirche-Gesellschaft. Seine besondere Aufmerksamkeit gilt kulturwissenschaftlichen und religionssoziologischen Themen. Brummer schrieb ein Buch über die Reform des Gesundheitswesens und ist Herausgeber mehrerer Bücher zur Reform von Kirche und Diakonie.

Darauf antwortete Hansjörg, bekennender Atheist: "Du bist doch evangelischer Pfarrer, Manfred. Die Reformation hatte ja nichts anderes im Sinn, als klassische Formen wie zum Beispiel die Liturgie zu beseitigen. ­
Ich habe deshalb schon als junger Kerl nicht verstanden, dass unsere Pas­torin auf die Einhaltung spießiger Regeln 
bestand. Sie krittel­te an unseren ­Klamotten rum: Im Got­­tesdienst trägt man keine ungewaschenen Jeans, keine ungebügelten Hemden oder 
Sportschuhe! Altmodisch, klein­bürgerlich, überholt! Deshalb habe 
ich diesen Verein verlassen." Schade.

Was unterscheidet Deutsche von Briten, Schwaben von Preußen? Schon immer haben Gemeinschaften Sitten und Bräuche gepflegt, die sich von denen anderer abhoben. Gerade Religionen hatten seit Urzeiten die Aufgabe, wenn auch oftmals im Sinne feudaler Herrscher, diese Kultur zu entwickeln und zu repräsentieren.

Wie geht man anständig mitein­ander um?

"Wer höflich ist, gilt als gestrig. Das ist das Problem", resümierte Irmhild. Ich kann ihr hier nur vehement wider­sprechen. Mein Eindruck ist eher: Nur wer gestrig "höflich" ist, wird von der älteren Generation anerkannt. In ­einer Zeit, in der die sogenannten "Social Media" zum Alltag gehören, in der jedermann und jedefrau weltweit kommunizieren können, ist es nicht "unhöflich" im Bus zu sitzen und Whatsapp oder Instagram zu nutzen. Wer dies allerdings so laut tut, dass seine Sitznachbarn dadurch heftig ­gestört werden, benimmt sich schlecht. Zugegeben: Das haben die älteren Damen und Herren nicht getan, wenn sie sich leise und grußlos hinter ihren Zeitungen versteckten.

Wie geht man anständig mitein­ander um? Die zentrale Frage der alltäglichen Kultur wird durch technische, wirtschaftliche und soziale Entwicklungen stets neu gestellt. Und zu Hansjörg sage ich: Freiheit im Sinne Jesu bedeutet alles andere als die Tyrannei von Regeln. Aber der Verzicht auf jegliche Form ermöglicht es den Starken und Mächtigen, die Schwachen und Verletzlichen zu unterdrücken. Somit sind Ordnung und Manieren keine Machtinstrumente, sondern – stets zu hinterfragende – 
Garanten einer Gemeinschaft der Freien. Und wenn ich sehe, dass jemand mir hilfsbedürftig erscheint, ist es durchaus im Sinne der Nächsten­liebe, nicht ungefragt zuzugreifen. Die Frage "Darf ich . . ." oder "Kann ich Ihnen helfen?" bezeugt im wahrsten Sinne des Wortes Anstand.

Permalink

Sehr geehrte Damen und Herren!
Vor dem Hintergrund zunehmender Klagen über die Verrohung der Gesellschaft ist dieser Artikel besonders zu begrüßen.
Ein harmonisches Miteinander bereichert das Leben, kann jedem soviel Positives geben. Eigentlich ist es gar nicht so schwer, gut miteinander umzugehen und die Bedürfnisse der Mitmenschen zu sehen, freundlich, höflich, empathisch, rücksichtsvoll zu sein, nicht nur an sich selbst zu denken, auch Anderen Aufmerksamkeit zu schenken.
Meine Antwort auf die Ausgangsfrage lautet daher: Höflich zu sein, ist zu jeder Zeit wichtig, tragen verbindliche Umgangsformen doch dazu bei, dass Menschen sich nicht gehen lassen, aufeinander Rücksicht nehmen und am Ende sogar mehr Empathie füreinander entwickeln.
Mit freundlichen Grüßen
Gabriele Gottbrath

Permalink

Sehr geehrter Herr Brummer,
kurz vorm Fest nutzten mein Mann und ich das Niedersachsenticket zum Besuch der Bremer Weihnachtsmärkte. Sie sind sehr verschieden, auch maritimer Art, dazu idyllisch gelegen sowie der beeindruckenden hanseatischen Architektur angepasst. Während zwei Fahrten mit städtischen Straßenbahnen wurde uns dreimal durch zwei junge Mädchen/einem Studenten ihr Sitzplatz angeboten. Gerne machten wir davon Gebrauch und kamen miteinander ins Gespräch. Ihr Verhalten sowie ihre Äußeres wirkte alles andere als altmodisch oder spießig. Übrigens, wir machten ganz und gar nicht den Eindruck hilfsbedürftiger Senioren.
Gelegentlich wird vom verbesserungswürdigen Bildungsstand der Bremer Jugend gesprochen. Jedoch Herzensbildung sowie ausgesprochen höfliches Auftreten hat sie offensichtlich. Gutes Benehmen hat bekanntlich schon so manche Tür geöffnet...
Mit "ausgeschlafenen" Grüßen

Permalink

Sehr geehrter Herr Brummer,
ich bin doch sehr überrascht, dass Sie das Wort höflich in Anführungszeichen setzen -
und nicht das Wort spießig! Schon meine Großeltern und meine Eltern waren höfliche Menschen, aber sie hatten mit den Verhaltens- und Sprach-Allüren der adligen Höfe des 18. und 19. Jhdts. nichts am Hut. Für sie als offene und freundliche Menschen war es selbstverständlich, diesen höflichen Umgang auch mit ihren Zeitgenossen zu pflegen. Als demokratischer Mensch des 21. Jhdts. verstehe ich absolut nicht, warum höfliche Formen und Manieren im Umgang mit anderen Menschen etwas mit Macht zu tun haben sollen.
Aber genau wie Sie leide ich unter der sozialen Kälte im Umgang miteinander in diesem Deutschland.
Ich möchte allerdings eine "grammatische" Lanze brechen für die angesprochene Pastorin, die nach Ihrer Auskunft "auf die (sic!) Einhaltung spießiger Regeln bestand". Ich denke, sie bestand auf der Einhaltung ihr genehmer Regeln. Mit freundlichen Grüßen

Permalink

Sehr geehrter Her Brummer!
Ich lese regelmäßig Ihre Kolumne und kann mich mit der in Heft 01.2020 Überhaupt nicht einverstanden erklären. Ihre Freundin Irmhild, Internistin, muss Ihre Praxis in einer ungewöhnlichen Wohngegend haben, in der es offensichtlich nur unfreundliche Mitbürger gibt. Ich musste leider in den letzten 2 Jahren viele unterschiedliche Arztpraxen in Anspruch nehmen und habe in keiner erlebt, dass nicht gegrüßt wurde. Ob weiblich oder männlich, ob jung oder alt, jede, jeder sagte der Tageszeit entsprechen ihren oder seinen Gruß. Auch Gespräche werden begonnen. Irmhild sitzt ja nicht im Wartezimmer, wenn die Patienten eintreffen.
Viele Grüße, auch an Irmhild von
Reinhard Jeromin

Permalink

Ein bemerkenswerter Satz: "Aber der Verzicht auf jegliche Form ermöglicht es den Starken und Mächtigen, die Schwachen und Verletzlichen zu unterdrücken." Wenn der Bundestag ein Gesetz beschließt, die Regierung eine Verordnung erlässt oder ein Gericht ein Urteil spricht, soll also ein angeblicher Mangel an Benimm bei den gewöhnlichen Zeitgenossen der Grund dafür sein, dass die herrschaftlichen Akte sich durchsetzen lassen. Die Polizei und Gefängnisse kommen in dieser Vorstellungswelt schon gar nicht mehr vor. Das ist ungemein praktisch!

Traugott Schweiger

Permalink

Unhöflich bedeutet "nicht zum Hof gehören", sich nicht benehmen können, keinen Anstand (was der auch immer bedeuten möge) zu haben. Was würde sein, wenn die Unhöflichkeit üblich wird? Dann würde sich die Gesellschaft zusätzlich spalten in die, die verträglich sind, sich gegenseitig achten und die, denen eh alles egal ist. Höflichkeit hält die Gemeinschaft zusammen. Ohne sie würde der Kitt fehlen. Unhöflichkeit endet in Ablehnung bis hin zum Abwehrkampf. Wie die Beleidigung schon Kriege entfacht hat.

Neuen Kommentar hinzufügen

Der Inhalt dieses Feldes wird nicht öffentlich zugänglich angezeigt.

Plain text

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
Wählen Sie bitte aus den Symbolen die/den/das Fahrrad aus.
Mit dieser Aufforderung versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt.