Missbrauch
Etwas jedes zehnte Kind erlebt Missbrauch
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Missbrauch verhindern, Kinder schützen
Erkennt man ein missbrauchtes Kind?
Ulli Freund, Expertin für Prävention, weiß, worauf man achten muss. Und was Erwachsene im Fall der Fälle tun sollten. Und was nicht
Tim Wegner
16.07.2019
12Min

chrismon: Viele Menschen, die sexuellen Missbrauch* erlebt haben, sagen, sie ­hätten als Kind Signale gegeben, aber niemand ­habe reagiert. Wie kann das sein?

Ulli Freund: Es gibt keine eindeutigen Symp­tome nach sexueller Gewalt. Aber sehr viele Kinder verhalten sich plötzlich deutlich anders. Darüber hinwegzusehen und damit diese Kinder im Stich zu lassen, das ist die Katastrophe.

Was können das für Verhaltensänderungen sein?

Es gibt betroffene Kinder und Jugendliche, die sich aus der realen Welt weitgehend verabschieden, die kaum mehr zugänglich sind. Dann gibt es Kinder, die teilen aus, tun ­anderen weh, um ihre Ohnmachtserfahrung auszugleichen. Manche werden in der Schule ­schlecht, weil sie sich nicht mehr konzen­trieren können; andere werden brillant, weil sie wenigstens einen Lebensbereich ohne ­Probleme haben wollen.

Übersieht man manche Opfer besonders leicht?

Ja, Jungen bekommen schwerer Hilfe, wenn sie sexualisierte Gewalt erleben. Werden ­Jungen auffällig, erklärt man sich das häufig mit ihrem Junge-Sein: "Jungs sind eben aggressiv." Bei Jungen muss viel passieren, damit jemand auf die Idee kommt, es könnte auch Missbrauch dahinterstecken. Auch Kinder mit Behinderungen werden übersehen. Dabei sind sie deutlich stärker betroffen von sexuellem Missbrauch. Sie haben große Probleme, dass man ihnen überhaupt glaubt. Auffälligkeiten werden auf die Behinderung zurückgeführt.

Etwa eins von zehn Kindern erlebt Missbrauch

Man denkt ja gern: Alles Einzelfälle, ich kenne kein Kind, das missbraucht worden ist . . .

Rein zahlenmäßig: Etwa eins von zehn Kindern erlebt Missbrauch. In meinen Fortbildungen höre ich von Lehrern oder Kita-Erzieherinnen oft: "Ein Glück, ich bin schon 30 Jahre im Beruf, und es war noch nie was!" Ich versuche dann zu vermitteln, dass das auch bedeuten kann, nie etwas bemerkt zu haben.

Ulli FreundPR

Ulli Freund

Ulli Freund ist Diplompädagogin und arbeitet als freiberufliche Referentin für Prävention von sexuellem Missbrauch.

Stimmt es, dass Kinder sich oft an uner­fahrene Menschen wenden – die Lehr­schwes­ter, den Schulfreund . . .

Ja, die Kinder gehen zu dem Menschen, dem sie vertrauen. Zum Beispiel, weil jemand vom Alter her nahe ist. Deshalb sind Praktikantinnen und Praktikanten beliebte Ansprechpersonen. Ob die Person sich auskennt oder nicht, darüber machen sich Kinder keine ­Gedanken.

Im Staufener Missbrauchsfall erzählte der betroffene Junge einem Mitschüler im Bus, dass er sich vor dem Freund der Mutter ausziehen müsse . . . Der Freund erzählte das seiner Mutter, die der Lehrerin, die dem Jugendamt – leider fand das Jugendamt den Hinweis zu "vage".

Diese Kette ist häufig. Die ersten Ansprechpartner von Grundschulkindern und erst recht von Jugendlichen sind Gleichaltrige. Deswegen ist es bei der Prävention wichtig, Kinder nicht nur als mögliche Opfer anzusprechen, sondern auch in einer aktiven Rolle: Mensch, du kannst ein Kind sein, das helfen kann! Dann geht es um Fragen wie: Was mach ich, wenn mir mein Freund, meine Freundin so was erzählt? Darf ich das jemandem sagen? Wem könnte ich es sagen?

Jetzt bin ich eine Außenstehende, vielleicht die Nachbarin, die merkt: Irgendwas ist ­anders mit dem Kind, ich mache mir Sorgen. Wie spreche ich so ein Kind an?

Da ist immer die Frage, wie nah ist mir das Kind bereits, wie viele Gelegenheiten habe ich, das Kind anzusprechen? Wenn ich als Er­zieherin das Kind jeden Tag sehe, kann ich viel eher ins Gespräch kommen, als wenn ich das Kind nur alle zwei Wochen sehe, weil es meinen Sohn besucht. Da muss ich kreativer sein. Wichtig ist: Man muss öfter sprechen. Man braucht nicht zu glauben, dass man einmal sagt: "Ich mach mir Sorgen um dich" – und dann erzählt das Kind. So ist es eben nicht.

Und wenn das Kind nichts sagt?

Auch diejenigen, die nie was gesagt haben, erzählen als Erwachsene manchmal: Ich hatte jemanden, ich wusste, zu ihr oder ihm hätte ich gehen können, und das hat mir geholfen, groß zu werden. Die Hilfe fängt nicht da an, wo man ein Kind rettet aus der Missbrauchssituation. Die Hilfe fängt da an, wo ein Kind spürt, jemand interessiert sich für mich und ist an meiner Seite – und ist nicht gekränkt, wenn ich nicht sofort alles erzähle.

Was sage ich zu dem Kind, so dass es mir vertraut?

Man könnte sagen: Ich hab gemerkt, du veränderst dich . . . Oder mir fällt auf, dass . . . Ich mach mir ein ­bisschen Sorgen. Magst du mir mal er­zählen, ob du Kummer hast? Gibt’s was, wo du Hilfe brauchst? Ich könnte vielleicht der Mensch sein, der dir hilft. Ich weiß es ja nicht, was mit dir ist, aber ich will, dass du weißt, dass mich das bewegt. So würde ich zum Beispiel mit einem acht- oder neunjährigen Kind sprechen.

Kommt das an?

Ja. Die betroffenen Kinder ­merken, dass sie so wichtig sind, dass ein Erwachsener seine kostbare Zeit opfert und sich hinsetzt und anfängt zu reden: Das geht mir gar nicht mehr aus dem Kopf, ich frag mich manchmal . . . So viel Interesse bekommen viele Kinder nie. Man darf aber nicht sagen: Du, ich merke, dir geht’s nicht gut, wenn was ist, du kannst immer kommen. Das machen ganz viele Er­wachsene, aber das ist zu wenig. Man muss Brücken bauen, man muss den Kindern ­zeigen, dass man belastbar ist, dass man sich mit schwierigen Problemen auskennt. Allerdings muss ich mir sicher sein, dass ich wirklich hören will, was das Kind erzählt. Wenn ich mich selber fürchte vor dem, was da rauskommen könnte, dann brauche ich das Gespräch nicht zu führen.

Hotlines, Webseiten und Anlaufstellen

Hilfetelefon Sexueller Missbrauch: 0800–22 55 530. Kostenfrei und anonym, Mo., Mi., Fr. 9 – 14 Uhr, Di. + Do. 15 – 20 Uhr. Per Mail: beratung@hilfetelefon-
missbrauch.de

Online-Angebot für Jugendliche zu Missbrauch, Cybermobbing, Sexting, Stalking: save-me-online.de und innocenceindanger.de/
fuer-jugendliche

Die Medizinische Kinderschutzhotline berät Ärztinnen, Pfleger, Sanitäter etc. bei Verdacht auf Misshandlung oder Missbrauch kollegial, kostenlos, anonym und rund um die Uhr unter 0800–19 210 00. Außerdem gibt es den Onlinekurs
"Kinderschutz in der Medizin"
für medizinische Fachkräfte, zum Beispiel
Pflegende, Kinderärztinnen, Chirurgen, Therapeuten.

Nummer gegen Kummer für Kinder und Jugendliche, anonym und kostenlos,
Mo. – Sa. 14 – 20 Uhr: 116 111. Elterntelefon: 0800–111 0 550.

help, die unabhängige Anlaufstelle für Betroffene von sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche und der Diakonie: Terminvereinbarung für Beratung: zentrale@anlaufstelle.help

Warum ist es für Kinder so schwer, sich ­anzuvertrauen?

Aus vielen Gründen. Es ist so schwer, weil sie versprochen haben, nichts zu sagen. Versprechen muss man halten. Dann gibt es all die Fälle, wo Kinder mit Drohungen leben: Wenn du was sagst, dann . . . Es gibt Täter, die sagen: Wenn du was sagst, bring ich deine Mama um. Und damit das Kind merkt, wie mächtig er ist, bringt er schon mal den Goldhamster um. Dann glaubt dieses Kind, dass dieser Mensch alles kann und alles macht. Angst ist ein Grund. Andere Kinder sagen nichts, weil sie nicht wissen, was danach kommt: Dann ist die Familie kaputt, dann ist die ­Person weg, die es tut – der Lebensgefährte, der große ­Bruder oder auch die Mutter selbst –, und dann ist nichts mehr, wie es vorher war. Sie fühlen sich verantwortlich für den Zu­sammenhalt des ­Familiensystems.

Was sagt man, wenn das Kind Angst hat, dass sich alles ändert?

Ich finde, man muss ehrlich zu den Kindern sein. "Ich kann dir nicht versprechen, dass ­alles bleibt, wie es ist, da will ich dich nicht anlügen." Ich würde aber auch sagen: "Das kommt ziemlich oft vor, dass Kinder in großer Not sind. Du bist nicht die Einzige auf der Welt, der so was passiert. Es gibt Erwachsene, die kennen sich mit solchen Themen aus, ich auch ein bisschen, aber es gibt Erwachsene, die haben das zum Beruf gemacht, dass die solchen Kindern helfen." Man sollte dem Kind auch sagen, mit wem man sich beraten wird.

Soll man den Täter stellen?

Nun habe ich einen Verdacht – Was mach ich jetzt? Viele denken: den Täter konfrontieren . . .

Auf keinen Fall! In dem Moment, wo man etwas Eindeutiges ge­sehen hat oder das Kind etwas ziemlich Deutliches gesagt hat, kommt man in eine Krise, das muss man sich klarmachen. Es ist unerträglich, was man da gehört hat. Und die Gefahr ist groß, dass man sich aus seiner Krise ­er­lösen möchte, indem man aktiv wird, den Täter ­konfrontiert und seine Wut rauslässt. Aber das ist absolut kontraproduktiv, denn man ist ja nicht in der Lage, das Kind vor diesem ­Menschen zu schützen. Und die beschuldigte Person wird allen Charme aufwenden, um mich davon zu überzeugen, dass ich mir einen Bären hab aufbinden lassen. Menschen, die man konfrontiert, sagen ja nicht: Stimmt, gut, dass Sie mir das jetzt sagen, dann lass ich es.

Und der Täter wird das Kind strafen.

Die Erfahrung zeigt, dass die Täter das nicht als Warnschuss sehen und aufhören. Sondern die Täter sagen sich: Okay, ich muss besser werden, ich muss mehr Druck ausüben, damit das Kind nie wieder wagt, ein Wort zu sagen. Also, wenn man nicht dafür sorgen kann, dass diese Person auf der Stelle von dem Kind getrennt ist, dann darf man nicht konfrontieren.

Soll ich das Kind ausfragen? Dann hätte ich ja schon mal Details und wäre eine super Zeugin . . .

Nein. Natürlich muss man eine Idee haben, um was es geht, nicht dass es sich um ein Missverständnis handelt. "Sag mal, ich hab es noch nicht ganz verstanden – du musst es mir nicht genau erzählen, aber so, dass ich es mir ein bisschen vorstellen kann." Aber nicht das Kind ausfragen. Kinder sollen dort, wo es wichtig ist, vorm Jugendamt oder am Ende vor Gericht, die Sachen sagen können.

Okay, das Kind war recht deutlich – was mach ich jetzt?

Erst mal muss man dem Kind sagen, dass man sehr, sehr froh ist, dass es so mutig ist. Dass es alles richtig gemacht hat, weil es ein ­schlechtes Geheimnis erzählt hat. Das muss man den Kindern sagen, die denken ja, sie sind Ver­räter. Und dann sagt man: So, und jetzt muss ich erst mal nachdenken. Man muss nicht sofort eine Lösung aus dem Ärmel schütteln. Aber man sollte dem Kind zum Beispiel sagen: Wir sprechen uns morgen noch mal, bis dahin habe ich mir was überlegt. Damit das Kind weiß, wir bleiben in Kontakt.

Und dann rufe ich sofort das Hilfetelefon ­Sexueller Missbrauch an?

Genau, das Hilfetelefon. Man braucht dann wirklich jemanden, der einen an die Hand nimmt. Die sortieren mit Ihnen Ihre Wahrnehmungen und Gefühle und überlegen nächste Schritte. Dann werden die Sie wahrscheinlich an eine Fachberatungsstelle vermitteln, die macht eine Gefährdungseinschätzung und wird Ihnen gegebenenfalls raten, das Jugendamt einzuschalten. Wichtig zu wissen: Es sind jetzt andere dran, aber Sie bleiben in Kontakt mit dem Kind, damit es merkt, es hat Sie durch seine Offenbarung nicht verloren.

Häufig erfährt ein Kind sexualisierte ­Gewalt durch eine Person aus der Familie. Wie schafft es das Jugendamt, mit dem Kind ­ohne die Eltern zu sprechen?

In der Schule ist ein Kind ohne seine Eltern. Wenn eine Lehrkraft eine Meldung ans ­Jugendamt macht, kann jemand vom Jugend­amt auch in die Schule kommen und mit dem Kind sprechen. Kinder und Jugendliche haben aber auch das Recht, sich selbst ans Jugend­amt zu wenden – ohne dass die Eltern was davon erfahren.

Und wenn es ein Täter außerhalb der Fa­milie ist?

Auch wenn es der Nachbar ist oder sonst wer, es ist für Kinder häufig wahnsinnig schwer, in Gegenwart ihrer Eltern zu sprechen. Denn sie möchten ihre Eltern nicht schockieren, ihnen nicht wehtun. Vor Mama sag ich gar nichts, die weint nachher oder die dreht durch, vielleicht schimpft sie auch mit mir. Eltern können sich das nicht vorstellen, aber aus Kindersicht ist es oft nicht hilfreich, wenn sie dabeisitzen.

Die meis­ten Kinder wünschen sich nicht, dass Menschen für immer weggesperrt werden

Eine Frau berichtete der Aufarbeitungs­kommission: Sie habe es ihrem geliebten ­Vater nicht gesagt, der hätte den Täter ­sofort umgebracht.

Ja, das ist ein Grund, warum Kinder nicht mit ihren Eltern sprechen. Es macht ihnen Angst, wie ihre Eltern auf das Thema rea­gieren. Wenn in den Medien was zu sehen ist und dann die Eltern vor ihren Kindern sagen: "Die verdienen alle den Tod, die sollte man auf­hängen!", dann disqualifizieren sich die Eltern als Ansprechpersonen.

Warum?

Wer zu heftig reagiert auf das Thema, kann keine Hilfe sein. Das sind Botschaften, die ­sagen: Das ist das Ende. Kinder brauchen Menschen, die nicht das Ende fabulieren, sondern die sagen: Da gibt’s einen Weg. Und die meis­ten Kinder wünschen sich nicht, dass Menschen für immer weggesperrt werden. Es gibt auch andere Fälle, vor allem bei Jugendlichen oder Opfern von organisiertem Missbrauch. Aber die familiären "Durchschnittsfälle" von sexuellem Missbrauch haben bei den Kindern oft nicht die Folge, dass sie sagen: Mein Papa ist ein böser Mann, der muss weg. Sondern: Ich habe meinen Papa lieb und will, dass er aufhört, aber sonst soll gar nichts passieren.

Wie kann man denn mit Kindern über die Gefahr von Missbrauch reden, ohne dass sie Angst bekommen?

Mit sehr jungen Kindern würde ich nicht ­explizit darüber sprechen, sondern im Zu­sammenleben präventive Botschaften vermitteln: Nein, es darf dich niemand einfach abküssen; du darfst aussuchen, wer dich heute Abend wäscht – Mama oder Papa; über Geheimnisse, die schlechte Gefühle machen, darfst du reden . . . Wenn das gut läuft, dann sind Kinder irritiert davon, was Täter tun. Dann sagen sie das im besten Fall auch jemandem. Auf dieser Grundlage können Eltern dann Kindern ab der Vorschulzeit auch vermitteln, dass es Erwachsene gibt, die Kinder blöd anfassen.

Müssen Eltern schon mit Fünfjährigen über Pornografie und Sex reden?

Mit Fünf- oder Sechsjährigen können ­Eltern schon darüber reden, gerade wenn die selbstständiger werden und nachmittags zu Freunden gehen oder allein zur Schule. Man könnte sagen: Es gibt Erwachsene, auch wenn die sonst total nett sind, die machen eklige ­Sachen mit Kindern, das kann manchmal vor­kommen. Das musst du wissen, und wenn so was wäre, kannst du uns das immer sagen, dafür kriegst du nicht geschimpft.

In so einem sachlichen Ton?

Ja. Eben nicht sagen: "Das ist was ganz, ganz Schlimmes! Das macht die Kinder für ihr ­Leben lang traurig!" Solche Sätze führen dazu, dass Kinder wahnsinnige Angst vor dem ­Thema kriegen und nichts sagen werden. Auch Nebulöses ist schlecht. Mir ist als Kind gesagt worden: "Das sind Männer, die tun den Kindern ganz doll weh!" Ich hab mir ­vorgestellt, die schneiden mir mit der Schere in den Arm. Ich finde, man kann den Kindern sehr deutlich sagen: "Zum Beispiel wollen die ­Kinder komisch küssen, wie sich eigentlich nur Erwachsene küssen. Oder die ­fassen den Mädchen an die Scheide und ­Jungen an den Penis, und das darf ja keiner. Oder sie wollen, dass man sie selber da anfasst." Schulkindern kann man auch sagen: "Es gibt Leute, die ­machen dann auch noch einen Film davon, den stellen sie ins Internet, das ist fies, dann können alle das Kind sehen." Dann hat man auch noch die Kinderporno­grafie mit erklärt.

Die Täter sind total charmant, sind gute Freunde für die Kinder...

In den Köpfen vieler Menschen gibt es immer noch so ein Klischee von Tätern: Sie sind ­ungewaschen, unsozial, unsympathisch . . .

Das wäre schön! Dann würden die Kinder nämlich weglaufen. Nein, die Täter sind ­total charmant, haben gute Seiten, sind für die ­Kinder wichtig, erfüllen den Kindern ­Wünsche, sind gute Freunde für die Kinder, sind viel lockerer als die Eltern.

Das sind also oft Leute, bei denen man sich das überhaupt nicht vorstellen kann?

Es sind häufig Menschen, wo man sagt: Für den lege ich meine Hand ins Feuer! Man muss sich klarmachen, dass zu sexuellem Missbrauch immer drei gehören: ein Opfer, ein Täter und ein schützendes Umfeld, also Eltern, Freundeskreis . . . Dem Täter gelingt die Tat nur, wenn er das Vertrauen dieses ­schützenden Umfeldes gewinnt. Diese Täter sind Meister der Manipulation. Das ist ihr Kerngeschäft.

Ich kann also nicht jedes Kind davor be­wah­ren, ein Mal Opfer zu werden, aber ich kann es davor beschützen, lange Opfer zu sein?

Das ist das Entscheidende. Wir können Missbrauch nicht komplett verhindern. Aber wir können dafür sorgen, dass Menschen, die das erleben mussten, trotzdem ein glückliches ­Leben haben. Das heißt, dass schnell geholfen wird, dass sie erfahren, dass sie nichts dafür können, dass sie ihren Wert nicht verloren haben, dass sie geliebt werden – und dass sie auf dieses Thema nicht reduziert werden. Je schneller Kinder Unterstützung bekommen, desto eher können Kinder davon auch wieder genesen.

* Wir benutzen hier den Begriff "sexueller ­Missbrauch", weil er sich eingebürgert hat. Auch wenn es keinen "richtigen Gebrauch" von Kindern gibt und man eigentlich von "­sexualisierter Gewalt" sprechen müsste.

Infobox

Was macht das Jugendamt mit einem "Hinweis"?

"Kein Hinweis darf verloren gehen, deshalb sichern wir Anonymität zu", sagt Stephan Siebenkotten-Dalhoff, der die Sozialen Dienste im Jugendamt Düsseldorf leitet, wozu auch der Kinderschutzgehört. Man sei dankbar für Hinweise und gehe jedem nach. Ergebnis?

In 55 Prozent der ­Fälle gab es keine Kindeswohlgefährdung und auch keinen Hilfebedarf. Da hatte sich eine Nachbarin Sorgen gemacht ­wegen des schier endlos ­schreienden Babys – aber die Familie hatte halt ein Schrei­baby und war schon in engem Kontakt mit Familienhebamme und Schreibabyambulanz.

In 26 Prozent der Fälle gab es keine Kindeswohlgefährdung, wohl aber Hilfebedarf. Beispiel: Eine Kita-Erzieherin teilt mit, das Kind habe nie gefrühstückt, sei oft schlecht angezogen, die Mutter schlecht zu erreichen . . . Das Jugendamt stellt fest: Liebe­volle Mutter, aber allein und völlig überfordert. Also ­organisiert man Familienhilfe und auch Kontakte. "Viele Leute denken, das Jugendamt nimmt Eltern das Kind weg", sagt Siebenkotten-­Dalhoff, "aber‚ das tun wir nur bei Miss­handlung und Missbrauch. ­Wir wollen Kindern ihre Eltern doch gönnen!"

In zwei Prozent der Hinweisfälle war ein Kind ­tatsächlich akut gefährdet, es wurde in Obhut genommen. Bei weiteren 17 Prozent war ­Gefährdung nicht auszu­schließen, da prüfte das Jugend­amt dann intensiv ­zusammen mit speziellen ­Fachleuten, schickte vielleicht noch am gleichen Tag eine Familien­hilfe.

Wer sind die Täter?

Sexuelle Gewalt durch Fremde ist eher die Ausnahme. Die ­allermeisten Täter und ­Täterinnen (etwa 75 Prozent) stammen aus der Familie eines Kindes oder aus dem sozialen Umfeld (Nachbarn, Vereine, ­Gemeinde, Bekannte der Eltern etc.). Die Taten werden zu etwa 90 Prozent von Männern, zu etwa zehn Prozent von Frauen verübt. Ein Drittel der Täter sind Jugendliche unter 21 Jahren. ­Zunehmend finden sexuelle Übergriffe im digitalen Raum statt, dann durch Fremdtäter.

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Sehr geehrte Damen und Herren der Redaktion von chrismon,
DIESES Heft ( Nr. 8 2019/) hätte ich gern in 3 facher Ausfertigung. Es war sagenhaft und ich muss es an meine studierenden Enkelkinder (Lehramtsstudenten) weitergeben. Der Bericht darüber, wie man mit missbrauchten Kindern umgeht, den brauchen sie alle drei. Auch der Bericht über die Rennradfahrerin, die nun querschnittgelähmt ist, gehört über jedes Bett. Ich will ihn immer parat und bei mir haben. Ich habe selber als Lehrerin 3 mal Missbrauchsfälle erlebt, zu einer Zeit, in der es kaum das Wort gab. Ich hab jetzt gesehen, dass ich damals alles ganz gut gemacht habe, aber eben nicht optimal. Interessant dabei war, dass die Kinder mit der jeweiligen Freundin ankamen und vom Kinderschutzbund sofort aus den Familien genommen wurden. Es gab kein Nachhausekommen mehr an diesem Tag. Und ich werde ab und zu immer noch plötzlich von hinten umarmt und mir wird gesagt, "mein neues Leben hat damals begonnen". Ulla Zipperer

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Sehr geehrte Frau Holch, vielen Dank für dieses informative Interview, dass viel Sicherheit für den Umgang mit diesem Thema vermittelt hat. Gern teile ich es.

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