Woher komme ich?
Woher komme ich? Myrian Bergeron
Evi Lemberger
Woher komme ich?
Und was geschah mit der Mutter? Das wollte Myrian Bergeron unbedingt noch wissen. Sie flog aus den USA nach Deutschland. Gegen den Rat ihrer Ärzte.
Tim Wegner
Mads Holm
29.05.2019

Besucher des Bayerischen Hauptstaatsarchivs müssen das Auto vor der Schranke parken. Myrian Bergeron darf bis vor die Eingangstür fahren. Die kleine Frau mit den weißen Haaren ist aus New Hampshire in den USA angereist. Sie ist 75 Jahre alt und schwer herzkrank. Seit kurzem sitzt sie im Rollstuhl, weil das Gehen zu mühsam geworden ist. Myrian Bergeron lächelt entschlossen. Sie ist eine Frau, die alleine neun Kinder großgezogen hat. Sie will endlich wissen, woher sie kommt und wer sie ist. Was war mit ihrer Mutter vor 76 Jahren in München, und wer ist ihr Vater? Warum war die Mutter nicht da, als sie klein war? Hat die Mutter sie denn überhaupt geliebt? Sie musste nach Deutschland kommen und ihre Wurzeln suchen. Gegen den Rat der Ärzte. Und wenn es ihre letzte Reise wäre.

Tim Wegner

Claudia Keller

Claudia Keller ist froh, dass sie Myrian einen dringenden Wunsch erfüllen konnte: ihre Geschichte erzählen und öffentlich machen, was ihrer Mutter vor 76 Jahren in Deutschland geschehen ist. Damit andere daraus lernen können.
Mads Holm

Evi Lemberger

Die Foto­grafin Evi Lemberger, geb. 1983, lernte in dieser Begegnung mit Myrian und ihrer Familie, wie wichtig es ist, Menschen, die man liebt, dies auch spüren zu lassen.

Im Erdgeschoss ist ein Raum reserviert. Die Wände sind kahl, der Boden, die Tische, alles ist beige. Nichts lenkt ab von den gro­ßen Fragen und der blauen Pappkladde mit der Aufschrift "Staatsanwaltschaften, No 13045". Es ist die Prozessakte ihrer Mutter von 1944.

Myrian Bergeron kann nur ein paar Worte Deutsch, eine Freundin blättert für sie durch Lebensläufe, Handschriften-Proben, Anwalts­briefe, sie übersetzt Zeugenaussagen und das Urteil und versucht, die Geschichte zusammen­­zusetzen: Die Mutter wird 1920 in Estland ge­boren und arbeitet seit Mai 1942 in einer Münchner Gummifabrik, in den Doku­menten steht "Hilfsarbeiterin", vermutlich ist sie Zwangsarbeiterin. Sie wird schwanger von ihrem serbischen Freund, mal wird er als "­Student" bezeichnet, mal als "Ingenieur", vielleicht ist auch er Zwangsarbeiter. Am 3. Novem­ber 1943 kommt das Mädchen zur Welt. Im ­Januar 1944 wird die Mutter verhaftet, weil sie sich angeblich mit einem gefälschten Bezugsschein einen Mantel gekauft hat. Bis Mai 1945 ist sie im Gefängnis. Ihr Freund versucht, sie mit Hilfe eines Anwalts freizubekommen. Vergeblich.

Myrian Bergeron, die alle amerikanisch beim Vornamen nennen, neigt nicht zu Gefühls­ausbrüchen. Wenn die Anspannung zu groß wird, knetet sie ihre Hände. Sie sagt: "Seitdem meine Mutter im Gefängnis war, konnte sie auf der linken Seite nichts mehr hören." Die Mutter hatte ihr erzählt, dass sie in München inhaftiert war. Aber nicht, warum. Nicht, dass sie vermutlich Zwangsarbeiterin war. Nicht, wer ihr Vater ist. Und nicht, wie es im Gefängnis war.

Im bayrischen Hauptstaatsarchiv schaut sich Myrian die Prozessakte ihrer Mutter von 1944 an. Sie war 16 Monate im Gefängnis, weil sie einen Bezugsschein gefälscht haben soll. Die Freundin und Historikerin Anna Andlauer übersetzt

Myrian nimmt ein kleines, bräunlich-­gelbes Papier aus der Kladde heraus. Es ist abgegriffen, mehrfach geknickt und geglättet worden, die Schrift und der Adler auf dem Stempel sind verblichen. Es ist der Bezugsschein für einen "Übergangsmantel", ausgestellt am 18. Juni 1943. Er diente als Beweis für das, was die Mutter angeblich getan hatte. Myrian studiert das Papier genau und streicht dann fast zärtlich darüber. Mit dem Zettel verbindet sie viel. Ohne ihn wäre ihr Leben wohl sehr anders verlaufen.

Die Mutter erzählte wenig

Sie war zwei Monate, als die Mutter verhaftet wurde. Sie war dreieinhalb Jahre, als sie sie wiedersah. Dreieinhalb Jahre sind ­eine Ewigkeit im Leben eines Kindes. Diese ­langen Jahre haben eine große Lücke ­zwischen ­Mutter und Tochter gerissen, und Myrian hat ihr ­Leben lang versucht, die Lücke zu füllen. Das Wenige, das die Mutter preisgab, reichte nicht, um sie zu füllen und das schlimme Gefühl loszuwerden, dass sie der Mutter vielleicht nicht so wichtig war. Warum hat die Mutter sie erst 1947 abgeholt, wo sie doch schon 1945 aus dem Gefängnis kam? Nun endlich, nach so vielen Jahren, in diesem Staatsarchiv in München, kommt sie ihr näher.

"Habe ich das richtig verstanden", fragt Myrian, "für dieses Stück Papier ist sie ins Gefängnis gekommen? Für einen Mantel hat sie 16 Monate gesessen?" Sie legt den Zettel zurück und schweigt lange. Am Tag zuvor war sie dort, wo die Fabrik stand, in der die Mutter gearbeitet hat. Sie ist die Straßen abgefahren, in der sie gewohnt hat, sie hat einem Historiker zugehört, der sich mit Zwangsarbeit auskennt. Nach einer Weile sagt sie: "Mein Gott, jetzt verstehe ich, welche Last meine Mutter mit sich herumgeschleppt hat! Wie hätte sie das einem Kind erklären sollen?"

Aus Marjanna wurde Myrian

Die Amerikaner haben die Mutter 1945 befreit, sie lernte einen amerikanischen Soldaten ­kennen und wanderte mit ihm und Myrian 1948 in die USA aus. Myrian hat später zwei Kinder bekommen, sich scheiden lassen und sieben weitere Kinder adoptiert. Als ­ihre ­Mutter vor zwanzig Jahren starb, hatte sie ­keine Zeit für die Vergangenheit. Vor einem Jahr schaute sie die Unterlagen der Mutter genauer durch. Sie entdeckte ihre eigene Tauf­urkunde und dass sie einmal Mirjanna Pass geheißen hatte. Myrian wurde sie erst in den USA. Sie googelte ihren Taufnamen Mirjanna und versuchte es auch mal mit Marjanna – und hatte plötzlich ein Schwarz-Weiß-Bild von sich auf dem Bildschirm: als kleines Kind mit Namensschild vor der Brust: Marjanna Pass. Das war sie, kein Zweifel.

Das Foto und weitere Bilder von anderen Kindern sind auf der Internet­seite des Holocaust Memorial Museums in Washing­ton zu sehen. Die Kinder hatten die Konzentrationslager überlebt oder waren Kinder von Zwangsarbeitern und standen 1945 alleine da. Mit den Suchbildern forschten Mitarbeiter der Vereinten Nationen nach den Eltern. Sie habe so geheult, als sie das Bild sah, sagt Myrian. Endlich hatte sie eine Spur zu ihrer Geschichte.

1946/47 hat Myrian neun Monate in einer Villa am Chiemsee verbracht. Tochter, Schwiegertochter und Schwägerin schauen sich dort ohne sie um. Mit letzter Kraft und Hilfe von Tochter Wendy schafft sie die Treppe im Hotel

Sie ist jetzt schon drei Stunden im Staatsarchiv, viel länger als geplant. Die Freundin hat für sie ein straffes Besuchsprogramm ­organisiert, gleich geht’s weiter ins Stadt­archiv. "Ich bin so müde", sagt Myrian leise. Sie ist blass und in ihrem Rollstuhl noch ein ­bisschen mehr zusammengesackt als am Morgen. Ob sie lieber eine Pause machen wolle? Die Freundin fragt es mehrfach, bis Myrian nickt. Sie möchte die Erwartungen erfüllen, die andere an sie haben, sie will niemanden enttäuschen, erst recht nicht die Mitarbeiterin des Stadt­archivs, die sich Arbeit für sie gemacht und recherchiert hat! Die Freundin versichert ihr, dass das schon okay ist, wenn sie absagt.

"Ihr Liebling Mirjanne . . . ist ein recht liebes und braves Kind, das uns allen Freude macht", schreibt eine Nonne am 1. September 1944 dem "Fräulein Pass" ins Gefängnis. "Die gute Luft und Kost schlug ihr besonders gut an. Sie hat ein Gewicht von über 17 Pfund erreicht, daraus können Sie ersehen, dass es ihr bestimmt nicht schlecht geht." – "Seht her, schon mit zehn Monaten war ich ein braves Kind und habe getan, was man mir gesagt hat!", sagt Myrian und grinst. Es ist Tag zwei der Reise, Besuch im Kloster Indersdorf, einem wuchtigen, weiß gestrichenen Bau aus dem 12. Jahrhundert, ­eine Dreiviertelstunde mit dem Auto nordwestlich von München. Myrian fühlt sich heute frischer und amüsiert sich darüber, was Anna Andlauer aus dem Brief der Nonnen übersetzt. Mirjanne habe schon "drei Zähnchen und das vierte ist am Durchbrechen", sie mache ihre ersten Schritte im Laufstall und spiele gerne mit den anderen Kindern. Die Nonne spricht der Mutter Mut zu, dass "diese Zeit der Prüfung auch für Sie vorüber­geht" und dass "Sie dann Ihrem geliebten Kinde eine gute Mutter" sein könne.

Sie hatte es gut bei den Nonnen

"Liebevolle Zeilen sind das", sagt Anna Andlauer, "die Mutter hat Glück gehabt." Offen­bar hatte sie ihr Kind nach der Geburt bei Nonnen abgegeben, sie musste ja arbeiten, aus dem Gefängnis heraus erkundigte sie sich, wie es ihr geht. Bestimmt war es nicht einfach, aus dem Gefängnis Briefe zu schreiben, sagt Andlauer, die Mutter stammte aus Estland, konnte kein Deutsch, musste alles übersetzen lassen. Das zeige doch, wie sehr sie sich um ihre Tochter sorgte! "Aber warum hat sie mich dann erst 1947 abgeholt?", fragt Myrian. "Vielleicht konnte sie nicht früher", sagt Andlauer.

Im bayrischen Kloster Inderdorf wurden von 1945 bis 1948 von Nonnen und Mitarbeitern des UN-Hilfswerks über tausend Kinder und Jugendliche versorgt. Myrian spricht mit Schülerinnen und Schülern der Greta-Fischer-Schule in Dachau

Anna Andlauer ist pensionierte ­Lehrerin, war Vorsitzende des zeitgeschichtlichen Vereins "Zum Beispiel Dachau" und hat viele ­Besucher durch die Gedenkstätte des ­früheren Konzentrations­lagers geführt. ­Einige er­zählten ihr, dass sie als Kinder das KZ überlebt ­hatten und nach der Befreiung im nahen ­Klos­ter Indersdorf liebevoll aufgepäppelt ­wurden – von Nonnen und Mitarbeiterinnen der UNRRA, dem Flüchtlingshilfswerk der ­Vereinten Nationen. 2006 ging Andlauer der Sache nach und erforschte in Archiven und Museen in den USA, Israel und Deutschland die Geschichte des internationalen UN-Kinderzentrums. Sie hat mittlerweile über hundert ehemalige Zöglinge aufgespürt und lädt sie nach Indersdorf ein. Für Myrian ­organisierte sie das Besuchsprogramm, sie begleitet sie jetzt und ist zur Freundin geworden.

"Bräzzel"

In einer Ausstellungsvitrine im Kloster steht ein ovaler Bottich aus Blech. Darin ­wurden die Kinder gebadet. "Mein Bottich war aber rund", erinnert sich Myrian. Tatsächlich sieht man auf Fotos auch runde ­Wannen. ­Andlauer schiebt sie durch Räume mit ­hohen Decken und über die langen Flure des ­Klosters. "Ich sehe mich hier entlang­rennen, eine ­Nonne hinter mir her", sagt Myrian. Sie erinnert sich an lange Strümpfe und dass jemand sie ihr hochzieht. Plötzlich sagt sie "Bräzzel", klatscht in die Hände und ist überrascht, woher dieses Wort auf einmal kommt.

Psychologen haben herausgefunden, dass es wichtig ist, in den ersten Lebensjahren ­feste Bezugspersonen zu haben, um Ver­trauen aufzubauen und ein stabiles Leben führen zu ­können. Myrian war zwischen 1943 und 1947 in vier verschiedenen Kinderheimen. Kurz nach der Ankunft in den USA ver­schwand die Mutter erneut monatelang aus ihrem ­Leben; später noch mal für ein ganzes Jahr. ­Heute weiß sie, dass die Mutter seit der Haft an Tuber­kulose litt und sich auskurieren musste, ­womöglich war das sogar eine Bedingung für die Einreise­erlaubnis. "Vielleicht war sie nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis erst mal im Krankenhaus", sagt Myrian. "Vielleicht hat sie mich deshalb nicht gleich zu sich ge­nommen?" Die Dokumente geben darüber ­keine Auskunft. Nach so langer Zeit lässt sich eben nicht mehr alles klären.

Myrian mochte ihren Stiefvater, sie war viel bei den Großeltern und einer Tante, alles liebe Leute. "Trotzdem war ich als Kind oft traurig. Ich weinte grundlos und wusste nicht, wohin ich gehöre. Ich fühlte mich überall wie ein Außen­seiter." Auch die Mutter sei oft so ­traurig gewesen. Der Stiefvater war Soldat, wurde ­alle paar Jahre versetzt, das ständige Um­ziehen ­habe das Gefühl von Verlorenheit noch verstärkt. Das änderte sich erst als Teenager. Sie machte sich von der Mutter unabhängiger, ­entdeckte Tennis, Radfahren, Schwimmen für sich und war viel mit Freunden unterwegs. Und sie fing an, sich um andere zu kümmern.

Myrian geht es nicht gut

Myrian Bergeron ist nicht alleine nach Deutschland gekommen. Sie hat eine Schwägerin, ­eine Schwiegertochter und ihre leibliche Tochter Wendy mitgenommen. Wendy ist 49, burschikos, ironisch, trägt einen praktischen Kurzhaarschnitt, bequeme Hosen und Outdoor­jacke. Bei der ersten Begegnung wirkt sie ­verschlossen, sie ist mit ihrer Partnerin und Hunden auf dem weiten Land in New ­Hampshire zu ­Hause, Gruppen sind nicht so ihr Ding. "Ich würde ­alles für meine Mutter tun und bin ihr sehr nah", sagt Wendy am zweiten Tag. Sie schiebt den Rollstuhl und macht sich große Sorgen um die Gesundheit der alten Dame.

"Hast du so viele Kinder adoptiert, weil du aus eigener Erfahrung wusstest, dass ­Kinder ein stabiles Zuhause brauchen?", will die Schwiegertochter wissen. "Ich wusste ja gar nicht, dass ich in Heimen war. Ist das nicht verrückt?", sagt Myrian. Es ist Abend, Myrian sitzt mit Tochter, Schwiegertochter, ­Schwägerin in einem Landgasthof am Chiemsee zusammen, eine Stunde südöstlich von München. In einer Villa in der Nähe hat sie als Dreijährige gelebt. Das Hotel ist schön, hat aber einen Nachteil: Es gibt keinen Aufzug. Mit letzter Kraft, langen Pausen und Wendys Hilfe hatte sich Myrian nachmittags die ­Treppe zum Zimmer hinaufgequält. Zum Abendessen in die Gaststube hinunter? "No way."

Die Mitarbeiter des Hotels bauen den Tisch fürs Abendessen in der Diele vor Myrians Zimmer auf. Sie bestellt "pancakes with ­potatoes", Kartoffelpuffer, die wie die Brezeln aus den Tiefen ihrer Erinnerung aufgetaucht sind. Die anderen versuchen es mit Schwein, Knödel und Suppe. Zeit, mit Myrian über ihr eigenes Leben zu sprechen und über ihre Rolle als Mutter. Myrian hat ein Helfersyndrom, man kann es kaum anders sagen. Mit zehn Jahren brachte sie ein Mädchen mit nach Hause und schenkte ihr Kleider. Mit 16 sammelte sie Geld und Decken für Kinder mit einer psychisch kranken Mutter. Danach machte sie eine Ausbildung zur Erzieherin von Kleinkindern und arbeitete jahrelang als Tagesmutter. Das heißt, sie betreute tagsüber zusätzlich zu ­ihren ­eigenen beiden Töchtern noch zwölf weitere Kinder. Wendy war 15, als ein Anruf vom Jugend­amt kam, ob die Familie einen Jungen über Nacht aufnehmen könnte?

Myrian adoptierte sieben Kinder

Alex hatte keine Mutter mehr und war von seinem Vater schwer misshandelt und vernachlässigt worden. Myrian sagte Ja. Und weil niemand den Jungen haben wollte, adop­tierte sie ihn. Sie hatte in ihrer Ausbildung gelernt, wie wichtig es ist, dass Geschwister zusammen­bleiben, wenn die Eltern aus­fallen, vielleicht wusste sie das auch intuitiv aus ihrer Zeit in den Kinderheimen, jedenfalls nahm sie auch Alex’ zwei Schwestern auf. Ein Jahr später kam ein weiterer Junge mit seinen zwei Schwestern dazu, schließlich noch ein siebenjähriger Junge. "Alles zutiefst traumatisierte Kinder", sagt die Schwiegertochter, die mit Alex verheiratet ist.

Drei Jahre bevor sie das erste Kind adoptierte, hatte sich Myrian von ihrem Mann getrennt. Wie konnte diese zurückhaltende Frau sieben tief verstörte Kinder großziehen? Alleine? Sie habe halt sehr hart gearbeitet, sagt sie. Ihre Schwägerin habe viel geholfen, auch Wendy. Jetzt, da es um die Familie und die Kinder geht, ist Myrian so munter wie den ganzen Tag nicht. Die drei erzählen sich Anekdoten, Wendy setzt ihnen die ironische Pointe auf, die Schwägerin lacht laut und kehlig, die Schwiegertochter stellt die entscheidenden Fragen. So viel wird klar: Myrian hat allen Kindern Therapien und Coachings besorgt, sie hat ihnen Stipendien vermittelt und sie an verschiedenen Schulen untergebracht, ­damit sie nicht miteinander verglichen werden, sie hat darauf geachtet, dass es gute Schulen sind und jedes Kind so gefördert wird, wie es ­nötig ist. Jeden Sonntagabend setzten sie sich zur Familienrunde zusammen. Alle durften ­sagen, was sie stört. Myrian hat unendlich viel mit ihren Kindern gesprochen.

Myrian und ihre Mutter bei der Einreise in die USA 1948. Die Mutter hat den Nachnamen Currie ihres Mannes angenommen

War sie eine strenge Mutter? "Es ist wichtig, dass man verlässlich und konsequent ist, es ist wichtig, dass man tut, was man sagt, und am allerwichtigsten ist, dass man die Kinder liebt." So einfach sei das, sagt Myrian. Einmal sei der Jüngste auf einen Schulausflug in ein weit entferntes Museum gefahren. Sie habe ihm Geld für ein kleines Souvenir mitgegeben. Er brachte viel wertvollere Dinge mit. Sie sagte nichts, aber am Wochenende fuhr sie mit ihm und den Sachen zum Museum. Er hatte sie gestohlen. "Der arme Junge", sagt Myrian, "er ist sehr beschämt gewesen und musste sich entschuldigen." Die Lektion saß.

Heute versteht sie die Mutter

In der Nachbarschaft galt Myrian als ­Heilige, erzählt Wendy. Sie selbst fand ihre Mutter total verrückt. Und das mit den ganzen Adoptiv­geschwistern überhaupt nicht lustig. Wendy hatte an der Scheidung der Eltern zu knabbern und brauchte ihre Mutter. Doch die verwandelte sich in eine Sozialarbeiterin. "Das System zu Hause veränderte sich komplett", sagt Wendy. "Heute liebe ich alle meine Geschwister, auch wenn ich Abstand brauche. Aber damals? Hätte mich meine Mutter gefragt, ich wäre da­gegen gewesen, sie aufzunehmen."

Myrian konnte nicht alle Adoptivkinder retten, eine Tochter starb an einer Überdosis Rauschgift. "Ich habe keine anderen Menschen aus ihnen gemacht, diese Illusion hatte ich auch gar nicht", sagt Myrian. Aber sie ­habe sie vor der kriminellen Laufbahn bewahrt, und die meisten gehen einen guten Weg. Der Jüngste hat gerade seinen Doktor in Sozialrecht gemacht. "Die Kindheit und das spätere Leben, das ist ja kein Automatismus mit Input und Output", sagt Myrian. "Wenn die Kindheit schlecht war, kann das restliche Leben gut ­laufen, und bei einer guten Kindheit kann später trotzdem viel schiefgehen."

Es ist nach 22 Uhr, als sich die Tafel auflöst. Für Myrian ist das sehr spät. Am nächsten ­Morgen geht es ihr nicht gut, der Kreislauf, das Herz. Sie kann den ganzen Tag nicht auf­stehen. Vor zwei Jahren hatte sie Brustkrebs und Blutkrebs. Die vielen Bestrahlungen ­hätten das Herz geschädigt, erklärt Wendy. Sie hatten schon im Herbst nach Deutschland ­reisen ­wollen, eine große Herzoperation kam da­zwischen. Wendy ist viel am Handy, berät sich mit ihrer älteren Schwester in New Hampshire: Soll sie hier am Chiemsee einen Arzt rufen? Die Mutter in ein Krankenhaus bringen? Sie sorgt sich sehr, dass die Mutter einen Herz­infarkt bekommen könnte. Myrian versucht zu beschwichtigen: Ein Tag Ruhe werde ihr guttun. Dann werde es ihr bestimmt besser gehen.

Myrian war eines der gestrandeten Kinder, die von den Vereinigten Nationen nach Ende des zweiten Weltkriegs mit Fotos gesucht wurden

Am nächsten Tag fühlt sie sich kräftiger. Sie besucht eine Schule für Kinder, die besondere Förderung und Zuwendung brauchen – wie ihre adoptierten Kinder. Myrian spricht ­ruhig und einfühlsam mit den Schülerinnen und Schülern, baut ihnen Brücken, nimmt ihnen die Nervosität. Man merkt, dass sie mit Kindern gut umgehen kann und hier ganz bei sich ist. Sie absolviert noch zwei öffentliche Auftritte, doch die Gedenkstätte Dachau und die Villa am See, in der Myrian einige Monate verbracht hat, sehen sich Tochter, Schwiegertochter und Schwägerin ohne sie an. Myrian muss sich schonen, damit sie den Rückflug gut übersteht.

Große Erschöpfung

"Meine Mutter ist sehr müde und erschöpft", schreibt Wendy in einer Whatsapp-Nachricht auf dem Weg zum Flughafen. An einem der Tage hatte Wendy erzählt, dass sie jetzt auch begreife, was ihre Mutter mit sich herumtrage, warum sie so geworden ist, wie sie ist, warum sie ihr Leben lang Kinder retten muss.
Wendy rettet keine Kinder. Sondern Hunde. Sie ist Cheftrainerin bei "All Dogs Gym", ­einer großen Hundetrainingsfirma mit ­Dutzenden Angestellten. Sie arbeitet mit ­Tieren, die Menschen gebissen haben. Wenn sie es schafft, ihnen das Beißen abzu­gewöhnen, müssen sie nicht eingeschläfert werden. Statt mit neun Kindern lebt Wendy mit neun Golden Retrievern zusammen.

Die sechs Stunden Rückflug übersteht Myrian gut. Danach geht es ihr von Tag zu Tag schlechter. Drei Tage nach der Rückkehr schreibt Wendy:
"Heute habe ich meine Mutter zum Termin beim Kardiologen gefahren. Als wir fast da waren, sagte sie, dass sie sich nicht gut fühle. Dann hörte ihr Herz auf zu schlagen und sie kollabierte. Ich drückte aufs Gas, fuhr über ­rote Ampeln und rannte schreiend in die ­Praxis. Krankenschwestern liefen zu ihr und fanden nach einer Weile ihren Puls wieder. Jetzt ist meine Mutter im Krankenhaus. Die Ärzte fürchten, dass sie zu lang ohne Sauerstoff war und deshalb nicht mehr richtig reagiert. Doch später hat sie ihre Augen ein bisschen geöffnet und ein paarmal genickt. Daran klammern wir uns, auch wenn die Krankenschwestern uns nicht allzu viele Hoffnungen machen. Meine Geschwister sind aus allen Richtungen eingeflogen, und wir sind alle an ihrer Seite."
Drei Tage später ist Myrian gestorben.

Permalink

Der Beitrag über Myrian Bergeron hat mich tief bewegt. Nicht nur das Schicksal und der Lebensweg sind beeindruckend, sondern vor allem die unheimliche Stärke und Güte, die diese Frau ihr Leben lang bewiesen hat und die auf den Fotos fast greifbar sind.
Dass sich M. Bergeron ihren Herzenswunsch noch erfüllen konnte und die offenen Fragen zu ihren Kindertagen klären konnte, ist da schon beruhigend.
Die Autorin und die Fotografin haben ein sehr persönliches Bild gezeichnet und haben doch die erforderliche Distanz bewahrt. Hier haben auch Geschichte und Autor/Fotograf zusammengefunden.
Ich verstehe den Beitrag aber auch als Aufruf an die Großeltern-/Elterngeneration: Erzählt Euren Kindern und Enkeln Eure Geschichte. Eure Kinder und Enkel verstehen und ertragen mehr als ihr ihnen zutraut. Das Leben besteht eben nicht immer nur aus sonnigen Tagen. Nur an gelebten Vorbildern, wie Schicksalsschläge gemeistert werden können oder ganz allgemein wie man sein Leben gestaltet, kann man lernen.
Ich danke Ihnen für den Beitrag.

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