Dr. Kommen und Dr. Gehen
Eine Eizelle wird befruchtet.
Sima Dehgani
Dr. Kommen und Dr. Gehen
Sie hilft Paaren, die ungewollt kinderlos sind, er steht alten und krankenMenschen bei: die Hancke-Denkingers. Und dann haben die auch noch drei Kinder.
Tim Wegner
26.03.2019

Mittwochmorgen um 7.30 Uhr. Ein Leben entsteht. Hoffentlich. Gynäkologin Katharina Hancke kommt mit E-Bike, Radhandschuhen und dicker Outdoor-Jacke an der Unifrauenklinik an, wechselt in den grünen OP-Anzug mit Mundschutz, desinfiziert sich die Hände und wünscht noch schnell "schöne Träume". Dann versinkt die Patientin auf dem gynäkologischen Stuhl in die Narkose, es ist ihr dritter Versuch, schwanger zu werden. Heute ist Eizellentnahme, und der Tag beginnt gut für das Team am Kinderwunschzentrum "Unifee": Elf Eizellen gewinnt Katharina Hancke. Jede einzelne stippt die ­Ärztin in ein Reagenzglas und gibt es über eine Durchreiche ins Labor nebenan. Elf sind gut. Neulich waren es mal 35, da leidet die Qualität. Und die Schwangere. Während die Patientin noch schön träumt, streift sich Hancke die ­grünen Kleider vom Leib und sitzt fünf Minuten später in Jeans und Pulli an ihrem Schreibtisch. 25 Paare, die sich dringend ein Baby wünschen, wird sie heute beraten und untersuchen. Kinderkriegen kann schwer sein.

Donnerstagmorgen um 9.30 Uhr. Ein Leben geht zu ­Ende. Hanckes Ehemann, der Chefarzt Michael Denkinger, macht Visite im Bethesda-Krankenhaus, einer Klinik für Innere, Geriatrie und Palliativmedizin. Für die Visite, von einer Assistenzärztin perfekt vorbereitet, hat er eigentlich nur 40 Minuten. Aber schon im dritten Zimmer wird der Zeitplan über den Haufen geworfen. Frau W., 95, sitzt aufrecht in ihrem Rollstuhl und sagt mit klarer Stimme: "Herr Doktor, bitte verschaffen Sie mir einen schönen Tod." 
Die ehemalige Ärztin lebt in einem betreuten Wohnen, hat eine Lungenentzündung, ist gestürzt und ärgert sich, dass man sie noch mal ins Krankenhaus gebracht hat. "Ich kann kein Buch mehr lesen, ich kriege selten Besuch. Ich habe genug gelebt, ich bin satt." Denkinger sitzt schon eine ganze Weile in der Hocke, damit er Frau W. in die Augen sehen kann. "Ich rede mit dem Heim, die sollen nächstes Mal lieber einen Palliativarzt holen, anstatt Sie zu uns zu bringen. Aber Sie müssen das aufschreiben", sagt er. "Das lässt mein Schwiegersohn nicht zu!", ruft sie verzweifelt, und Denkinger holt noch mal sein Handy raus für Notizen: Heim anrufen, Schwiegersohn anrufen. Er ist jetzt schon 15 Minuten über seinem Plan, und im nächsten Zimmer wird es nicht besser. "Ich will nicht mehr", weint ein 98-jähriger dementer Mann. Sterben kann schwer sein.

"Herr Doktor, ich will nicht mehr!" Das hört Michael Denkinger öfter bei Visiten. Dann heißt es reden.

Katharina Hancke, 41, und Michael Denkinger, 43, ­sind Ärzte am Anfang und Ende des Lebens. Zwischen Katharinas Arbeitsplatz in der Uniklinik Ulm am Eselsberg und Michaels unten am Donauufer liegen fünf Kilometer Luftlinie. 100 Lebensjahre. Zwischen den Arbeitsplätzen liegen große Fragen, die über unsere Zukunft als Solidargesellschaft entscheiden. Und das ganze pralle Leben einer Arztfamilie, die auf halber Höhe am Berg wohnt.

Abends der normale Alltagswahnsinn einer Klein­familie. Die Kinderfrau ist krank. Anton, 14, will den Tisch nicht decken, weil sein Handyspiel gerade spannender ist. Die Austauscheltern von Martha, 16, in Kanada, haben ­eine Mail geschickt, dass zu viel Alkohol geflossen ist bei einer Party. Und Greta, 8, will ihren Kindergeburtstag ­planen. Im Pferdehof, schlägt die Mutter vor. Zu Hause, findet Greta. 
"Dann muss Mama alle Kuchen selber ­backen", erkennt Anton. "Haha."

Auch der Familienabend dauert länger als geplant. ­Michael hat nach einem 13-Stunden-Tag in der Klinik festgestellt, dass der Akku am E-Bike entladen ist. Hat ihn ein paar Mal mit Youtube-Tutorials versucht zu reparieren. 
Und ist schließlich mit Muskelkraft den Berg hochgestrampelt. Verschwitzt, aber strahlend kommt er um 20.30 Uhr nach Hause, wo er das Familienessen knapp verpasst hat. Küsst seine Frau, umarmt Greta und Anton, die sich schon mit Mama und Harry-Potter-Vorlesebuch auf dem Sofa eingekuschelt haben. Es wird 22 Uhr, bis dieses Paar Zeit für sich und ein Glas Wein hat.

Greta küssen, Kaffee kochen. Alles gut getaktet bei der Mutter und leitenden Ärztin

Ein modernes Paar. Egalitär nennen das die Sozio­logen und wissen: gibt es ganz selten. Beide sind leitende Ärzte, und gerade in der Gynäkologie sind weibliche Chefs ­selten. Nur zwölf Prozent der Leitungs­funktionen sind mit Frauen besetzt. Weil man ihnen Familie und Führungsjob nicht zutraut. Mancher Ärztefunktionär ist ohnehin wenig begeistert darüber, dass zwei von drei Studienanfängern weiblich sind.

Katharina wollte immer Ärztin werden. Warum ­gerade Gynäkologin? Weil sie da "von allem ­etwas" hat: viel Handwerk. Viel Forschung – die Endokrinologie, die Lehre von den Hormonen, ist hoch spannend. Und weil sie auch nach vielen Berufs­jahren und Nachtschichten immer noch ­findet: "Eine ­Geburt – das ist so unfassbar. So unglaublich. So toll!"

Ärztin, aber auch Mutter, Ehefrau, Freundin

Auf keinen Fall wollte sie eine Ärztin werden wie der Großvater, der seine Wohnung über der Hausarztpraxis hatte, bei dem man tags und nachts klingeln konnte. 
Sie wollte Ärztin sein, aber auch Mutter, Ehefrau, Freundin. Klappt nur mit einem fairen Deal. "Wir teilen wirklich alles fifty-fifty", sagt sie. Selbst die verhasste Steuer­erklärung macht zwei Jahre er, dann zwei Jahre sie. Termine werden in einen Google-Kalender eingetragen, auf den auch Oma und Opa Zugriff haben, die einmal die Woche aushelfen. Da steht der Impftermin von ­Greta, Michaels Forschungstagung in Barcelona und Kathas Treffen bei den Soroptimistinnen, einem Frauennetzwerk. Und wenn eine der Netzwerkerinnen noch ein Bett für die Austauschschülerin braucht – klar, kein Problem. Machen wir.

Die beiden sind unkompliziert. "Weil wir so früh ­Kinder gekriegt haben", vermutet Katha, "da macht man sich nicht so einen Kopf." Sie fördert das auch bei ihren jungen Ärztinnen, alle sollen früh Kinder kriegen. Nicht nur, weil junge Mütter ­ent­spannter sind. Sondern weil die Chancen, ­schwanger zu werden, viel größer sind. "Ab 40 wird es wirklich schwierig."

Katharina Hanke will Ärztin sein, aber auch Mutter, Ehefrau, Freundin.

Kann Michael sich erinnern, in was er sich bei ­Katharina verliebt hat vor 20 Jahren? "Sie ist schön und sportlich. Und so klar und strukturiert", sagt Michael. Und während man überlegt, wie man sich in Struktur ver­lieben kann, sagt er noch, ganz Wissen­schaftler: "Statistisch gesehen hätte es bestimmt zehn andere Frauen gegeben. Aber ich fand toll, dass sie nie zu mir aufgeschaut hat." Seine ­Mutter war auch eine starke Frau. Führte ein Schreibwaren­geschäft in Ehingen, versorgte das halbe Dorf mit Plätzchen und hatte immer ein offenes Ohr, wenn jemand seine Sorgen loswerden wollte. "Alle lieben meine Mutter." Von ihr hat er die Empathie.

"Gruß an die Mutter", tönt es am nächsten Morgen ­
bei der Visite aus einem Krankenbett, viele Patienten kommen aus der Gegend. Da hilft es, dass Denkinger ­richtig Schwäbisch kann, "Heideblitz" sagt, wenn aus dem Desinfektions­spender nicht gleich was rauskommt. Den Spender braucht er oft. Weil er fast alle Patienten anfasst. "Ich muss immer weinen", sagt eine alte Dame im Rollstuhl, "ich weiß gar nicht warum." Gleich nimmt er sie in den Arm. "Kenn ich!" Grade sei er mit Greta im "König der Löwen" gewesen. "Und raten Sie mal, wer der Einzige war, dem die Tränen runtergelaufen sind?" Ein Chefarzt, der im Kindermusical heult? Jetzt lachen sie alle im Dreibettzimmer.

"Ich brauche kein Allmachts-Image", meint Michael Denkinger.

Zum Lachen bringen, mit der russischen Patientin drei Sätze aus der Russisch-AG radebrechen, "Menya ­sovut Michail", ich heiße Michael. Das gehört zum Handwerkszeug in dieser Klinik am Ende des Lebens. Klar, man kann immer noch viel medikamentieren, operieren, intubieren. Aber oft geht es eher darum, Dinge bleiben zu lassen. Keine Verlegung in die Psychiatrie um jeden Preis. Keine Reanimation. Das braucht Zeit. "Klar, eine Spritze geben, ein Rezept schreiben", sagt Denkinger, "das würde schneller gehen, als zu erklären, warum ich etwas nicht mache."

Bei Frau W. überlegt der Arzt jetzt: Wenigstens aufrecht gehen soll sie noch mal lernen für ihre letzte Strecke, damit sie selber zum Bad kann. Hat mit Würde zu tun. Er sagt nicht oft sterben, er sagt "gehen". Er würde ihr gern beim Gehen helfen, er akzeptiert ihre Entscheidung. "Vom Gesetz her wäre es gedeckt, sie ist ja bei klarem Verstand und nicht depressiv." Allerdings haben sie das im Bethesda noch nie gemacht – und vor dieser Entscheidung müsste das ganze Krankenhaus über ein ethisches Konsil diskutieren. Das macht man nicht mal eben so. Also lieber: Mit der weit verzweigten Familie "ethisch reden". Darüber, dass man nicht mehr alles anwendet, was ärztliche Kunst im An­gebot hat. Bleiben lassen.

Bleiben lassen ist am Arbeitsplatz von Katha keine ­Option.

Bleiben lassen ist am Arbeitsplatz von Katha keine ­Option. In der Kinderwunschklinik wird alles getan, was geht. Bei dem Paar, dessen Eizellen am Morgen entnommen wurden, gibt der Mann jetzt sein Sperma ab. In einem Raum, der seine Funktion erfüllt. Frisch gestrichen, schwarzes Ledersofa, ein Bildschirm mit ­Pornofilmen, drei "Playboy"-Hefte, eine Toilette, ein Wasch­becken, ­eine ­Zewarolle. Für die Männer sind diese Termine Stress. Oft ist die Qualität ihres Spermas "schuld" am unerfüllten Kinderwunsch, und dann sollen sie auch noch auf ­Kommando "abgeben". Klappt nicht immer, sagt die ­medizinisch-technische Assistentin, so mancher halte hier den Betrieb auf.

Bei diesem Paar klappt es, aber die Qualität der Spermien ist wie schon beim letzten Mal nicht gut. Vier Millionen sind es, 15 Millionen müssten es sein, und sie sind zu langsam. Deshalb hat das Paar sich für ICSI entschieden, eine Methode, bei der jede einzelne Eizelle mit je einem Spermium befruchtet wird. Die Prozedur ist gegen Mittag vorgesehen, jetzt wird das Paar erst mal nach Hause geschickt.

Der Mensch trifft die Wahl

Im Labor wird die Befruchtung vorbereitet. Ein Bio­loge sitzt am Mikroskop, wo zwei Glasröhrchen zusammenkommen. Von links das Ei, von rechts einige Spermien. Der Mensch – und nicht wie im Mutterleib der Zufall – ist es jetzt, der die Wahl trifft. Auch hier fällt die ­Vokabel "Empathie", aber es bedeutet hier nicht wie in der ­Geriatrie umarmen und weinen. Empathie meint hier: In der ­Natur ist es der Empathie der Eizelle überlassen, welches ­Spermium sie sich aussucht.

Drei Samenzellen schwimmen heftig an den Rand des Glasrohrs, "das sind die fitten", sagt der Biologe, "ich such mir jetzt ein schönes raus." Sprichts, saugt eine Samenzelle in seine Pipette und sticht sie mit einem kurzen Pikser in die Eizelle, zieht seine Nadel zurück, sofort schließt sich die Eihülle wieder. Präzisionsarbeit. Darauf ist er stolz: "Alle elf befruchtet."

Künstliche Befruchtung ist Hightech. Nicht nur die Ärzte und Biologen, sondern auch die Paare müssen gut organisiert sein. Sie kommen mit Excel-Tabellen in Rot, Grün und Blau und mit Menstruationskalendern: sieben Tage Medikament x, sechs Tage Medikament y, dann die "Auslöserspritze" für den Eisprung. An diesem Tag sind es oft die Männer, die sich fürs Technische zuständig ­fühlen. Die Gebrauchsanweisung der Spritze in Zweifel ­ziehen ("da darf keine Luft vorher rein") und den Rezeptberg verwalten. Für lange Gespräche ist keine Zeit. Eigentlich.

Eine einzelne Samenzelle wird in die Eizelle eingebracht.

Und dann ist da dieses junge Paar, gerade mal Anfang 20, mit Totenkopf-Tattoos und Piercings, das schon fünf Schwangerschaften verloren hat. "Fünf Kinder", sagt der junge Mann, "alle hatten Herzschlag!" Die Ärztin spricht noch nicht von Kindern, wenn ein Fötus in der siebten Woche abgeht. Aber sie fühlt die Trauer der beiden. Ob sie mal mit einem Psychologen reden wollen? Einem ­Seelsorger? "Bloß nicht!", sagt der junge Mann, "ich bin bloß sauer. Und müde." Am Ende ein Hoffnungs­schimmer. Im Ultraschall entdeckt die Ärztin: Die Gebärmutter ist an einer Stelle so geformt, dass sich der Fötus vielleicht nicht richtig einnisten kann. Das wäre eine Erklärung, ein Leuchten geht über das Gesicht der jungen Patientin. Hancke malt den Uterus auf ein Blatt Papier: Hier ist ein Knick, das können wir operieren. Das könnte was bringen.

Dieses Gespräch dauert 40 Minuten. Und auch die ­nächste junge Frau ist ein "langer Termin". Sie ist 29, hat am Tag zuvor eine Krebsdiagnose bekommen. "Die Ärzte ­machen mir Hoffnung, dass Hodgkin heilbar ist", sagt die ­Patientin sehr gefasst, "im Moment schockt mich mehr, dass ich vielleicht keine Kinder bekommen kann." Nein, sie ­habe ­gerade keinen Partner. Aber sie ist doch erst 29! Jetzt kann Katharina Hancke viel aus der neuesten Forschung berichten. "Wir können den Eierstock entnehmen und ein­frieren", erklärt sie, und sie malt einen Eierstock, "da sind die Daten ganz gut, 2004 wurde das erste Kind auf diese Art geboren." Man kann aber auch Eizellen einfrieren, social freezing. Das bietet nicht nur Facebook seinen Mitarbeiterinnen an, das ist mittlerweile auch in Ulm gang und gäbe.

Katharina Hancke zeichnet ihren Patientinnen gern auf, welche Methoden der Kinderwunschbehandlung sich anbieten.

Katharina Hancke malt gern auf, wenn sie etwas ­erklärt. Die Gebärmutter. Den Weg zur Klinik. Das Eis, das man abends von Rewe mitbringen soll. Sie ist klar diejenige, die auch das Familienleben nach 18 Uhr durch­skizziert. Und nicht leiden kann, wenn was dazwischen­kommt. Zum Beispiel beim Kochen. Ein Lieferservice bringt frisches Gemüse, Fleisch und Kräuter und eine Schritt-für-Schritt-Kochanleitung. Wenn dann statt Tahini-­Paste nur Sesam­körner im Paket sind, findet sie das nicht so toll. Kann man verstehen, wenn man von acht bis achtzehn Uhr hochgradig präzise Zutaten des menschlichen Lebens vermischt.
Aber sie weiß, dass sie manche Dinge nicht beein­flussen kann. Klar hätte sie morgens dem ver­zweifelten ­Pärchen mit den fünf Fehlgeburten gern gesagt, dass sie weniger rauchen und mehr Sport machen sollen. "Aber ich weiß, wie schwer das vielen fällt. Und wie blöd das von mir als schlanker Frau klingt." In dieser Familie sind alle sportlich, auf dem Sofa liegt das Skimagazin, die Kinder standen schon mit drei auf den Brettern, gerade waren sie im Winterurlaub in Österreich. Aber nicht einfach Abfahrt und Slalom. Freeriden, mit Lawinenwarngerät. Sie fahren fast nie Auto, nur im Urlaub werden alle in einen VW-Bus gepackt. Im Alltag fahren sie alle Strecken mit dem Rad, früher mit Kinderanhänger. Das einzig Unvernünftige in dieser Familie scheinen die Partys zu sein. "Wir feiern ­jeden Geburtstag, egal was ist."

Der sportliche Arzt, er ist für seine Patienten auch ein Vorbild. "Public Health" ist ein Thema, das ihn ­antreibt. Wenn wir immer älter werden, ist es fraglich, ob das ­Gesundheitssystem für jeden bis zum Schluss Intensivmedizin bereithalten kann. Umso wichtiger wird es, durch Bewegung und gesunde Ernährung möglichst lange selbstständig zu bleiben.

"Wir müssen die Debatte über Rationierung von Medizin führen", findet Michael Denkinger.

Für Denkinger ist das Thema "Lifestyle Change" ­wichtig. Und so sitzt er schon morgens um 8.30 Uhr mit sieben ­Kolleginnen – Studierende, Pflegerinnen, Psycho­login – im dritten Stock der Klinik, natürlich per Treppe und nicht per Aufzug, und wertet eine Studie aus: Was bringt es, alte Leute mit gezieltem Sport zu mobilisieren? Gait Speed, Short Physical Performance Battery, Balance – die Fitness des alten Menschen wird in viele Merkmale herunter­gebrochen. Auf Deutsch ergeben diese Größen etwa die Geschwindigkeit, mit der ein Mensch den Zebra­streifen überquert. Ulmer Patienten werden vermessen, aber auch spanische, dänische und irische. "Lifestyle ­
Change" ist ­keine deutsche Aufgabe, in ganz Europa 
werden Menschen älter. Überall sind die Sozialsysteme am Rande des Kollapses.

Das Beispiel England sollte uns wachrufen, findet Denkinger. Er ist im Vorstand des Berufsverbandes der Deutschen Internisten, er kennt die Zahlen. In England ist die Zahl der künstlichen Hüften deutlich rationiert, so dass es zu langen Wartezeiten kommt. Ältere Menschen landen hier eher weiter hinten auf der Warteliste. Und teure Krebsmedikamente bezahlt die Kasse nur, wenn das dafür zuständige NICE-­Institute die Erfolgsaussicht ausreichend hoch bewertet. Diese knallharte Rationierung ist ein Thema, das allen Industrie­staaten bevorsteht. "Wir müssen diese Debatte führen", findet Denkinger. Denn seit kurzem kommen durch die Fortschritte der Medizin jährlich neue Krebs­medikamente auf den Markt, die auch sehr alte Patienten vertragen – im Unterschied zur Chemotherapie. Der Verteilungs­kampf hat bereits begonnen. Wer bekommt welche 
Leistung bezahlt? Die Mediziner nennen es priorisieren. Im Unterschied zu England macht es in Deutschland der Arzt 
oder die Ärztin am Krankenbett – und nicht ein Institut.

Feierabend mit der Familie.

An dem Tag, an dem morgens Frau W. sterben wollte, sitzt man spät abends noch bei einem Wein am Holztisch der Hancke-Denkingers. Katharina muss gleich ins Bett, sie hat morgen Nachtschicht. Kaiserschnitt, Eierstockkrebs, ungewollte Schwangerschaften, das ganze Programm. Sie mag Nachtschicht, dann ist sie am nächsten Mittag früh fertig und kann mit Anton Turnschuhe kaufen gehen.

Was soll das heißen, priorisieren? Bezahlt die Kasse 
dann am Anfang des Lebens ein Hightechverfahren, am Ende des Lebens aber nicht? Bezahlt einem Paar, das schon zweimal erfolglos befruchtet wurde, einen dritten Versuch – hat aber kein Geld mehr für das Kniegelenk der Alten? Klingt ungerecht. Aber ist es gerecht, dass die junge Krebspatientin selber dafür zahlen muss, wenn sie ihre Eizellen einfrieren lässt? 3000 Euro kostet die Ent­nahme, 200 Euro pro Jahr die Lagergebühr. Gehört ein Kinderwunsch zur Lebensqualität? Und wie steht es darum am Ende eines Lebens? Da reden Ärzte inzwischen von "behinderungsfreier Lebenszeit". Was genau ist uns diese wert?

Tim Wegner

Ursula Ott

Ursula Ott 
hatte mit grünem Kittel und 
Mundschutz 
viel Ehrfurcht 
im OP. Wurde
 aber gleich 
ent­spannter, 
weil in Ulm alle 
so schwäbisch 
sprechen wie sie selber.

Das müssten wir jetzt als Gesellschaft diskutieren, ­findet Denkinger. Immerhin sei es für die Volkswirtschaft günstig, wenn viele Babys geboren werden. Also sei es schon gerechtfertigt, wenn am Anfang des Lebens mehr Geld in Hightech investiert werde.

Drei Wochen später. Anruf in Ulm. Was ist aus den Patienten geworden? Frau W. wurde früher entlassen, sie ist im betreuten Wohnen und kann wieder allein auf 
die Toi­lette gehen. "Ein bisschen grätig war sie", ­schmunzelt der Arzt, "dass wir sie noch mal so gut hingekriegt haben."

Das Ehepaar, das sich der ICSI-Methode unterzogen hat, ist nicht schwanger geworden. Leider, sagt Katharina. 
Aber es sind noch drei Embryonen eingefroren, drei 
Versuche noch möglich.

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Gratulation zu der auch passend bebilderten Reportage von Ursula Otto über das so sympathische Ärzte-Ehepaar Hancke - Denkinger in Ulm. Sie vermittelt einen wahrhaft guten Einblick in die verantwortungsvolle Arbeit dieser beiden Klinikärzte in Ulm. Dabei werden auch medizinische Zusammenhänge, die in den Fachbereichen der beiden Doktoren ja jeweils höchst unterschiedlich sind, von der Autorin so klar und schnörkellos beschrieben, dass sie selbst der Laie unschwer verstehen kann. Bei so kompetenten Ärzten, die trotz aller Belastungen immer noch fröhliche Offenheit ausstrahlen, fühlen sich Patienten bestimmt wohl und gut aufgehoben. - Bleibt zum Schluss nur eine Frage offen: Warum radelt Frau Hancke, die - wie auch ihr Mann -meistens mit dem Fahrrad unterwegs ist, ohne Helm, wie das entsprechende Foto zeigt?

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Ich habe diesen Artikel mit wachsender Anteilnahme und am Ende dankbar gelesen. Nach meinem Eindruck sind sind es genau diese Menschen wie hier dieses Arztehepaar Hancke-Denkinger in Ulm, die unsere Gesellschaft zusammenhalten und durch ihre Arbeit, überhaupt durch ihr beispielhaftes Leben und ihre positive Einstellung dafür sorgen, dass es hierzulande alles in allem doch ganz ordentlich läuft.
Wie schäbig dagegen diese raffgierigen Banker oder die betrügerischen Autobosse, die alle nur an sich und an ihren Profit denken. Wie hier Ärztin und Arzt so menschlich ihren schweren Beruf meistern, dazu wie es scheint ein harmonisches Familienleben haben, das ist einfach eine Freude zu erleben. Man wünscht Ihnen noch lange alles alles Gute.

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mein Mann und ich haben Ihren Artikel “Dr. Kommen und Dr. Gehen” gelesen
– und das zugegebenermaßen aus sensibler Perspektive. Denn wir gehören
zu den sog. Kinderwunschpaaren, um die es in Ihrem Artikel unter anderem
geht.

Wohl wissend, dass wir damit eben aus einer besonderen Situation heraus
an Ihren Text herangehen, haben wir ihn trotzdem – oder gerade deswegen
– bis zum Ende gelesen. Hier wird uns eine sehr privilegierte Familie
gezeigt, die völlig entspannt ist, alles perfekt organisiert und dann
auch noch sportlich ist. Da kann man durchaus neidisch werden! In jedem
Fall wünschen wir der Familie weiterhin alles Gute und möchten uns für
den Einblick, den sie uns gewährt haben, bedanken.

Nach der Lektüre habe ich mich allerdings gefragt, an wen sich Ihr Text
eigentlich richtet und was Sie den Lesern sagen wollten.

Ging es darum, Kinderwunschpaare weiter zu frustrieren? Das ist Ihnen
gelungen. Die Aussage, das Elternpaar sei so unkompliziert, weil sie so
früh Kinder bekommen hätten, ist ein Schlag ins Gesicht eines jeden
Kinderwunschpaares. Und die Tatsache, dass Frau Hancke einem Paar mit
fünf Fehlgeburten nicht sagt, dass sie weniger rauchen und mehr Sport
machen sollten, finde ich schlicht verantwortungslos.

Oder ging es darum, anderen Familien zu zeigen, dass eine heile Welt
doch gar nicht so schwer zu erreichen ist? Ging es darum, Familien, die
einen Menschen am Ende des Lebens begleiten, Mut zu machen?

Ich habe den Verdacht, dass Chrismon hier der Effekthascherei auf den
Leim gegangen ist: Wer Situationen beschreibt, die hoch emotional sind,
und die keiner sich wünscht, mag Leser anlocken, die sich dann –
überspitzt gesagt – an der Verzweiflung anderer weiden. Und das ist
nicht der Stil, den ich von Chrismon kenne und erwarte.

Anstelle der oberflächlichen Beschreibungen hätte es mich interessiert,
wie die beiden Ärzte mit den Konflikten, die sie sicher täglich erleben
und die sie bestimmt auch nach Dienstende noch beschäftigen, umgehen.
Ich hätte mich gefragt, welche moralischen Fragestellungen die beiden
über die Fragen zu Beginn und am Ende des Lebens miteinander
diskutieren. Und davon gibt es nicht wenige.

Vielleicht ist das ja ein Thema für einen tiefgehenderen Artikel.

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Vielen Dank für Ihren eindrucksvollen Bericht über Medizin am Anfang und Ende des Lebens! Zu Recht mahnen Sie an, dass die gesellschaftliche Debatte über Priorisierungen unbedingt offen geführt werden muss. Denn Priorisierung findet über das Abrechnungssystem der Krankenkassen mit Fallpauschalen ja längst statt. Sie ist nicht für alle erkennbar, aber für viele Kranke unmittelbar zu spüren, ebenso von Ärzten/innen und Pflegekräften. Ich empfehle hierzu dringend, den Film „Der marktgerechte Patient“, der als „Film von unten“ mit Spendenmitteln gedreht wurde. Es wäre sehr verdienstvoll, wenn Chrismon den daraus erwachsenden Problemen in gewohnter Qualität eine Recherche und einen Artikel widmen könnte. Der Film kann im Internet unter www.der-marktgerechte-patient.org als DVD bestellt werden.

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Nach so einem Text kann man sich ja quasi nur als Vollversager fühlen, im Vergleich zu dieser perfekten Familie in der alles gelingt.

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