Wir empören uns zu Tode
Was wir aus der Debatte um den Ex-Handballer Stefan Kretzschmar lernen können
Tim Wegner
14.01.2019

Einer meiner ersten Gedanken am Sonntagmorgen bestand, kaum hatte ich mein Handy eingeschaltet, aus einer Frage: "Hilfe, der auch?" – So erging es vielen Menschen, die am Wochenende das Zitat von Stefan Kretzschmar lasen, zum Beispiel auf Twitter. Dort kursierten auch kurze Videosequenzen. Der frühere Handball-Nationalspieler sagte wörtlich: "Wir haben keine Meinungsfreiheit mehr im eigentlichen Sinne." 

Rechte Twitterer feierten Kretzschmar, Tenor: Endlich sagt es mal jemand, eine Allianz aus Mainstream-Medien und Altparteien steuert längst, was wir zu denken und zu sagen haben! Das wiederum versetzte mich in Rage; User, deren Meinungen ich oft teile, urteilten bereits: Kretzschmar ist wohl unter die Reichsbürger gegangen.

Tim Wegner

Nils Husmann

Nils Husmann ist Redakteur und interessiert sich besonders für die Themen Umwelt, Klimakrise und Energiewende. Er studierte Politikwissenschaft und Journalistik an der Uni Leipzig und in Växjö, Schweden. Nach dem Volontariat 2003 bis 2005 bei der "Leipziger Volkszeitung" kam er zu chrismon.

Die Abstände zwischen den Wutwellen werden kürzer

Moment mal! Erst Nicole Diekmann, dann Robert Habeck und jetzt Stefan Kretzschmar – puh, wenn das in dem Tempo weitergeht, empören wir uns 2019 noch zu Tode. Die Abstände zwischen den Wutwellen im Netz werden kürzer. Höchste Zeit für eine simple journalistische W-Frage: Was ist eigentlich passiert?

Noch bis Ende Januar findet die Handball-WM 2019 in Dänemark und Deutschland statt, Kretzschmar ist WM-Botschafter für den Spielort Berlin, wo er Teile seiner Kindheit und Jugend verbrachte. Auch dazu befragte ihn die Redaktion von t-online.de. Kretzschmar erzählte, dass er sich als Jugendlicher in der linken Hausbesetzerszene umtat. Und dieser Mann sollte nun der AfD das Wort reden?

Absurd, wie Kretzschmar selbst klarstellt hat. Solche Einordnungen kommen aber oft zu spät – wer sich von links über den früheren Spitzensportler echauffieren wollte, hatte es längst getan.

Es gibt keine Redeverbote

Mitnichten hatte Kretzschmar plumpe rechtsideologische Haltungen verbreitet, denn er sagte in dem Interview – in dem es hauptsächlich, Überraschung!, um Handball geht – eben auch: Natürlich komme man nicht in den Knast, wenn man in Deutschland als Sportler eine Meinung vertrete. Es ist typisch für die Opferhaltung vieler Populisten zu behaupten, hierzulande dürfe man bestimmte Dinge ja nicht sagen. Ein absurder Vorwurf in Zeiten, in denen die AfD ein Tabu nach dem anderen bricht und – zum Beispiel – davon fabuliert, nicht nur Merkel, sondern ein ganzes System müssten weg. Es gibt keine Redeverbote – es gibt aber, zum Glück, laute Kritik von Demokraten, wenn rechte Parolen gegrölt werden.

Aber weder ist Kretzschmar ein Rechtsradikaler noch hat er rechte Parolen bemüht. Er sagte: "Heutzutage ist die Gesellschaft so konstruiert, dass du für jeden Kommentar eins auf die Fresse kriegst." Und das stimmt. Das zeigten schon die Fälle Nicole Diekmann und Robert Habeck; die ZDF-Journalistin erhielt Morddrohungen von Rechten für ihren Tweet "Nazis raus." Und der Grünen-Chef steht in der Kritik, weil er sich öffentlichkeitswirksam auf Facebook und Twitter abgemeldet hat.

Tschüss, Twitter? Vielleicht hat Robert Habeck doch recht

Der Fall Kretzschmar zeigt, dass Robert Habeck vielleicht doch richtig liegt mit seiner radikalen Maßnahme: Einzelne Aussagen, die aus dem Kontext gerissen werden, verleiten uns immer wieder dazu, in den sozialen Medien nur noch schrillere Antworten rauszuhauen, bis am Ende nur noch getobt wird. Eine Debatte ist kaum mehr möglich. Das ist schade, denn Stefan Kretzschmar sagte noch etwas, mit dem umzugehen aus politisch eher linker Sicht herausfordernd ist: "Welcher Sportler äußert sich denn heute noch politisch? Es sei denn, es ist die Mainstream-Meinung, ‚Wir sind bunt‘ oder ‚Refugees welcome‘, wo man gesellschaftlich eigentlich nichts falsch machen kann. Aber hat man eine einigermaßen kritische Meinung, ob gesellschaftskritisch oder regierungskritisch, darf man das in dem Land auch nicht sagen. Das wird dir sofort vorgeworfen."

Kretzschmar hat, offenbar unbeabsichtigt, mit der Wahl des Wortes "Mainstream" einen Begriff übernommen, mit dem Neurechte operieren. Das ist, nebenbei bemerkt, ein Indiz dafür, wie sehr unsere Sprache mittlerweile von rechts geprägt wird, Stichwort "Framing".

Ein Gedankenexperiment für eher links denkende Menschen

An alle eher links denkenden Menschen, zu denen ich mich selbst zähle, nun eine Bitte: Machen Sie ein Gedankenexperiment und nehmen Sie an, ein Nationalspieler gäbe ein Interview und sagte darin: "Ich glaube, wir können nicht jeden Flüchtling, der Hilfe verdient, in Deutschland aufnehmen. Wir schaffen nicht alles. Unsere Schulen können keine weitere Integrationsarbeit mehr leisten." Was würde passieren?

Ich bin sicher, dass so ein Sportler ebenfalls einen Shitstorm ernten würde, obwohl diese Aussage  differenziert ist und – zum Beispiel – zu einer Debatte über höhere Bildungsausgaben führen könnte, von denen alle etwas haben.

Wir müssen lernen, erst nachzudenken

Diekmann, Habeck, Kretzschmar – sie alle zeigen, auf je unterschiedliche Weise, dass das Internet eben nicht nur ein Gewinn ist. Daran ist nicht das Netz schuld, sondern wir. Wir müssen wieder lernen, uns ordentlich zu streiten.

Und vor dem Streit kommt etwas ganz Wichtiges: Wir müssen lernen, genau zu lesen oder hinzuhören, tief Luft zu holen, nachzudenken – und dann zu debattieren.

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Die Wahrheit ist immer hilfreich.

Wenn die Kirche das nicht so sieht, ist sie verloren. Glaubwürdigkeit ist ihr wichtigstes Kapital.

Wahrheit besteht nicht aus einer „de jure“-Formalie sondern aus der gelebten Realität.

Wer Kretzschmars Wahrnehmung nicht in der Öffentlichkeit stehen lassen will und sogar darüberhinaus ganze diesbezügliche Prinzipien kippen will, gibt ihm umso mehr recht.

Antwort auf von Herbert Wolken… (nicht registriert)

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Das Dumme ist nur, dass es eine objektive und eine subjektive Wahrheit gibt. Wer im Kreis der Familie, noch "erfolgreicher" bei Trauerfeiern, die objektive Wahrheit sagt, wird sofort von den Subjektiven bestraft. Die Wahrheit ist, auch wenn sie von den Anderen im stillen Kämmerlein dann doch als wahrscheinlich bewertet werden könnte, häufig leider der Tod einer jeden familiären Gemeinschaft. Hilfreich kann sie sein, tötlich ist sie aber auch. Die Wahrheit zu verschweigen, wenn die Lüge ihre willigen Abnehmer findet, ist wie selbst zu lügen. Wenn die Lüge aber keinen Schaden anrichtet und dem Anderen gut tut ohne mich oder Andere zu schädigen, dann ist die Lüge eben doch eine gute Tat.

Antwort auf von Ockenga (nicht registriert)

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Es gibt noch vier andere Wahrheiten: die ausgesprochene, die unausgesprochene, die peinlich verschwiegene sowie die Halbwahrheit, die manchmal die schlimmere Lüge ist.

Antwort auf von Herbert Wolken… (nicht registriert)

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Die Halbwahrheit ist die böseste aller "Wahrheitslügen". Denn sie verquirrlt Wahrheiten und Unterlassungen so intensiv, dass Unvoreingenommene und Leichtgläubige nur noch dass zur Kentnis nehmen und glauben, was in ihre persönliche Wahrnehmung passt. So kann auch jedem Teil einer Wahrheit eine manipulierte Überzeugung werden, die jeder Beliebigkeit gerecht wird.

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Selbstverständlich kann bei uns immer noch jeder seine Meinung sagen. Aber wie das so ist, wenn jemand in einem kleinen Teil die gleiche Meinung wie ein Extremist hat, wird er von denen, und da sind die Linken und Linksliberalen wahrlich keine Ausnahme, sofort gnadenlos katalogisiert. Auch und besonders In den Familien ist die Wahrheit oftmals der Tod jeder Verwandtschaft. Kretschmar wird als palavernder Dampfplauderer tituliert. Es ist im übrigen die intellektuelle "Stärke" der Linken, mit geringschätzenden Formulierungen das Schwert zu führen und Hiebe zu verteilen. Diese arrogante Macht der Medien hatte einen wesentlichen Anteil daran, dass wieder die braune Ecke ihre stinkenden Parolen als Dünger unter das Volk streuen kann. Auch ich gehe mit diesem Text das Risiko ein, sofort von den erbarmungslosen linken Einbahnstrassendenkern katalogisiert zu werden. Denn wer für Recht und Ordnung ist und dann auch noch einen akkuraten Seitenscheitel hat, findet sich öffentlich sofort in einer schmuddeligen braunen Ecke wieder. Wer aber einen hippen 3-Tagebart hat, Sneaker trägt und die schönsten aber unrealistischen Weisheiten aus der Phrasendreschmaschine sprudeln lassen kann, der gehört vermutlich schon zur urbanen veganen Elite und führt sich über alle Anderen maßlos erhaben. Muß man denn unbedingt ein Opfer der Nazis in der Verwandtschaft haben, um ohne Verunglimpfung über Israel reden zu dürfen? Muß man sein Wahlverhalten offenlegen um zu beweisen, dass man vorbehaltlos unsere christlichen Werte gewählt hat? Unsachlichen Vorverurteilungen mögen ja im kulturellen Bereich Gang und Gäbe sein, aber in allen anderen persönlichen Bereichen ist diese Kategorisierung bar jeder journalistischen Berechtigung. Auch ich habe meinen Namen verschwiegen, weil von den "Gerechten" zu viel Dreck geschleudert wird.

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