Sexueller Missbrauch
Sexueller Missbrauch
Elke Ehninger
"Sachen mit ein paar Mädchen"
Heute käme der Pfarrer, der die Konfirmandin aus Hof ­missbraucht hatte, nicht so leicht damit durch. Inzwischen ist der Kirchenmann tot. Ursula Werner aber wird ihre Geschichte niemals los
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
29.10.2018

Frau Werner, chrismon plus, die Aboausgabe von chrismon, berichtete im Juli über die Aufarbeitung von sexuellen Übergriffen in der evangelischen Kirche. Daraufhin meldeten Sie sich zu Wort. Warum?

Ursula Werner: Weil ich selber betroffen bin. Ihr Bericht in chrismon ist erschütternd. Man bekommt ein sehr negatives Bild von der Landeskirche. Ich habe aber ganz andere Erfahrungen mit der Aufarbeitung gemacht. Gerade die evangelische Kirche in Bayern hat viel auf den Weg gebracht. Ich möchte der Kirche Mut machen, den Weg weiterzugehen. Es macht aber auch Opfern mehr Mut, wenn sie erfahren: Da sind Leute, die ihr Anliegen ernst nehmen.

Sie wollen anderen Opfern sexueller Übergriffe Mut machen, sich mit ihrem Leid an die Kirche zu wenden?

Ja. Erst taucht auf, was man damals erlebt hat. Und wenn man dann liest, die Kirchen hören nicht hin oder die bürokratischen ­Hindernisse sind hoch, dann ist das eine Art Retraumatisierung. Ich hätte das ohne die Unterstützung meines Mannes nicht durchgestanden. Aber ich habe auch die Erfahrung gemacht, wie viele Türen in der ­bayerischen Landeskirche und in der Evangelischen ­Kirche in Deutschland, in der EKD, offen standen. Auch wegen meines Falles änderte die Synode der EKD 2014 das Disziplinar­gesetz. Die Presse berichtete wenig darüber, die Kirche machte aber trotzdem weiter. Das möchte ich unterstützen.

Kurz nach der Konfirmation kam er wieder zu ihr

Mitte der 1960er Jahre fiel Ursula Werner den sexuellen Über­griffen ihres Gemeindepfarrers an der Christuskirche in Hof zum Opfer. Ihr Fall war so gut bezeugt, dass ihr Peiniger vom kirchlichen Disziplinargericht der Evangelischen Kirche in Bayern 2011 hart bestraft wurde: Er sollte alle Pensionsansprüche verlieren. Dann lief etwas aus dem Ruder.

Was war passiert? 1964, während einer Konfirmandenfreizeit, hatte die 13-jährige Ursula Pfarrer H. um Hilfe gebeten: Ihre Mutter litt unter ihrer zerbrochenen Ehe; das Mädchen wollte den Vater in die Familie zurückholen. Pfarrer H. meldete sich bald. Er bestellte Ursula zur Chris­tuskirche. Dort forderte er sie auf, in sein Auto einzusteigen, und fuhr in den Wald. Er berührte sie zwischen den Beinen, sie sollte ihn sexuell befriedigen. Das wollte er dann immer wieder: im Auto am Waldrand, im Pfarrhaus neben der ­Kirche, bei ihr zu Hause auf der grünen Couch im Wohnzimmer, während die Mutter arbeitete. Ein letztes Mal nötigte er sie an ihrem 14. Geburtstag im Sommer 1965. Kurz zuvor hatte er ihr das Abendmahl zur Konfirmation gereicht. Dann zog er mit seiner Familie nach Ingolstadt. Er wurde Dekan.

Hatte Ihre Mutter eine Veränderung an Ihnen gespürt?

Nein, ich habe ja selbst sofort abgespalten, was der Pfarrer H. mit mir machte. Und was hätte ich denn meiner Mutter sagen sollen? Es war der Pfarrer! Heute hat man keine ­Ahnung, wie sehr so einer in einem Ort wie Hof angesehen war. Und er war verheiratet und hatte doch Kinder!

Hatten Sie jemandem davon ­erzählt?

Es muss eine Situation gegeben haben, als ich es nicht mehr aushielt. Ich sagte meiner Freundin C.: "Ich habe mit meinem Pfarrer ein Verhältnis gehabt." Sie hat nur die Augen riesengroß aufgerissen und gesagt: "O Gott!" Sie hat mir später beim Diszipli­narverfahren geholfen – und sich große Vorwürfe gemacht. Aber es war gut, dass sie damals nichts unternommen hat. Ich war auch dankbar, dass sie nicht nachgefragt hat. Alles, was mit Sexualität zu tun hatte, war damals weit mehr tabuisiert als heute.

Der Pfarrer H. hatte eine Tochter in Ihrem Alter, die er mit Ihnen zusammen kon­firmierte.

Sie muss kurz nach meiner Konfirmation auf ein Internat gekommen sein. Sie hat mir damals noch gesagt: Sie fände es so fies, ihr Vater stelle mich immer als Vorbild dar. Ich dachte noch: "Wahnsinn, wenn sie wüsste, was ihr Vater mit mir macht! Und er stellt mich als ein Vorbild hin!" Später beim Berufungsverfahren hätte sie am zweiten Tag für die Verteidigung ihres Vaters auftreten sollen.

Lange schätze Ursula Werner die Chancen für ein Verfahren schlecht ein

Nach ihrer Konfirmation hatte Ursula mit der Kirche nichts mehr zu tun. Sie magerte ab, bekam Haarausfall, die Menstruation blieb aus. Sie vergrub sich in Schulbücher und trat später aus der Kirche aus. Nach ihrem Abitur zog sie nach München, wo sie zunächst mit ihrer Mutter lebte und für sie sorgte. Sie lernte ihren späteren Mann kennen und zog 1971 mit ihm zusammen. Sie erzählte ihm, warum sie viel Zeit brauchte, körperliche Nähe und Intimität zuzulassen. Er war verständnisvoll – und empört über das, was er über Pfarrer H. erfuhr. Er sagte: "Den zeigen wir sofort an." Erst da begriff sie: Die sexuellen Übergriffe waren nicht ihre Schuld. Sie waren ein Unrecht jenes Pfarrers H., der noch immer in Hof ein und aus ging und dort noch immer beliebt war.

Sie zeigten Pfarrer H. doch nicht an – das Paar schätzte die Chancen für ein Verfahren schlecht ein. Andere Dinge schoben sich in den Vordergrund. Ursula heiratete, gründete eine Familie und wurde Lehrerin. Ende Mai 1988 lobte die "Süddeutsche Zeitung" ­Pfarrer H., mittlerweile Oberkirchenrat in München, anlässlich seiner Pensionierung als "Anwalt der Freiheit". Kurz darauf schrieb Ursula Werner Pfarrer H. in einem Einschreiben:

"Sie haben mich schamlos ausgenutzt. Sie haben Weichen in meinem Leben gestellt, für die ich Sie verantwortlich mache. Sie sind ein Verbrecher. Leute wie Sie müssen für ihr Dunkelleben zur Rechenschaft gezogen werden, vor allem, wenn sie sich ‚gut lutherisches Erbe‘ zu vertreten anmaßen. Ihre Teilnahme an Diskussionen zum Thema Jugend­schutz ist ein beispielloser Zynismus! . . . Ich behalte mir vor, eine Kopie dieses Schreibens, versehen mit einer eidesstattlichen Erklärung, der obersten Behörde der evangelischen Landes­kirche zukommen zu lassen."

Das tat sie nicht. Einige Jahre später traf sie Pfarrer H. wieder in der Christuskirche in Hof. Ursula Werner stellte sich ihm mit ihrem Mann und ihren Kindern im Ausgang ent­gegen. Pfarrer H. sah sie, erschrak und wich durch eine andere Tür aus der Kirche. Für ­Ursula Werner ein Triumph.

Erst 2010, als die Medien von sexuellen Übergriffen am Canisius-Kolleg, an der Odenwaldschule und bei den Regens­burger Domspatzen berichteten, zeigte Ursula Werner Pfarrer H. bei der Landeskirche an.

Wie reagierte die Kirche auf Ihre Anzeige?

Ich wollte eine zeitliche Vorstellung haben, wann das behandelt wird. Die Gleich­stellungsbeauftragte sagte: "Jetzt ist erst Frühjahrssynode in Weiden, dann in sechs Wochen." Ich nahm an, dass sie mir sagen wollte: Vor einem halben Jahr sei kaum damit zu rechnen, und dachte nur: Das dauert mir zu lang, das kann ich nicht tragen.

Sie hatten sich an die "Süddeutsche ­Zeitung" gewandt.

Ja, damals kamen dort viele Anrufe rein, die zuständige Redakteurin hat sich das alles anhören müssen. Ich merkte, sie kümmert sich wirklich, geht auf alles ein. Irgendwann fragte sie: "Wer war das denn eigentlich?" Ich sprach den Namen aus und dachte, ich hätte das größte Verbrechen überhaupt begangen, Hochverrat. Sie fragte: "Wie buchstabiere ich den denn?" Die Redakteurin hat ihn besucht. Er hat alles abgestritten. Das teilte sie mir mit. Ja Wahnsinn! Und ich hatte zuvor gedacht: Bestimmt fühlt er sich ertappt!

Reagierte die Kirche erst auf die Artikel in der Zeitung?

Nein, ein Termin kam ganz schnell. Das Bischofs­büro war auf dem Weg zur Synode nach Weiden, da sollte ich die Unterlagen schon faxen. Und der damalige Bischof ­Johannes Friedrich sagte vor der Synode: "Es gibt ab jetzt null Toleranz. Jeder Fall wird an den Staatsanwalt weitergeleitet."

Wie wurde ermittelt?

Ich wurde drei Mal angehört. Das erste Mal drei Stunden im Landeskirchenamt in München. Dann bei der Staatsanwaltschaft in Hof. Die junge Staatsanwältin dort schickte später ein Schreiben an die Landeskirche mit dem Tenor, dass die Anschuldigungen glaubhaft seien. Das dritte Mal wurde ich während des Hauptverfahrens vor dem Disziplinar­gericht in der Landeskirche angehört.

Das bayerische Disziplinargericht verurteilte den Pfarrer

Aus staatlicher Sicht war der Fall verjährt. Die Staatsanwaltschaft Hof stellte das Verfahren ein. Für das kirchliche Disziplinargericht in Bayern ­zählte die Verjährungsfrist nicht. Eine Sekretärin aus dem Landeskirchenamt kannte H. aus seiner Zeit als Oberkirchenrat, er war zuständig für Schulen und Religionsunterricht. Sie wurde gefragt, ob sie von den Anschuldigungen wisse. Es stellte sich heraus, dass H. auch sie sexuell belästigt hatte – wie auch zwei weitere Sekretärinnen. Eine hatte Johannes Hansel­mann, den Landesbischof zwischen 1975 und 1994, um Hilfe gebeten. Hinweise, dass er ­etwas unternommen hatte, fanden sich nicht.

Ende 2010 wurde die Anklageschrift dem Oberkirchenrat i. R. zugestellt. Ihm wurden sexuelle Übergriffe gegenüber vier Frauen zur Last gelegt. Gegenüber zweien von ihnen sei er bei von innen versperrter Bürotür zudringlich geworden. Eine dritte ließ er "auf ihre klare Zurückweisung hin in Ruhe". H.s Frau wollte dabei sein, als die Anklage gegen ihren Mann eröffnet wurde. Sie starb in der Nacht nach einer weiteren Vernehmung in Hof.

Am 1. Februar 2011 verhandelte die Dis­ziplinarkammer der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. Die Jugendfreundin, die ­Ursula damals eingeweiht hatte, sagte als Zeugin aus. Der Beschuldigte war nicht an­wesend. Seine Frau war gerade beerdigt worden. Seine Gesundheit sei angeschlagen. Die "angeblichen Vorgänge" ließen sich nicht mehr aufklären. H. beantragte, das Verfahren einzustellen.

Der Vorsitzende der kirchlichen Disziplinarkammer, promovierter Jurist und hauptberuflich Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht München, wertete die Aussagen der Belas­tungszeuginnen als glaubhaft. Er erklärte den Pensionär "des sexuellen Missbrauchs eines damals 13-/14-jährigen Mädchens, das zu der ihm als zuständigem Gemeindepfarrer seelsorgerlich anvertrauten Konfirmandengruppe gehörte, für schuldig".

Der Mann habe gegen seine allgemeinen Lebensführungs- und gegen seine Amtspflichten gemäß Pfarrer­gesetz verstoßen, auch im Falle der drei ­Sekretärinnen. "Aufgrund der Schwere und Vielzahl der Dienstpflichtverletzungen ist eine schwerere Maßnahme als die Kürzung der Dienstbezüge gerechtfertigt." Es liege ein Verhalten vor, "das Herrn OKR i. R. H. als der Gewährung des Unterhaltsbeitrages unwürdig erscheinen lässt". Anders gesagt: Seine Pension sollte komplett gestrichen werden.

Eine Reihe älterer Herren wurde aktiv

Nun wurde eine Reihe älterer Herren aktiv. Zunächst der Täter selbst: Sechs Tage nach dem ­Urteil rief er bei Ursula Werner an. Sie schrieb anschließend ein Gedächtnisprotokoll: Er wolle sich entschuldigen. Und dass er nun nichts mehr in der Sache ­unternehmen wolle.

Auch der frühere Oberstaatsanwalt Rudolf M. aus Hof rief Ursula Werner an: Er gehöre zu einem Kreis von alten Herren, alle Freunde von Herrn H. In Ursula Werners Mitschrift des Telefonats stehen Sätze wie: Das Urteil sei zu hart. Der Pfarrer habe sich entschuldigt. Alle stünden vor einem Rätsel. Der Pfarrer habe alles verdrängt. Er sei wohl geistes­krank gewesen. Er habe auch seine ­guten Seiten gehabt. Seine Frau habe ihn angehimmelt. Ob sie seinem Freund nicht ver­geben könne. Er habe schon vor ihrer Zeit Sachen mit ein paar Mädchen gehabt. In einer Kirchen­vorstandssitzung habe ihn ein Kirchen­-
ältester abgemahnt, er solle seinen Kontakt zu jungen Mädchen einschränken. Sie solle ihm nun vergeben und alles so stehen lassen.

Ein weiterer älterer Herr meldete sich zu Wort: Der Münchner Theologie­professor Friedrich Wilhelm Graf. In der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" ver­glich er die kirchliche Disziplinarkammer mit einem Schariagericht. "In einem eintägigen Prozess, ohne psychologische oder sonstige Gutachter, gelangte die Kammer zur Ansicht, dass die ‚Opferzeuginnen‘ ausnahmslos ‚glaubwürdig‘ seien", schrieb Graf – als sei der Verhandlung weder ein sechs­monatiges Ermittlungs- noch ein zweimonatiges Hauptverfahren vorausgegangen. Er schrieb über die Disziplinarkammer: "Sie vernichtet die bürgerliche Existenz des Ehebrechers, der sich nach staatlichem Recht aber keines Ehebrechens schuldig gemacht hat." Dabei ging es in diesem Verfahren gar nicht um Ehebruch.

H. legte Berufung ein. Das Verfahren ­wurde mehrmals verschoben. Dann, zwei Jahre nach der ersten Verhandlung, kam es ganz plötzlich doch zustande. Bei der Verhandlung hinter verschlossener Tür war wieder ein ­älterer Herr dabei: Christean Wagner, bis 2014 Vor­sitzender der CDU-Fraktion im hessischen Landtag. Als hessischer Justiz­minister hatte er für mehr Härte im Strafvollzug ge­stritten. Nun war er, als stellvertretendes Mitglied, ­einer der drei ehrenamtlichen Richter. Das Verfahren sollte am 13. Feb­ruar 2013 be­ginnen und zwei Tage dauern. Es endete schon am ersten Tag gegen Mittag mit der Einstellung des Verfahrens – ohne dass auch nur ein Zeuge angehört worden war. In der Wirkung kam dies einem Freispruch gleich. Wer die Begründung formuliert hat? Da verweist Wagner heute auf das Beratungsgeheimnis.
Der Vizepräsident des Sozialgerichts Koblenz, Franz Werner Gansen, ein Spezialist in Sachen Disziplinarrecht, nahm die Begründung der Verfahrenseinstellung unter die Lupe. Seine Kritik war vernichtend: Der Beschluss im Revisionsverfahren sei widersprüchlich. Der Senat habe sich um Aufklärung gar nicht erst bemüht und die zu verhandelnden Sachverhalte verharmlost. Die Einstellung des Disziplinarverfahrens sei "gewollt" gewesen. Das Verfahren war damit beendet. H. bezog bis zu seinem Tod im Jahr 2015 seine volle Pension.

Wie haben Sie das Revisionsverfahren aufgenommen?

Es war ein schrecklicher Tag. Es hat ge­schneit. Mein Mann und ich wollten auf jeden Fall beide Tage da sein. Wir waren gut vorbereitet. Dann flog die Tür auf, der landeskirchliche Ermittler aus dem ersten Verfahren kam raus. Er war aufgebracht. Er sagte: "Das Verfahren wurde niedergeschlagen." Und das, obwohl wir als Zeugen noch gar nicht mal angehört worden waren. Mein Mann und ich sind dann reingegangen. H. war gerade aus seinem Rollstuhl aufgestanden und schüttelte den Richtern die Hand. Christean Wagner ging uns gleich an: "Von wem wollen Sie was, was wissen Sie?"

Wie haben Sie reagiert?

Ich habe die Welt nicht mehr verstanden. Ich fragte die Vorsitzende Richterin, ob sie wisse, was jetzt zeitlebens auf uns lastet? Die andere beisitzende Richterin nestelte an ihrer Handtasche und schaute mir nicht in die Augen. H.s Anwalt wechselte Worte mit meinem Mann. Mein Mann war zornig. Er sagte zu H.: "Schauen Sie mir in die Augen."

Wie ging es Ihnen?

Ich war fix und fertig, ich bin abgemagert. Meine Tochter hat mir immer Öl in den Salat gegossen, wenn sie zu Besuch war. Sie dachte, ich komme nicht mehr auf die Beine.

Wie reagierten die Vertreter der Landeskirche?

Entsetzt. Der bayerische Landesbischof ­Heinrich Bedford-­Strohm hatte die ganze Zeit mit mir Kontakt. Zur Zeit der ­Berufungsverhandlung war er in Südafrika. Ich informierte ihn. Er schrieb zurück, er schäme sich für seine Kirche. Er versprach: "Ich werde auf höchster Ebene ein Gespräch in Gang setzen, was solche Fälle für uns bedeuten."

Das Disziplinarrecht der evangelischen Kirchen berücksichtigt nun mehr das Leid der Opfer

Sie glauben, Opfer sexueller Übergriffe könnten sich mit ihren Geschichten an die ­Kirchen wenden. Warum?

Weil die evangelische Kirche aus den Fehlern in meinem Verfahren gelernt hat.

Wie?

Sie hat ihr Disziplinargesetz geändert. Seit 2014 berücksichtigt es viel mehr das Leid der Opfer sexueller Übergriffe, etwa beim Strafmaß. Die mündliche Verhandlung im Disziplinarverfahren ist nun öffentlich, das schafft Transparenz. Pfarrerinnen und Pfarrer können sich nicht mehr auf das Seelsorge­geheimnis berufen, wenn es um ­sexuelle Belästigung oder um eine Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung geht. Pfarrern kann man nun auch lebenslang den Umgang mit Jugendlichen untersagen. Es gibt eine Art Kronzeugenregelung, wenn jemand eine Seilschaft aufdeckt, die einen Täter deckt, auch wenn er zur Seilschaft ­gehört hat.

Noch funktioniert das nicht in allen ­Landeskirchen.

Da muss ich sagen: Ich kann Gott danken, dass ich der bayerischen Landeskirche zu­geordnet bin. Ich bin mir aber sicher, dass die evangelischen Landeskirchen den Opferschutz noch verbessern.

Wurden Sie seelsorgerlich begleitet?

Ja, ich habe auch Vertrauen zurückgewonnen, weil der frühere Bischof Johannes Friedrich klargemacht hat: Er wischt nichts unter den Tisch. Sein Nachfolger Heinrich Bedford-Strohm hat mich seelsorgerlich begleitet: Ich habe unzählig viele E-Mails von ihm in meiner Mailbox. Als Margot Käßmann sagte: "Man fällt nie tiefer als in Gottes Hand", dachte ich noch: Ich bin immer vorbeigetrudelt. – Aber ich bin dennoch in der Hand gelandet. Am 19. Juli 2015 vor einem Gottesdienst in der Paul-Gerhardt-Kirche in München hat mich Bedford-Strohm in die Kirche aufgenommen. Meine Integrität wurde wiederhergestellt. Und ich habe meine Glaubensheimat wiedergefunden. Das ist für mich ein Wunder.

Infobox

Kirchengerichte:

Als Körperschaften öffentlichen Rechts können ­Kirchen eigene Gesetze erlassen – im Rahmen der geltenden Rechtsordnung. Sie haben ein eigenes Arbeitsrecht, eigene Verwaltungs- und Disziplinargesetze. Streit kommt vor Kirchengerichte: wenn Mitarbeitervertretungen und kirchliche Arbeitgeber sich nicht einig werden, wenn jemand eine Entscheidung der kirchlichen Verwaltung anficht oder wenn Kirchenbeamte gegen Dienstpflichten ver­stoßen – zum Beispiel bei sexuellen Übergriffen. Jede evangelische Landeskirche hat eigene Gerichte. Berufungsinstanz ist der Kirchengerichtshof der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Der Rat der EKD beruft die Richter und Richterinnen und ihre Stellvertreter für sechs Jahre. Vorsitzende Richter und Richterinnen müssen nach dem Deutschen Richtergesetz qualifiziert sein. Sie arbeiten an staatlichen Gerichten und üben ihr kirchliches Amt ehrenamtlich aus.

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Das Grundübel der Geschichte, nämlich die Erziehung zum Gehorsam, hat sich nicht verändert, im Gegenteil, die Methoden wurden modifiziert und der Zeit angepasst.

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Im Artikel heißt es: "Dann lief etwas aus dem Ruder." Wenn das Schiff aus dem Ruder gelaufen ist, greifen Steuermann und Kapitän ein, um es wieder auf Kurs zu bringen. Man kann also nach der Korrektur sehen, was das angestrebte Ziel ist.

Wenn somit die höhere Instanz ein Urteil der unteren Instanz korrigiert, dann zeigt sich jetzt, was Sache ist. In der bemühten Schifffahrtsmetaphorik zeigt der Schuldspruch, dass das offenbar zur See fahrende Gottesvolk Ruderprobleme hatte, die durch den Freispruch behoben wurden.

Soweit die objektive Betrachtungsweise. Die wird schlichtweg in ihr Gegenteil verkehrt, damit sie zur immer gleich bleibenden frohen Botschaft passt: "Früher - im Mittelalter, bei den Nazis, in der Moderne bei der Ausnutzung von Mädchen und Frauen - gab es hässliche Geschichten. Heutzutage gibt es das alles nicht mehr. Also kein Grund, dem Glauben nahe zu treten oder gar auf die Füße zu steigen."

Fritz Kurz

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Zum Revisionsverfahren ist zu sagen: Typisch alte Männer, die in ihrem Denken und Handeln nichts dazugelernt haben.

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Man wüsste gern, wie die Wissenschaft ein derartiges Fehlverhalten deutet und erklärt. Und wie war es möglich, dass die abscheulichen Handlungen eines offensichtlich gestörten Seelsorgers unbeachtet blieben? Jegliches Wort, das dieser Übeltäter im Namen Gottes gesprochen und gepredigt hat, ist dem Verdacht ausgesetzt, eine Lüge gewesen zu sein. Versöhnlich stimmt, dass die Geschädigte ihren Seelenfrieden gefunden hat und die wahren Umstände offenlegt.

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Da wird eine märchenhafte Geschichte aufgetischt und der EKD-Vorsitzende gelobt. Aber die evangelische Kirche brauchte acht Jahre lang, um erst im September 2018 ein einheitliches Vorgehen der 20 Landeskirchen zu erreichen und die zentrale Anlaufstelle für Missbrauchsfälle einzurichten. Bis dahin wurde sicherlich noch einiges vertuscht.
Übrigens wenn schon Beamtenkritik, dann bitte auch hier vor der eigenen Türe kehren.
Warum werden Pfarrer als Beamte geführt und dürfen Kirchenmitarbeiter nicht streiken?

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In einer so breiten Darstellung vom Kampf eines Missbrauchsopfers um Anerkennung und Entschädigungsleistungen vermisse ich die Erwähnung der Ansprüche nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG). Gewiss ist der Wunsch zu verstehen, nach einem Missbrauch im Bereich der Kirche genau von dort institutionelle Reue und Buße zu verlangen. Aber einen sachlichen Grund, deshalb auf Ansprüche gegen den Staat zu verzichten, kann ich nicht erkennen. Ihre Reportage zeigt ja auch die schmerzlichen Grenzen einer innerkirchlichen Aufarbeitung. Den etwa selbst betroffenen Leserinnen und Lesern die Möglichkeiten nach dem OEG vorzuenthalten, scheint mir im Sinne journalistischer Sorgfalt recht gewagt.

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Vergleichen mit mit einem Heft von „gesitREich“ (8/2018; einer Kirchenzeitung von Recklinghausen, St. Petrus), mit dem Thema Sexueller Missbrauch. S. 6-12), ist dort das Thema zwar unterfüttert mit einer Fallgeschichte und Adressen für Opfer. Was hier aber Burkhard Weitz für CHRISMON zusammengestellt, ist auch zu übertragen für den katholischen Bereich, der „Körperschaft des öffentlichen Rechts“: Wie Weitz zeigt, können Kirchen eigene Verwaltungs- und Disziplinargesetze (mit entsprechenden Standards) erlassen, um das zu vermeiden, was sonst in und hinter den fadenscheinigen Kirchengesetzen verborgen bleibt: Wer sind erinnert, dass ein Jurist, den vor vier Jahren für die Aufarbeitung des „sexuellen Missbrauchs“ katholischerseits das Forschungsprojekt zurück gab, da er nicht an die Personal-Akten herankam: Aufklärung vergebens!.
Auch für die Aufarbeitung im Jahre 2018 hat die kath. Kirche nur Abschriften von Belastungsfällen zur Verfügung gestellt. Wahrscheinlich müssen für die Bistümer und Ordensburgen ingensamt viele Verfahren geführt wurden, um ein vergleichbares Straf-Verfahren zu garantieren, dass die Täter zur Verantwortung ziehen kann; ansonsten bleiben Pfarrer, Ordensleute, Erzieher mit den „Hinweis 'verjährt'“ straffrei.
- Ja, bitte: „Aufklärung in Sexualfragen“ „auf Evangelisch“!

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Frau Werner bezieht sich in diesem Interview auf einen Fall von sexuellem Missbrauch eines Pfarrers, der im Juni 2018 in der Abo-Ausgabe des Chrismon abgedruckt wurde. In diesem Artikel wurde über Akten, Interviews mit verschiedenen Beteiligten und vieles mehr das Versagen der Landeskirche Bayern in einem Fall der disziplinarrechtlichen Ahndung von sexuellem Missbrauch durch eine Pfarrer dokumentiert.
In dem Fall von Frau Werner, den sie nun in der aktuellen Ausgabe schildern kann, werden unsägliche Taten aber auch ein deutlich angemesseneres Vorgehens der gleichen Landeskirche aufgezeigt.
Wie nun erklären sich diese Unterschiede?
Einmal handelt es sich um einen längst pensionierten Kirchenmann, dessen Taten 2010 erstmalig der Landeskirche angezeigt wurden. In dem anderen Fall war der Pfarrer bei der ersten Anzeige der Betroffenen im Jahr 2003 noch im Amt und das Verfahren gegen ihn mit geringem Aufklärungswillen geführt worden. Er gestand, leistete eine Spende, blieb im Amt und wurde sogar befördert. Und dies, obwohl bereits 2002 eine Leitlinie der Landeskirche klargestellt hatte, dass im Falle einer Anzeige von sexuellem Kindesmissbrauch umgehend die Staatsanwaltschaft eingeschaltet werden muss.
Als Frau Werner 2010 anzeigte, hatte die Landeskirche die Chance alles richtig zu machen. Diese Chance hat sie genutzt. Die gleichen Verantwortlichen aber haben in dem anderen Fall zur gleichen Zeit entschieden, innerkirchliche Fehler aus 2003 zu vertuschen, als man eben nicht an die Staatsanwaltschaft weitergegeben hatte, die Taten des Pfarrers nicht geahndet hatte, weder die alte noch die neue Gemeinde informiert hatte, um potentiell weitere Taten zu verhindern und auch der Betroffenen zu keinem Zeitpunkt Hilfe angeboten hatte.
Aus meiner Sicht war das Verhalten in beiden Fällen bewusster Institutionenschutz:
Für Frau Werner konnte und wollte man etwas tun, weil dies 2010 auf dem Höhepunkt der öffentlichen Missbrauchsdebatte das Gebot der Stunde war, noch dazu, da die Süddeutsche bereits vor der Synode berichtet hatte und öffentliche Haltung notwendig wurde. Hier war Großmut und Unterstützung die geeignete Geste.
Und in dem anderen Fall mussten die Fehler vertuscht, das Ausmaß des Missbrauchs klein geredet und möglichst die Betroffene zum Schweigen gebracht werden, um Fehler von Kirchenverantwortlichen, die mittlerweile in die Kirchenleitung der Landeskirche berufen worden waren Kirchenleitung geworden waren nicht öffentlich werden zu lassen. Es ging um den Schutz der Institution und nicht um die Last und das Leid der Betroffenen. Hierfür wurde in Kauf genommen, den geständigen Täter weiter ohne Ahndung seiner Taten im Dienstverhältnis zu belassen. Es ging hier, wie im Fall von Frau Werner um den Schutz der Institution Kirche, konkret der Landeskirche Bayern. Dies erklärt das diametral unterschiedliche Verhalten auch vom damaligen Landesbischof Johannes Friedrich aber auch vom jetzigen Landesbischof Bedford-Strohm.

Wenn im Chrismon nun unkommentiert und ohne journalistische Einordnung die - ja sehr berechtigte - Wahrnehmung von Frau Werner zu dem für sie hilfreichen Verhalten der Landeskirche seit 2010 als Beleg für grundlegend hilfreicher Haltung der Landeskirche gegenüber Betroffenen zeichnet, so ist dies aus meiner Sicht journalistisch schwierig. Dies um so mehr, da neben der Schilderung des Falles ja Betroffene ermutigt werden, sich an die Landeskirche zu wenden, auch mit Verweis auf deutlich verbesserte Verfahren. Eine Prüfung der tatsächlichen Veränderungen im Disziplinarrecht ist journalistisch nicht vorgenommen worden. Denn was im Text als Tatsache genannt wird stimmt in Teilen nicht (z.B. kann im Disziplinarverfahren die Öffentlichkeit weiter ausgeschlossen werden und natürlich können sich Pfarrer_innen bei der Beweisaufnahme weiterhin auf ihr Seelsorgegeheimnis berufen ) oder aber die Regelungen sind doch recht wachsweich und mit viel ‘können’ und wenig Verbindlichkeit geregelt. So können Betroffene über das Ergebnis des Verfahrens informiert werden, solange ‘schutzwürdige Interessen der beschuldigten Person nicht entgegenstehen’.  Ein Akteneinsichtsrecht steht ihnen aber weiter nicht zu, dem Täter natürlich schon.
Hier hätte ich mir mehr journalistische Sorgfalt gewünscht statt der ungeprüften Übernahme von Interviewpassagen. Denn es geht bei Fällen von institutionellem Missbrauch vor allem und zuvorderst um den Schutz der Belange von Betroffenen. Hier falsche Sicherheiten zu vermitteln, die dann im kirchenrechtlichen Verfahren nicht eingelöst werden, kann massiv schädigend für Betroffene sein, weswegen ich hier so deutlich auf die Sorgfaltspflicht des involvierten Redakteurs hinweisen möchte.
Hinzu kommt die Veröffentlichung gerade so kurz vor der EKD-Synode, in der es auch um Missbrauch in der evangelischen Kirche gehen soll. Da kann der Eindruck entstehen, dass solch eine tapfere Verteidigungsschrift einer Betroffenen dem amtierenden bayerischen Landesbischof und EKD-Ratsvorsitzenden Bedford-Strohm wie gerufen kommt.

Kerstin Claus, Mitglied Betroffenenrat, einem beratenden Gremium beim Unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs.

Der Vorwurf des Institutionenschutzes geht der Absicht der Institution gerade auf den Leim. Entweder hat man eine Kritik an den Zwecken der Institution, dann wird diese Kritik auch zur Sprache bringen, warum sich die Institution gerade so zu schützen versucht, wie sie es tut. Oder man hat keine Kritik am Daseinszweck der Institution. Dann ist nicht einzusehen, warum sich die Institution nicht schützen sollte.

Auch der Vorwurf einer ungenügenden journalistischen Sorgfalt führt in die falsche Richtung. Die wichtigste Sorgfaltspflicht jedes Arbeitnehmers, also auch und insbesondere eines Redakteurs, besteht in der sehr sorgfältigen Beachtung dessen, was der Brötchengeber erwartet. Sonst ist man seinen Job über kurz oder lang los. Das ist der sachliche Inhalt der berühmten Freiheit des freien Bürgers in der freien Gesellschaft. Und in der Beachtung dieser Sorgfaltspflicht ist dem vorliegenden Artikel kein Vorwurf zu machen.

Was erwartet die Kirche in der Aufarbeitungsdebatte? Sicherlich kein "Da war doch nichts". Da würde das Leserpublikum nur höhnisch lachen. Auch kein "Alles halb so schlimm". Das würde Empörung hervorrufen.

Genau so unerwünscht ist allerdings das Aufzeigen des Zusammenhanges zwischen dem zentralen Markenprodukt der Kirche, dem christlichen Glauben nämlich, und dem Gebrauch gerade der Gläubigkeit und Abhängigkeit von Mädchen für die unfreiwillige Erfüllung männlicher Gelüste. Wie macht die geglaubte Realpräsenz des Herrn die reale fummelnde Präsenz des Herrn Pfarrers so widerwärtig unentrinnbar? Wie kann der berufsmäßige Künder des ankommenden Gottesreiches seinen ankommenden Körperteil noch leichter ins Spiel bringen als es dem Fußballtrainer oder Geigenlehrer oder Papi persönlich gelingt?

Da möchte die Kirche selbstverständlich ganz andere Dinge besprochen sehen. Schwarze Schafe und deren rechtzeitige Einhegung sind gefragt, das dazu passende Paragrafenwerk und social engineering sind zur Debatte freigegeben. Diese erlaubten Punkte bringt der Artikel vorbildlich zur Sprache.

Wer darauf anspringt, ist der Institution auf den Leim gegangen. Das gilt sowohl für die affirmative Stellung "Brav so, Ihr Evangelischen! Schöne Fortschritte!" wie auch für ein kritisches "Da ist für die Betroffenen nicht alles Gold, was glänzt.".

Die real existierende Gefahr, die Glaubensheimat wiederzufinden, wird vom Artikel ganz folgerichtig mit Triumphgeheul begrüßt.

Friedrich Feger

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