Hajnal Fekete
"Armut ist doch kein Verbrechen!"
Dem ungarischen Präsidenten Viktor Orbán und seiner Partei Fidesz sind die Obdachlosen ein Dorn im Auge. Sie wollen sie mit Verboten aus der Öffentlichkeit verbannen. Kirchen und politische Gruppen machen Front gegen die Aufräumaktionen der Regierung.
03.01.2014

Sándor Molnár sitzt auf seinem Bett in der Mitte des ­großen Saals und schaut sich nachdenklich um. Die triste Halle, „Beheizte Straße“ genannt, bietet Klappbetten oder eine Bank zum Schlafen, es gibt Tische und Stühle. Und es riecht nach Essen und Schweiß. Vier Sozialarbeiter kümmern sich hier um Hunderte Menschen. Molnár, 57, verlor kurz nach der Wende ­seine Arbeit als Fabrikarbeiter bei einem maroden Staatsunternehmen in Ostungarn, das 1992 geschlossen wurde. Bis 2009 konnte er sich noch einigermaßen über Wasser halten, es gab immer wieder Gelegenheitsjobs als Bauarbeiter in seiner Heimatregion. Doch dann kam die Wirtschaftskrise und nichts ging mehr. Molnár kam nach Budapest.

"Jeden, der sich um die Armen kümmert, sieht Orbán als politischen Gegner"

„Natürlich zieht die Großstadt auch die Obdachlosen an. Ungarn ist ein armes Land, es gibt heute ungefähr zwei Millionen Leute, die in Armut leben, und die Situation in der Provinz ist einfach hoffnungslos“, erklärt Pfarrer Gábor Iványi, dessen Methodistische Kirchengemeinde die „Beheizte Straße“ und damit eines der ­größten Obdachlosenheime in Ungarn betreibt. Über 1000 ­Menschen nehmen täglich Angebote des Zentrums in Anspruch: die Betten, die Duschen, die Krankenstation, die Stelle für soziale und psychologische Beratung, eine warme Mahlzeit.

Pfarrer Gábor Iványi, Gründer des Zentrums Beheizte Straße
Pfarrer Iványi ist eine der wichtigen Figuren der ungarischen Zivilgesellschaft. Er hat sich bereits in den 1970er Jahren, in Zeiten des Staatssozialismus, für die Rechte der Armen und für Religionsfreiheit engagiert. Heute zeigt er sich sehr kritisch gegenüber der Sozialpolitik von Ministerpräsident Viktor Orbán. „Unter dieser Regierung gilt Armut fast als Verbrechen“, sagt Iványi. „Sozialarbeit für die Armen gilt als Geldverschwendung. Orbán will diese Leute um jeden Preis loswerden. Jeden, der sich um die Armen kümmert, sieht er als politischen Gegner.“

Obdachlosigkeit ist in Ungarn mittlerweile wieder illegal: Wer öffentliche Plätze „sachfremd nutzt“, riskiert eine Geldstrafe von bis zu 500 Euro oder Haft. Da ist auch der Bezirksbürgermeister Máté Kocsis ganz konsequent. „Die bisherige liberale Sozialarbeit für Obdachlose ist völlig gescheitert“, erklärt er. „Jeden Winter erfrieren mehr Obdachlose auf Stadtbänken, und manche Bürger trauen sich nicht, mit ihren Kindern durch Budapests Straßen spazieren zu gehen. Das ist doch kein Zustand!“ Der 32-Jährige gilt als einer der Stars in der rechtspopulistischen Regierungspartei Fidesz. Er gibt sich äußerlich modern: gegeltes Haar, eng geschnittener Anzug. Er ist der Initiator des ersten Obdachlosigkeitsverbots, das 2011 in Kraft trat – und ein Jahr später durch das ungarische Verfassungsgericht wieder kassiert wurde.

Sachfremde Nutzung öffentlicher Plätze: So nennen das die Behörden

Das Gesetz verstoße gegen die Menschenwürde, argumentierten damals die Richter. Außerdem sei Obdachlosigkeit ein soziales Problem, das durch eine effiziente Sozialpolitik und nicht per Verbot gelöst werden könne. Die Reaktion der Regierungspartei: Wut. Orbán beschloss, mit seiner Zweidrittelmehrheit im Parlament die Verfassung so zu ändern, dass die Obdachlosigkeitspolitik der Regierung auch gegen das Verfassungsgericht durchgesetzt werden kann. In einem ersten Schritt wurde das Grundgesetz im März um einen Passus ergänzt, der dem Parlament und den Kommunalverwaltungen erlaubt, die Nutzung öffentlicher Räume einzuschränken.

Prompt führten Parlament und Kommunalverwaltungen die alten „Einschränkungen der Nutzung öffentlicher Räume“ wieder ein. So gelten per Gesetz die unter Denkmalschutz stehenden Straßenzüge, die Unterführungen, die Haltestellen und Bahnhöfe des Nahverkehrs, die Umgebung von Kinderspielplätzen und  Schulen als „geschützte öffentliche Räume“. Wo sollen sie hin, die obdachlosen Menschen in den Innenstädten von Budapest und den meisten anderen ungarischen Großstädten?

„Wir sind offenbar zu hässlich für die Schönen aus der Regierung und Stadtverwaltung“, kommentiert Jutka Lakatosné mit bitterer Ironie. Die Aktivistin ist selbst obdachlos. „Mein Mann ist Roma und fühlt sich nicht mehr sicher in dieser Stadt. Die Polizei schikaniert uns ständig, vor einigen Monaten wurden wir sogar von Polizisten geschlagen, ausgerechnet im achten Bezirk, dem von Bürgermeister Kocsis“, empört sich Lakatosné. „Jetzt mit dem neuen-alten Gesetz erklärt uns Orbán wieder zu Verbrechern.“

Kurz nach der Wahl verbot der Bürgermeister das Durchsuchen von Mülltonnen

Der achte Bezirk, Josefstadt, liegt in der Nähe des Ostbahnhofs und wurde seit der Wende immer mehr zur Problemgegend. Es gibt Jugendgangs, Drogensüchtige und arbeits­lose Alkoholiker. Doch seit seiner Wahl im Herbst 2010 will der junge Fidesz-Bürgermeister zeigen, dass er hier Ordnung schafft. Eine private Sicherheitsfirma arbeitet jetzt im Auftrag der Bezirksverwaltung. Die Jó Fiúk, zu Deutsch die „Guten Jungs“, patrouillieren in schwarzen Geländewagen durch die Straßen.

Rechtshilfe bei Streitigkeiten: ein Obdachloser und seine Anwältin
Gut ein Viertel der fast 10 000 Budapester Obdachlosen leben laut offizieller Statistik in Józsefváros. „Das ist viel zu viel“, findet der Bürgermeister. „Die meisten hatten nie eine Wohnung hier, sondern in anderen Bezirken oder sogar in anderen Städten. Die sind hierhergekommen, weil andere Obdachlose auch schon hier lebten.“ Kurz nach seiner Wahl verbot Kocsis das Durchsuchen von Mülltonnen. „Seitdem müssen wir viel weniger Müll von den Straßen sammeln, die Einsatzzeit der Müllmänner hat sich um die Hälfte verringert“, sagt der Politiker.

Jutka Lakatosné meidet den achten Bezirk. Nachmittags steht sie oft zwei Straßen von der Grenze entfernt, nördlich vom Blaha-Lujza-Platz, und verkauft die Obdachlosenzeitung „Fedél Nélkül“, deren Name so viel wie „ohne Dach“ bedeutet. Die Zeitung wird von der Stiftung Menhely („Obdach“) herausgegeben. „Wie die da oben gegen uns hetzen, ist unerträglich“, sagt die 58-Jährige, die sich seit Jahren gegen die „Sozialpolitik“  der Orbán-Regierung engagiert. Nach der Wende hatte sie ihre Arbeit verloren und dann auch ihre Wohnung. „In den letzten 20 Jahren habe ich meistens auf der Straße gelebt, dort auch meinen Mann kennengelernt. Wir haben in Treppenhäusern, in Kellern, ein ganzes Jahr sogar draußen auf Parkbänken geschlafen“, sagt Jutka. „Jetzt finanzieren wir uns aus dem Zeitungsverkauf und aus den Spenden.“ Vormittags gehen sie in die „Beheizte Straße“ duschen. „Die Stiftung gibt uns dann die Zeitungen, und wir verteilen sie.“ An guten Tagen liegt der Erlös bei umgerechnet zehn Euro.

Abends geht Jutka Lakatosné einkaufen. „Die Preise sind in den letzten Jahren rasant gestiegen, die ärmsten Leute können sich jetzt nur das Nötigste leisten“, sagt sie bitter. Mit mehr als zehn Prozent Arbeitslosigkeit, einer hohen Inflation, einer kriselnden Wirtschaft und einem Mehrwertsteuersatz von 27 Prozent, dem höchsten überhaupt in der EU, ist das heutige Ungarn nicht mehr die fröhlichste Baracke Osteuropas, wie sie früher spöttisch von ihren Bürgern genannt wurde.

„In der Fedél Nélkül schreiben meistens Menschen, die selber obdachlos sind. Sie erzählen ihre Geschichten oder schreiben Gedichte“, erklärt Anna Orbán stolz. Die ältere Frau ist in die Tagesstätte der Stiftung Menhely gekommen, um ihren Textbeitrag zu redigieren. Um den Hals trägt sie einen Schlüsselanhänger mit einem kleinen Rubik-Zauberwürfel. „Ich konnte dieses ungarische Puzzle nie lösen“, lacht sie, aber sie will sich dieser Aufgabe wieder stellen. Orbán hatte jahrelang als Sekretärin bei Behörden und in Ministerien gearbeitet. 2002 starb ihr Mann an Krebs, sie fing an zu trinken. Sie verlor die Wohnung, weil sie die Miete nicht mehr bezahlen konnte. Ihre 4000 Bücher kamen in den Müll.  

Unterwegs mit Sprechchören und Trommel: Dorka Esze und Anna Órban
Mehr als acht Jahre hat Anna Orbán in Wohnheimen an der Peripherie der ungarischen Hauptstadt gelebt. Dann ist es ihr endlich gelungen, eine neue Wohnung zu finden. In ihrem Wohnzimmer stehen Romane der ungarischen und anderen europäischen Klassiker im Bücherregal. „Meine Alkoholprobleme habe ich jetzt hinter mir, und ich habe angefangen zu schreiben. Ich habe sogar den monatlichen Autorenwettbewerb der Obdachlosenzeitung gewonnen“, erzählt sie. Seit Anfang 2012 hat sie, zum ersten Mal seit zehn Jahren, eine Arbeitsstelle. Als Redakteurin und Übersetzerin stellt sie für ausländische Unternehmen einen englischsprachigen Pressespiegel mit ungarischen Nachrichten zusammen.

Anna Orbán war von Anfang an dabei, als in Budapest die Initiative „Eine Stadt für alle“, auf Ungarisch „A város mindenkié“ (AVM), gegründet wurde. Da taten sich 2009 Obdachlose und Sozialarbeiter zusammen, um gegen Ausgrenzung, Diskriminierung und Stigmatisierungen zu kämpfen. „In Osteuropa mit ­seinen schwachen und oft vom Staat abhängigen Zivilgesell­schaften ist eine solche Organisation einmalig“, sagt Menhely-Chef Péter Györi.

"Wir wollen einen Wohlfahrts-, keinen Polizeistaat"

Weit weg von der Innenstadt, am Rande seines Bezirks, eröffnete Bürgermeister Máté Kocsis 2011 vor den Kameras des Staatsfernsehens das erste „Haus der Seele“. Hier wurde zunächst 14 Obdachlosen „die Möglichkeit der Arbeit und der geistlichen Lehre“ angeboten. Das Projekt war Teil eines neuen Programms der Fidesz-Regierung, das ähnlich rasant Karriere machte wie der Bürgermeister selber: Jede Kommunalverwaltung soll „ihre“ Obdachlosen dazu bewegen, von den Straßen in die neuen polizeilich bewachten Einrichtungen einzuziehen. Diese werden in Zusammenarbeit mit christlichen Hilfswerken organisiert, mit einer Gebets- und Arbeitspflicht. „Mancher Kritiker meint, es sei das Recht der Obdachlosen, zu entscheiden, ob sie draußen auf der Bank erfrieren oder in die für sie eingerichteten Wohnheime gehen. Meiner Meinung nach sind solche Menschen alles andere als Freunde der Obdachlosen“, sagt Kocsis.

Essensausgabe in der Suppenküche der methodistischen Gemeinde
Doch nicht nur die meisten Obdachlosen sehen das neue ­Modell skeptisch. Bei der Einweihung eines ähnlichen Hauses im neunten Bezirk wurden Innenminister Sándor Pintér und Oberbürgermeister István Tarlós von einer laut protestierenden Gruppe Aktivisten empfangen. „Wir wollen einen Wohlstandsstaat, keinen Polizeistaat“, stand auf ihren Transparenten. „Werden die Obdachlosen kommen und gehen dürfen, wann immer sie wollen? Sagen Sie uns die Wahrheit!“, rief die AVM-Aktivistin Tessza Udvarhely. Der Innenminister starrte sie zornig an.

Unweit vom Blaha-Lujza-Platz in der Josefstadt liegt der Hauptsitz der Polizeiabteilung für Ordnungswidrigkeiten. Seit einigen Wochen ist dieses Amt wieder dafür zuständig, die „sachfremde Nutzung öffentlicher Plätze“ zu protokollieren und die Obdachlosen mit Geldstrafen zu belegen. An einem Freitagnachmittag kurz nach 17 Uhr schlagen mehrere Dutzend Aktivisten an einer Straßenkreuzung in der Nachbarschaft Zelte auf. Es regnet, die improvisierten Transparente werden nass. Tessza Udvarhely aber will gemeinsam mit ihren Freunden die ganze Nacht auf der Straße ausharren. „Hier im achten Bezirk wollen wir zeigen, dass die Politik der Regierung und der Stadtverwaltung menschenverachtend ist“, ruft die junge Frau in ein Megafon.

Zwei schwarze Geländewagen der Sicherheitsfirma Jó Fiúk fahren vorbei. „Hallo, gute Jungs!“, rufen ihnen die Aktivistinnen hinterher.

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Schon traurig wieviel Energie Ungarn aufwendet um Obdachlose zu verbieten.
Es wäre besser sich um soziale belange zu kümmern. Würde man nach gerecht bezahlter Arbeit streben würde sich dieses Problem selber lösen und jeder hätte was davon.

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Zitat aus dem Artikel: "Obdachlosigkeit ist in Ungarn mittlerweile wieder illegal: Wer öffentliche Plätze "sachfremd nutzt", riskiert eine Geldstrafe von bis zu 500 Euro oder Haft." Da ist die Bundesrepublik Deutschland doch von ganz anderem Kaliber. Wer als Obdachloser einen beheizten Platz zum Hinlegen oder Hinsetzen sucht und auf den Einfall kommt, das im nächsten Einkaufszentrum zu tun, wird schnell merken, wohin dieser Versuch einer satzungswidrigen Nutzung der Ladenpassage führt.______________________ Bernd Wimmer schrieb am 18. Januar 2014 um 8:19: "Würde man nach gerecht bezahlter Arbeit streben würde sich dieses Problem selber lösen" Keineswegs. Im blühenden Rechtsstaat Deutschland sorgen sich Politiker, Unternehmer und Gewerkschaften gleichermaßen um gerechte Löhne. Hartz IV wird laufend von Gerichten daraufhin überprüft, dass es sehr gerecht zugeht. Dieses gerechte Treiben von der Wiege bis zur Bahre verhindert nicht die Obdachlosigkeit, sondern ist wesentliche Voraussetzung dafür, dass es Obdachlosigkeit gibt und zwar nicht zu knapp.

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Kindern die Fleisch nicht kennen, das essen anderer Lebewesen anzu erziehen finde ich schlecht.
Die Armut hat auch positives, was der Luxusverwöhnte in einer gewissen arroganz nicht anerkennen möchte. Er sollte von den vegetarischen Kindern lernen; und sie nicht verderben; auch wenn es dem Pastor Gábor Iványi normal erscheint Fleisch zu essen. Kain erschlug seinen Bruder Abel, nachdem der Leztere; d.h. Abel, Tiere geschlachtet hatte.
Nachtrag: Von jedem Baum darfst du essen.....

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