"Irre sind menschlich": Titel chrismon November
Foto: Djamilla Grossmann; Illustration: Lisa Fernges
"Irre sind menschlich": chrismon bei "Schlagzeile des Jahres" ausgezeichnet
"Irre sind menschlich" ist die zweitbeste Schlagzeile des Jahres. Auf dem ersten Platz – mit einem Punkt Vorsprung – steht Focus und "Macht. Wahn. Erdogan."
25.11.2016

"Irre sind menschlich", die Titelzeile unserer November-Ausgabe, ist die zweitbeste Schlagzeile des Jahres. Auf dem ersten Platz – mit einem Punkt Vorsprung – steht "Macht. Wahn. Erdogan." von "Focus" (23. Juli 2016).

Irre sind menschlich

###drp|3eOgPcmu6bpYO9ljcpmj7eKL00156127|i-40|Foto: Djamilla Grossmann|###Psychiatrie gilt als gruseliger, als schlimmer Ort, überall Zwang und Wahn. Oberärztin Lieselotte Mahler will auf ihrer Station möglichst ohne Beton­spritze und Fesselung auskommen. Ob das geht? Unsere Reporterin hat beim Besuch ein engagiertes Team kennengelernt – und temperamentvolle Schizophrene

Die chrismon-Schlagzeile vom November hat die Unterzeile: "Lieselotte Mahler will den Psychotikern auf ihrer Station freundlich begegnen. Das geht! Meistens". Für die Reportage hat chrismon-Chefreporterin Christine Holch eine Woche lang in derPsychiatrischen Universitätsklinik der Charité im St.-Hedwig-Krankenhaus recherchiert (Hier die ganze Geschichte "Eine heftige Woche: Psychiatrie ohne Gewalt und Zwang - geht das?").

"Macht. Wahn. Erdogan." beschreibe kurz und prägnant die aktuelle Lage in der Türkei, heißt es in der Pressemitteilung. Den dritten Platz belegt "Schüttelfrost" der "Süddeutschen Zeitung" über die Probleme muslimischer Männer, Frauen die Hand zu geben. Insgesamt gingen 74 Vorschläge aus 22 Zeitungen und Zeitschriften ein. Alle prämierten Schlagzeilen und Medien können Sie hier nachlesen.

Ausgezeichnet wurden auch „Gauck geht. Gut“ ("Spiegel Online"), "Riester Ente" der "Süddeutschen Zeitung", "Der liegende Holländer“ der Berliner "Welt" über den niederländischen Fußballstar Arjen Robben und dessen Tendenz, im Strafraum gerne hinzufallen. Der "Verein Deutsche Sprache" kürt seit 2010 jährlich die "Schlagzeile des Jahres". Die Jury besteht aus dem Journalisten und "Sprachpapst" Wolf Schneider, dem Tübinger Rhetorikprofessor Gert Ueding, dem Journalisten Franz Stark, den Sprachwissenschaftlern Helmut Glück aus Bamberg und Horst Haider Munske aus Erlangen sowie dem Dortmunder Wirtschaftsprofessor Walter Krämer, der auch Vorsitzender des Vereins Deutsche Sprache ist. Die erste "Schlagzeile des Jahres" gewann 2010 "Die Zeit" mit "Krieger, denk mal!".

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Seht geehrte Chrismon-Redaktion,

ich bin bestürzt, dass Sie sich mit der Auszeichnung des Titels „Irre sind menschlich“ brüsten und diese überhaupt an die Öffentlichkeit bringen. Eher sollte es Sie angesichts Ihrer christlichen Ausrichtung, die ein hohes ethisches Bewusstsein für Sprache voraussetzen muss, beschähmen einen solchen Titel in Erwägung zu ziehen. Natürlich muss ein Titel den Leser neugierig machen, aber „Irre sind menschlich“ geht eindeutig auf die Kosten der Betroffenen, weil sie für eine Provokation instrumentalisiert werden. Denn damit diesen Satz funktioniert, muss das Menschlich-Sein von Irren - objektiv ausgedrückt „psychisch Erkrankte“ - zunächst infrage gestellt sein. Und es ist keine humane Großzügigkeit, wenn man psychisch Erkrankten freundlich begegnet, sondern wie jedem anderen Kranken sollte es eine Selbstverständlichkeit sein. Immerhin ist eine psychische Erkrankung keine freigewählte Böswilligkeit.
Jeder würde sofort aufschreien, wenn Sie über Menschen mit einer körperlichen Behinderungen schrieben, diese seien menschlich. Aber warum gilt diese political correctness nicht auch für psychisch Erkrankte?
Die Bezeichnung „Irre“ ist eine veraltete und mittlerweile diskriminierende Bezeichnung von Psychose-Erkrankten, die der sehr guten und sachlichen Reportage von Frau Christine Holch überhaupt nicht gerecht wird.
Und noch ein kleiner Hinweis: Es ist formal-logisch nicht möglich zu sagen, Irre seien menschlich. Menschlich-Sein ist kein Prädikat des Menschen, sondern ein Existenzial. Menschen können nicht menschlich sein; sie sind es schon qua ihres Mensch-Seins. Man sagt ja auch nicht Blumen seien blumig, oder?
Ich bitte Sie sehr, sich bewusst zu werden, dass Sprache ein manipulatives, meinungsbeeinflussendes Instrument ist und Sie als christlich ausgerichtetes Magazin mit einer breiten Öffentlichkeit eine große Verantwortung für die Verwendung von Sprache tragen.

Mit freundlichen Grüßen!

T. Seidel

Hallo Frau Seidel, G.L. und Ines C.,

die Titelzeile wird in der Redaktion durchaus kontrovers diskutiert. Manche finden das Wortspiel mit dem legendären Buchtitel "Irren ist menschlich" von Klaus Dörner schön, andere schauen auf den Inhalt und sagen: Das stand doch nie zur Diskussion, dass  Menschen mit psychischen Erkrankungen menschlich sind!  In der Geschichte zu dieser Titelzeile geht es übrigens um ein anderes Thema: Geht Psychiatrie auch ohne Gewalt?

Herzliche Grüße
Christine Holch/Redaktion

Antwort auf von Christine Holch

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Kontroverse Debatten können sehr spannend sein, aber in dem Moment, da Sie in Haarspaltereien ausarten, wie in diesem Falle, wo es scheinbar nur noch um rhetorische Worthülsen geht, finde ich es angebracht, zu reflektieren, warum das so ist. Vielleicht in Zukunft abwägen, was wichtiger ist, der kontroverse Gehalt, oder der inhaltliche ? Frau Seidel hat recht, wenn sie von einer Provokation spricht.
Die Psychiatrie ist ein Ort, den man nicht verklären sollte, und nicht alle negativen Berichte sind falsch.
Und nirgendwo sonst ist der Patient der Willkür einer emphatischen Behandlung so ausgeliefert wie dort. Frau Seidel scheint mit ihrem Vorwurf, der Titel instrumentalisiere die Betroffenen für eine Provokation, ins Schwarze getroffen zu haben.
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Der Intellekt muss sich dem Schwachen beugen. Ähnliches steht auch in dem von mir zitierten Bibelvers Römer 8. 26-28 :
"Der aber die Herzen erforscht, der weiß, was des Geistes Sinnen sei; denn er vertritt die Heilgen, wie es Gott gefällt."

Antwort auf von Christine Holch

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Selbstverständlich ist die Feststellung, dass auch Irre menschlich sind, richtig. Was können denn "IRRE" dafür, dass sie geboren wurden? Irr zu sein ist eine bedauerliche natürliche Eigenschaft. Wer das nicht akzeptiert, der ist frei von jeglicher Toleranz und unseren ethischen Werten. Die Augen vor den Realitäten zu schließen ist typisch für die, die nur die heile Welt akzeptieren wollen. Psychiatrie, gänzlich ohne Gewalt, geht nicht. Schon das Einsperren ist Gewalt gegen die Freiheit. Aber was machen die "Weihrauchkinder" die, immer nur unbefleckte Persönlichkeiten wahr haben wollen, wenn ein starker junger "Auffälliger" randaliert? Er nicht nur sich selbst, sondern auch alle Anderen mit ihm in die größte Gefahr begibt? Dann ist das Kind im Brunnen und alle Schöngeistigen sparen dann nicht mit den Vorwürfen, wieso dass geschehen konnte. Etwas ganz anderes sind die literarischen Gremien, die sich um die Sprache und deren Inhalte bemühen. Grimme für Böhmermann ist pures Entsetzen und das Gegenteil von dem, was Ziel des Preises sein sollte. Dafür noch Bundesmittel? Nobelpreis für Bob Dylan? Das ist wie Zucker für den Affen, der dann noch auf die Gabe uriniert. Das wäre dann auch die Toleranz der Intoleranz.

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Ein furchtbares Thema, da hilft auch keine Auszeichnung darüber hinweg, dass man Menschen nicht dadurch helfen kann, dass man ihnen ihr ganzes Elend unumwunden vor Augen hält ! ich verstehe nicht, warum so etwas nötig ist.
Je stärker man jemand den Spiegel vorhält, desto stärker wird seine Abwehr gegen jede echte Hilfsmaßnahme. Schliesslich will man sich auch selber behelfen, dafür ist Mensch doch auf der Welt !
Im Umkehrschluss hilft es auch nicht, dem Bedürftigen alles vorweg zu nehmen, um zu zeigen, wie viel man alles tut, um zu helfen.
Die Depression ist tückisch. Offenbar sind Helfer und Helfershelfer ebenso betroffen.
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Ist es aber nicht interessant, dass es in Römer 8. 26-28 heißt, unter anderem :"Der aber die Herzen erforscht, der weiß, was des Geistes Sinnen sei; denn er vertritt die Heiligen , wie es Gott gefällt. "
Hier , wie in 2. Korinther 1 , 3-5 , geht es um Trost in Trübsal.
Von keinerlei Trübsal betroffen ist dagegen die Juri des Vereins der Deutschen Sprache.
Möge die gesunde, robuste deutsche Sprache und ihr schwächstes Organ, das Herz, Genesung erfahren !
Amen.

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