Michael Ondruch, Mihaela Ninic/plainpicture (M)
Unverdiente Liebe
Der Reformator fürchtete sich vor Teufel und Hölle. Davor hat doch heute kaum noch jemand Angst. Aber vielleicht vor etwas anderem
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
21.10.2014

Er litt über Jahre Höllenängste. Er fürchtete, Christus werde hart über sein sündiges Leben urteilen. Martin Luther begann ihn zu hassen. In Verfilmungen seines Lebens sieht man einen Mann Mitte zwanzig schweißüberströmt in seiner Zelle kauern und verzweifelt beten und flehen. „Ein ganz armseliges Mönch­lein, mehr einer Leiche als einem Menschen gleich“, so beschrieb er sich später im Rückblick.

Martin Luther hatte große Angst vor dem Jenseits - und wir? Pastor Henning Kiene von der EKD erläutert.


Als Luther einmal aus Furcht vor der geweihten Hostie fast zusammenbrach, beruhigte ihn sein Beichtvater: Vom Gott der Bibel habe er nichts zu fürchten, er sei über alle Maßen gnädig. Später fand Luther ­ dies beim Bibelstudium bestätigt. Er begann Gottes Gerechtigkeit als Geschenk zu verstehen: dass Gott für gerecht erklärt, nicht bloß Gerechtigkeit einfordert. – „Da hatte ich das Empfinden, ich sei geradezu von neuem geboren und durch geöffnete Tore in das Paradies selbst eingetreten.“ Begierig nahmen Millionen von Menschen Luthers scheinbar schlichte Erkenntnis auf.

Innerhalb weniger Monate geriet das Herrschaftsgefüge in Deutschland ins Wanken. Im Mittelalter lebten die Menschen eng zusammen, die soziale Kontrolle war groß, eine rigide Morallehre förderte die Neigung zu Schuldgefühlen. Zur Entlastung bot die Kirche Wallfahrten, Stiftungen und Ablässe an. Die wurden mit Luthers Erkenntnis weitgehend überflüssig.

Heutzutage versucht kaum jemand, dem Teufel durch Fasten, Selbstkasteiungen und Gebet beizukommen. Bevölkerungswachstum und technischer Fortschritt haben das Leben unüberschaubarer und anonymer gemacht. Dominierte zu Luthers Zeit die Angst vor Verdammnis, so trete heute eine andere Angst an ihre Stelle, sagte der Theo­loge Paul Tillich (1886–1965), die Angst vor Sinnlosigkeit: wenn man eigenen oder fremden Erwartungen nicht gerecht wird, im Beruf scheitert oder der Erfolg nicht mehr erfüllt. Wenn einen alte seelische Verletzungen einholen, die Ehe zum Alptraum wird oder sich das Lebensglück als hohl erweist. Im schlimms­ten Fall fehlt plötzlich jeglicher Antrieb, den Tag zu überstehen.

An die Stelle religiöser Geschäftigkeit ist innerweltliche Betriebsamkeit getreten, der Kampf, eigenen und fremden Ansprüchen zu genügen. So mühsam sich bei Luther die Erkenntnis des gnädigen Gottes durchsetzte, so mühsam kommt beim modernen Menschen die schlichte Gewissheit an: Du bist geliebt, du musst nichts dafür tun. Schien für Luther der gnädige Gott erst unvorstellbar, so ist für viele moderne Menschen fraglich, ob überhaupt ein Gott existiert – womit manchem unklar bleibt: Wer könnte mich dann noch lieben?

###autor### Luthers Glaubensgewissheit ist nach inneren Kämpfen herangereift: „Ich selbst bin mehr als einmal bis zum Abgrund und zur Hölle der Verzweiflung erschüttert gewesen“, schrieb er, „so dass ich sogar wünschte, ich wäre nie als Mensch geschaffen worden, ehe ich denn wusste, wie heilsam eine solche Verzweiflung ist und wie nahe der Gnade.“ Ihm zufolge begegnet ein Mensch Gott, wenn er jede selbstgeschaffene Sicherheit um sich ­herum verloren hat.

Viele Suchtkranke, die dem Griff ihrer Sucht entkommen konnten, bestätigen ­diese Erfahrung. Aus ihrer Alkohol- oder Drogenabhängigkeit wissen sie, was es bedeutet, Glück herbeizuzwingen und die Angst vor Niederlagen zu betäuben. Und dass sie dem Teufelskreis der Sucht nur entrinnen können, wenn sie ihre Macht­losigkeit anerkennen.

Die Erfahrung Suchtkranker ist beispielhaft für die anderer Menschen. Niemand attestiert sich gern, dass er sein ­Leben nicht mehr meistern kann. Den Mut, sich dem Scherbenhaufen der eigenen Biografie zu stellen, ihn nicht kleinzureden oder zu verdrängen, kann man sich nicht einreden. In der Erfahrung von Ohnmacht kommt er von allein. Dann wird ein Mensch offen dafür, dass es tatsächlich eine Macht gibt, die größer ist als er selbst. Wer diesen Mut spürt, muss nicht länger Erwartungen erfüllen. Er wird frei, einfach nur das Richtige zu tun.
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Heute quält eine undefinierbare Angst viele Menschen. Sie suchen unbewusst nach dem Sinn des Lebens.
Es "ist die Angst von Sinnlosigkeit: wenn man eigenen oder fremden Erwartungen nicht gerecht wird."
Mit kognitiven Glaubenssymbolen, wie z. B. das Glaubensbekenntnis der Liturgie aus dem Beschluss von Nizäa (381), ist nur ein obligatorischer Glaube an Gott zu vermitteln.
Dazu sagt Paul Tillich: "Ein Protestantismus, in dem Meditation und Kontemplation, Ekstase und - mystische Vereinigung keinen Raum mehr haben, hat aufgehört Religion zu sein; er ist zu einem intellektuellen und moralischen System in traditionellen religiösen Begriffen geworden."
Das ist das Gebot der aktuellen Situation des Protestantismus: Meditation / Kontemplation.
Das SEIN Gottes wirkt in dem Menschen und durch den Menschen in dieser Welt.
Man muss es nur zulassen.
Das geschieht in der Meditation: Die Gotteserfahrung / Gotteserkenntnis.
Sie tritt in das Bewusstsein des Menschen.
"Dann wird ein Mensch offen dafür, dass es tätsächlich eine Macht gibt, die größer ist als er selbst."
Dazu Ps. 46, 11: Seid stille und erkennet. dass ich Gott bin.

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Ein sehr guter seesorgerlicher Artikel, Herr Weitz!
Aus dem Text zitiert: [...die Angst vor Sinnlosigkeit: wenn man eigenen oder fremden Erwartungen nicht gerecht wird, im Beruf scheitert oder den Erfolg nicht mehr erfüllt.] Ja, genauso ist das Leben bei einzelnen Christenmenschen und Nichtchristen, wenn sie die Sinnlosigkeit gepackt hat.

Außerdem kann kein Mensch das "Glück herbeizwingen".
Auch nicht wenn man die Bibel falsch interpretiert und aus dem Zusammenhang reißt.

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Zitat: Das geschieht in der Meditation: Die Gotteserfahrung / Gotteserkenntnis.
Sie tritt in das Bewusstsein des Menschen.
"Dann wird ein Mensch offen dafür, dass es tätsächlich eine Macht gibt, die größer ist als er selbst." Zitatende

Darf der Mensch alles, was er kann? NEIN!! Er darf nicht!! Und da liegt die Gefahr. Immer wenn der Mensch in die Natur eingegriffen hat, ist es irgendwie schief gegangen.

Ja, es ist richtig. Krankheiten werden beherrschbar. Und das ist gut. Durch die Beherrschbarkeit der Krankheiten wird das Leben verlängert. Auch das ist gut.

Wir sollten aber nicht vergessen, wem wir das Ganze zu verdanken haben. "Es gibt eine Macht, die größer ist, als er [der Mensch] selbst." GOTT. Und dem sollten wir täglich danken.

Und um auch das klar zu sagen: Die Amtskirchen sind nicht Gott. Weder in Hannover (EKD) noch [oder erst recht nicht] in Rom Papst und nicht zuletzt die Kurie). Sie sollen hinführen zu GOTT. Durch ihre Pfarrerinnen und Pfarrer und durch die Gemeinden vor Ort.

Derzeit gelingt das nur mäßig weil beide Kirchen sich in die Fänge derer begeben haben, die Jesus Christus aus dem Tempel gejagt hat. Es wird dauern, bis sie sich davon befreit haben.

Die Wirtschaftsleute zwängen die Kirchen in ein Organigramm. Sie kriegen es nicht gesagt und sie würden es wohl auch nicht verstehen: Vater, Sohn und heiliger Geist lassen sich in kein Organigramm zwängen.

>Es gibt tatsächlich eine Macht, die größer ist, als der Mensch mit allem seinem Geld und mit allem seinem Wissen.<

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Humanität ist wichtiger als Legalismus und Dogmatismus!

Im obigen Artikel heißt es:
„Der Reformator fürchtete sich vor Teufel und Hölle. Davor hat doch heute kaum noch jemand Angst.“

Meine Angst besteht heute darin, dass ich mit großer Sorge beobachte, wie fundamentale Kräfte in alle Religionen ihre Religion durch den von ihnen proklamierten Wahrheits-Monopolanspruch missbrauchen!

Gottes Liebe, Barmherzigkeit und Menschlichkeit ist größer als alle Maßstäbe, die eine von Menschen formulierte Naturlehre zum Ausdruck zu bringen vermag. Ein jeder, der für sich gegenüber einem religiös Andersdenkenden das Recht beansprucht, etwas nicht „im Namen Jesu´“ verkünden zu dürfen, ist Gefangener eines religiösen Bildnisses, das Andersglaubende als Außenseiter definiert bzw. als religiös minderwertiger deklariert – versehen mit dem Stempel des religiösen Irrglaubens und der Häresie. Eine solche Person sitzt in ihrem „Glaubens-Mausoleum“ und versucht – wie zynisch und antijesuanisch ist das! – Glaubenswissen zu verteidigen, das für „seine Person“ vielleicht hilfreich sein mag zur Gestaltung seines Alltages, jedoch verbietet es sich, diese persönliche Glaubenssicht mit einem unumstößlichen Wahrheitsanspruch zu versehen, also seine eigenen Glaubenssätze zu einer norma normans auszugestalten!

All diejenigen, die mit einem Ausschließlichkeits- bzw. Endgültigkeitswissen bzw. –glauben daherkommen, haben sich ein „Bildnis“ gemacht. Doch spätestens seit M. Frisch wissen wir, dass wir uns kein Bildnis machen sollen, da diese Bildnis nur dazu dienst, unsere eigenen Maßstäbe anderen aufzuoktroyieren, andere Menschen zu diskriminieren, sie im Endeffekt ihrer menschlichen Würde zu berauben mit dem Ziel der Auslöschung ihrer Existenz. Die „Andorra“-Erfahrung ist nicht nur eine, die auf den zwischenmenschlichen Bereich, sondern auch auf den religiösen Bereich anzuwenden ist: Vor-Urteile tragen nicht nur den Kern des Inhumanen in sich
Für Jesus ist der Wille Gottes nicht einfach identisch mit dem geschriebenen Gesetz und erst recht nicht identisch mit dem der das Gesetz auslegenden Tradition. Jesus hat sich immer einem blinden Legalismus widersetzt. So sehr das Gesetz den Willen Gottes künden kann, so sehr kann es – darauf hat Jesus immer wieder aufmerksam gemacht – auch Mittel sein, um sich hinter ihm gegen Gottes Willen zu verschanzen.

Gott begegnet mir – nicht ausschließlich, aber weil ich selber Mensch bin, primär – im Mitmenschen und erwartet dort meine Hingabe.

Die Sache Gottes ist nicht das Gesetz, sondern der Mensch. Der Mensch tritt an die Stelle der verabsolutierten Gesetzesordnung. Humanität ist wichtiger als Legalismus und Dogmatismus. Die Verletzung der Humanität des Menschen versperrt den Weg zum wahren Gottesdienst. Zwar ersetzt der Menschendienst nicht den Gottesdienst. Aber der Gottesdienst entschuldigt nie vom Menschendienst: Er bewährt sich im Menschendienst. Echter Gottesdienst ist auch immer schon Menschendienst und echter Menschendienst ist immer auch schon Gottesdienst.

Paul Haverkamp, Lingen

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