Klaas Neumann
Ist dabei sein alles?
Behinderte und Nichtbehinderte im selben Unterricht: Winfried Böhm sagt, warum der Weg dahin weit, aber lohnend ist

Sie ist zu einem politischen Kampfbegriff geworden, die inklusive Schule. Seit Einführung der allgemeinen Schulpflicht Ende des 18. Jahrhunderts hat kaum ein anderes pädagogisches Thema die Gemüter von Eltern, Lehrern und Politikern so stark erregt wie der gegenwärtige Streit um den gemeinsamen Unterricht von Behinderten und Nichtbehinderten. Nach Meinung der saarländischen Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer ist es das am meisten polarisierende Thema in der aktuellen innen­politischen Diskussion. Inklusion war uns als Begriff bis vor kurzem nur aus der Mengenlehre und aus der Mineralogie bekannt.

Die einen beargwöhnen das Projekt als einen verkappten Sparversuch der Politik oder als Revolution von oben, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Anderen gilt Inklusion als infamer Versuch, Unterschiede dadurch zu beseitigen, dass man sie nicht mehr als solche benennt – wenn Geschlecht, Alter und Intelligenz nur ­bloße Zuschreibungen sind, dann soll das auch für Behinderungen gelten. Eltern treibt die Sorge um, ihre begabten Sprösslinge könnten durch Kinder mit Behinderungen in derselben Klasse im ­eigenen Lernen beeinträchtigt werden. Eltern von Kindern mit Behinderungen ihrerseits fordern das Recht ein, diese in die Regelschule einschulen zu dürfen – auch in ein Gymnasium und selbst, wenn schwerste Behinderungen vorliegen. Man könnte es, etwas bösartig, so zusammenfassen: Dabei sein ist alles.

Der Eindruck ist entstanden, es handele sich bei der Inklusion um etwas ganz und gar Neues, das jäh und unerwartet über uns gekommen ist. Das ist es aber nicht. Die Bemühungen um ein inklusives Schulsystem in Deutschland wurden ausgelöst durch die sogenannte UN-Behindertenrechtskonvention, am 13. Dezem­ber 2006 von der Vollversammlung der Vereinten Nationen beschlossen, 2008 von Deutschem Bundestag und Bundesrat einstimmig (!) angenommen und seit dem 26. März 2009 als Gesetz bindend geworden. Das vorbehaltlose Ja des Gesetzgebers kann nicht verwundern, denn die Konvention steht in der Tradition der Menschenrechte, wie sie 1945 in der Charta der Vereinten Nationen niedergeschrieben und 1948 in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verkündet wurden. Und dem müssen nun Taten folgen.

Es geht um nichts weniger als um die Menschenwürde. Genau zu der Zeit, als sich Kolumbus aufmachte, Amerika zu entdecken, schrieb in Italien ein 23-jähriger Universalgelehrter namens Gio­vanni Pico della Mirandola seine epochemachende Rede „Über die Würde des Menschen“ – und das bereits 300 Jahre vor den Schlüssel­texten der Aufklärung. Sie gilt bis heute als ein Initialtext des Menschenrechtsgedankens und – damit sind wir wieder bei der Pädagogik – als die Geburtsurkunde der pädagogischen Lehre vom Menschen. Darin lässt Pico in einer programmatischen Rede Gottvater zum ersten Menschen sprechen: Er habe ihm kein bestimmtes Aussehen und keine bestimmten Gaben verliehen, „damit du wie dein eigener ... schöpferischer Bildhauer dich selbst zu der Gestalt ausformst, die du bevorzugst“. Das darf und muss man als ein Plädoyer für Individualität lesen. Viele Denker in der Nachfolge des italienischen Gelehrten haben die größte Missachtung des Menschen darin gesehen, wenn er als Person geleugnet und als Sache verdinglicht wurde.

Es ist ein feiner, keineswegs kleiner Unterschied, wie man die Worte betont: „Jeder MENSCH ist Person.“ Oder: „JEDER Mensch ist Person.“ Ein Unterschied, der mir als junger Student in einer Philosophievorlesung begegnete, und er leuchtet mir auch heute im Zusammenhang der inklusiven Schule ein. Dass sie Person sind, darin stimmen alle Menschen überein. Es gilt aber auch: Jeder einzelne Mensch ist auf seine ganz individuelle Weise Person, einmalig und von allen anderen verschieden. Jeder Mensch hat deshalb darauf Anspruch, als Person in seiner Unterschiedlichkeit anerkannt und geachtet zu werden. Auch jetzt, im Zusammenhang mit der inklusiven Schule, zeigt sich: Nur wenn man beide Aspekte zusammendenkt, macht der Begriff der Inklusion überhaupt Sinn – ungeachtet aller Probleme und Schwierig­keiten, die sich auftun, wenn man Inklu­sion in der Schule auf Biegen oder Brechen durchsetzen möchte.

Den Weg dorthin säumen Missverständnisse. Ein erstes und recht vordergründiges: Inklusion bedinge einen stets gemeinsamen und gleichen Unterricht für alle und das ständige zwanghafte Zusammensein aller in ein und demselben Klassenraum. Das würde (zumindest kurz- oder mittelfristig) nicht nur die strukturellen Möglichkeiten von Schule und Lehrpersonal überfordern, sondern erst recht die Kinder und Jugendlichen – jene mit Behinderung genauso wie jene ohne Behinderung. Daher ist in der UN-Konvention davon auch keine Rede; sie sieht besondere Fördermaßnahmen und Förderorte für besondere Förderung Bedürftiger ausdrücklich vor; die Abschaffung von Sonder- und Förderschulen ist dort nicht vorgegeben, schon gar nicht die sofortige. Andererseits lässt sich freilich das Nebeneinander von Regel- und Sonderschulen, wie es heute besteht, nur schwerlich länger als ein inklusives Schulsystem bezeichnen.

Kurzfristig kann man bei der Lehrerausbildung nur flickschustern

Ein zweites Missverständnis: Eine inklusive Schule zu schaffen sei eine rein organisatorische Angelegenheit. Das Gegenteil ist der Fall. Sie setzt zuallererst ein radikales Umdenken im Kopf und – wenn man es nicht als bloße Sentimentalität abtun will – auch eine Umwendung im Herzen von Erziehern, Lehrern, Schulverwaltungsleuten und Eltern voraus. Wessen Kopf nur voll ist von Leistungsnormen, Standardisierungen, Qualifikationen und Kompetenzen und wessen Herz nur an Leistungswettbewerben, Prüfungen, Examina und Evaluationen hängt, ist auf Inklusion nicht eingestimmt oder dafür zumindest falsch gepolt. Was zuvörderst nottut, ist das neue Leitbild einer „Schule der Person“.

Aber so richtig das zweifellos ist, erläge man leicht einem dritten und sehr verhängnisvollen Missverständnis, würde man nicht penibel in Rechnung stellen, welche immensen und kostspieligen Veränderungen notwendig sind, wenn Inklusion gelingen soll. Das be­ginnt bei den Gebäuden und Räumen, geht weiter damit, zur Inklusion fähige Lehrer­innen und Lehrer zu rekrutieren und auszubilden und endet damit, eine inklusive Bildungstheorie neu zu formulieren. Dass eine inklusive Schule hundertprozentig barrierefrei zu sein hätte, müsste selbstverständlich sein. Wie auch, dass neben den üblichen Klassenzimmern auch Räume für spezielle pädagogische Zuwendungen, für die intensive Betreuung einzelner Schüler und für den möglichen Rückzug aus einer als Fessel empfundenen Inkludierung (zu Deutsch: Einschließung) bereitgestellt werden müssen. Die traditionelle Lehrerausbildung erfolgt – grob gesagt – regelschulorientiert, abgekoppelt von der Ausbildung der Sonderschul- und Förderlehrer. Das wird sich so nicht aufrechterhalten lassen. Kurz­fristig kann man hier nur flickschustern und schnelle Zusatzkurse anbieten.

Auf Dauer wird es notwendig sein, die gesamte Lehrerausbildung gesetzlich und inhaltlich neu zu strukturieren. Am Ende muss die inklusive Lehrerbildung stehen. Dazu gehört auch eine neu formulierte ­Bildungstheorie, die nicht allein die aufklärerischen Aspekte der kognitiven Leistung und der intellektuellen Mündigkeit berücksichtigt, sondern auch die personalen Momente einbezieht: den Körper, Emotionen, Affekte, die Sensibilität der Schüler. Auch die Themen Pflege und Sorge gehören dazu.

In einer solchen Bildungstheorie können die pädagogischen Maßgaben nicht allein Wettbewerb, Konkurrenz und Marktorientierung sein, sondern auch Teilnahme, gegenseitige Anerkennung und die Achtung der Person in all ihrer Unterschiedlichkeit. Bis auf weiteres muss gelten: Dabei sein ist viel, aber es ist, für sich allein genommen, bei weitem nicht alles.

Sehr geehrter Herr Böhm, aus meiner Sicht als Lehrer von Kindern mit schweren und schwersten seelischen Beeinträchtigungen komme ich zu dem Ergebnis, dass Sie mit Ihrem Beitrag wesentlichen Aspekte der "neuen" Pädagogik der Inklusion erfasst haben. Dafür herzlichen Dank! Gelebte Inklusion erfordert einen Wechsel im Denken, Fühlen und Handeln. Inklusion "von oben" wird nicht funktionieren. Inklusion "von unten" kann funktionieren und sie funktioniert auch. Dafür gibt es viele Beispiele! Leider fehlt in Ihrem Aufsatz der Hinweis, dass es in Deutschland bereits seit den sechziger Jahren eine erfolgreiche "inklusive" pädagogische Praxis gibt. Ich denke da zum Beispiel an die Montessori-Schule von Professor Hellbrügge in München (Aktion Sonnenschein), die damals gegen massiven Widerstand durchgesetzt wurde. Es fehlt weiter der Hinweis, dass Deutschland durch die Ausgrenzung und Ermordung behinderter Kinder in der Zeit des Nationalsozialismus bis heute mit einer Schuld lebt, die schwer wiegt und die unterschwellig jeden Versuch einer Veränderung der Strukturen im System von Schule, Jugendhilfe und Medizin beeinflusst. Drittens fehlt der Hinweis darauf, dass unser Bildungssystem bis heute auf absolutistischen und mechanistischen Überlegungen des 17. Jahrhunderts beruht, die nur überwunden werden können, wenn sich Lehrer, Eltern, Schüler, Politiker und Verwaltungsleute der Wirksamkeit dieses Modells des Lehrens und Lernens bewusst werden und an ihrer Überwindung arbeiten. Erst wenn das geschieht, kann Inklusion gelingen. Es geht also nicht nur um das Bild vom Menschen, sondern auch um das Bild der Gesellschaft, in der wir leben wollen und leben können. Mit freundlichen und dankbaren Grüßen! Martin Schieder

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Offenbar lebt der Emeritus so weit außerhalb deutscher Schul-Realität, dass er Ideologien für Lebensumstände hält. Wir hatten ein gutes förderndes Schul-System für Menschen mit Schwierigkeiten zu lernen mit hochkompetenten und engagierten Lehrern. Dort hätten mehr Menschen mit Lernschwierigkeiten inkludiert werden können.
Die einzige Konsequenz, die PolitikerInnen aus dem Inklusions-Paradigma ziehen ist: dieses System zu zerstören. Wir werden mehr autistische Kinder haben, die in Schulbussen und Klassenräumen vergessen werden, wir werden mehr von emotional gestörten Mitschülern Verletzte und Attakierte haben. Wenn diese sich wehren, werden wir mehr Gewalt, Unruhe und Lärm in den ohnehin schon miserablen Lernumgebungen aka Unterricht generieren. Was wir nicht haben werden: SchülerInnen, die mehr lernen können, um an gesellschaftlichen Prozessen teilzuhaben. Der Luhmann-Schüler Stichweh nennt das: die exkludierenden Komponenten von oben verordneter Inklusion. Bei diesem Nicht-Lernen werden dann allerdings Behinderte und Nicht-Behinderte Lernende gleichermaßen betroffen sein.
Niklas Luhmann hatte nicht viel übrig für die "Bildung" -wie vor ihm schon die Intellektuelle und sechsfache Mutter Bettina von Arnim.
Gut, dass es die digitale Revolution gibt und Wissen jedem an fast jedem Ort zugänglich ist. Wer lernen will, kann das in Eigeninitiative tun: hacking education. Schulen werden in Zukunft skurille Orte spätsozialistischer Sozialingenieure, die immer noch versuchen George Orwells "Animal farm" nachzuspielen. Denn Schulkonzepte haben nachweislich noch nie signifikante Einflüsse auf das Lernen und die Leistung von Schülern gehabt. Pädagogik ist seit dem 18. Jahrhundert schwer überbewertet. Ein Pädagogik-Professor sollte das wissen.

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Zitat: "Es geht um nichts weniger als um die Menschenwürde".

Der Satz für sich allein ist unumstößlich. Allein mir fehlt der Glaube, dass dieser Satz zwischen Minderjährigen im "Klassen"-Kampf einer Schule am richtigen Platz ist. Kinder sind altersabhängig grausam. Im Immigrantenmilieu noch mehr. Das wissen alle Eltern, sofern sie ihre Kinder auch einmal kritisch betrachten. Sind die Eltern nicht allgegenwärtig und keine Aufsichtsperson als Aufpasser und Schlichter verfügbar, können auch die bravsten Kinder gegenüber Schwächeren sehr ausfällig werden. Körperlich Schwächere haben dann immer noch die Chance, durch Lernleistung die Angriffe zu kompensieren. Ein bisher wohlbehütetes behindertes Kind, dessen Behinderung es noch zulässt, zwischen den Zeilen und den Bruchstücken von Gesprächsfetzten zu verstehen, läuft Gefahr, zutiefst verletzt zu werden. Und das immer wieder aufs neue. Wenn es dann noch merkt, dass es den Lernfortschritt in der Klasse nicht begleiten kann, wird die Behinderung verinnerlicht. Auch die Lehrer, die einen kleinen Teil der Klasse über das normale Maß hinaus belehren müssen, sind überfordert. Zumal dann der normal lernende Teil der Klasse sehr schnell täglich die Unterschiede vorgeführt bekommen wird. Um diese wachsenden Lernunterschiede zu kaschieren, wird dann die Versetzungshürde abgeschafft. Das Ergebnis ist eine Form der Diskriminierung, die subtiler nicht sein kann. Da haben die Förderschulen in der Vergangenheit eine wesentlich bessere Arbeit leisten können. Die Menschenwürde der psychisch Behinderten wird mit einer lupenreinen Inklusion eher geschädigt als gefördert.

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" Es geht um die Menschenwürde. " Die Pädagogik als Wissensdisziplin mit ihren Erkenntnissen ist das eine, und deren Umsetzung in die Praxis, das andere, dazwischen liegt das ganze Menschsein, inklusive der persönlichen Gedanken, der persönlichen Mängel. Das Ergebnis und der Weg, Ziel und Ideal, all das der Schule anzulasten, ist schlicht unmöglich und lediglich falsch verstandener Ehrgeiz, Politikum, wie es der Autor, Prof. Böhm, ja auch betont.
Martin Schieder, ohne, dass ich mich näher mit dem pädagogischen Thema befasst habe, Montessori ist mir dennoch sehr wohl ein Begriff. Inklusion und Gesellschaft scheinen mir aber heute viel weiter von einer positiven Entwicklung entfernt zu sein, denn je, aber es ist von Vorteil, dass auf dieser christlichen Basis die Chance besteht, das Thema zu erörtern und vielleicht auch ein wenig voran zu treiben. Was unter dem Begriff Bildung allgemein bekannt ist, ist nichts anderes als reines Leistungsdenken, diktiert durch Prestige, Schein, Privileg, ausgerichtet auf gesellschaftlichen Vorteil. Hier Inklusion zu verankern, klingt halsbrecherisch. Spreu vom Weizen zu trennen gelingt am besten, wenn man differenziert, und Kopf und Herz als zwei unterschiedliche Organe eines einzigen Organismus oder Systems betrachtet.
Menschenwürde erreicht man nicht dadurch, dass man Gleichheit zu erzwingen versucht, sondern indem man Unterschiede achtet und beachtet, ohne zu diskriminieren. Dieser Punkt wird, glaube ich,
hier diskret vermieden. Stattdessen fallen einem Horrovisionen ein, siehe anderer Kommentar. Ich will damit auch auf ein besonderes Phänomen aufmerksam machen, nämlich die Suche nach einem gemeinsamen Nenner für die Unmöglichkeit des Möglich Scheinenden auf religiösem Boden, dem Ideal der vollkommenen Erfüllung beispielsweise. Es scheitert an der menschlichen Unfähigkeit , Mensch zu sein. -------------------------------
Was nicht heißen soll, man solle die Bestrebungen, Kopf und Herz zu verbinden, auch auf dem Boden der Inklusion, unterlassen, im Gegenteil, er ist "lohnend", sich weiter darum zu bemühen.

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Ockenga schrieb am 11. Oktober 2014 um 23:31: "Die Menschenwürde der psychisch Behinderten wird mit einer lupenreinen Inklusion eher geschädigt als gefördert." Zu den gefährlichen ideologischen Irrtümern, die mit den Begriffen "Menschenwürde" und "psychisch Behinderte" einhergehen, äußere ich mich jetzt nicht. Hinweisen möchte ich aber darauf, dass dieses Forum, das schon lange massive Inklusion betreibt, doch anzeigt, dass das Internet ganz neue Wege der Einbindung zu bieten hat. Früher musste mancher Zeitgenosse beliebigen Geschlechtes in ambulanter oder stationärer Behandlung bedrückt und einsam versauern. Heute kann er oder sie regelmäßig zur Tastatur greifen und zu hoher Produktivität auflaufen. Diejenigen, die keine Psychospiele, sondern Diskussion im Sinn haben, können sich immer neu überlegen, ob sie weinen, lachen, antworten oder schweigen sollen. Das hat doch für alle Seiten seinen eigenen Reiz!

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Es ist der Entwicklungsprozess in den Köpfen von Pädagogen, auf den es ankommt, aber zu einem erheblichen Teil geht es auch um „Besitzstandswahrung“. Ein gerade erlebtes Beispiel: Ein Kind in der Grundschule stört den Unterricht permanent durch spontane Äußerungen, Umherlaufen und letztlich auch durch Streit mit anderen Kindern. Da die Familie des Kindes bereits vom Jugendamt betreut wird, kommt alsbald der Vorschlag von dieser Seite, das Kind doch in die „Schule für Erziehungshilfe“ wechseln zu lassen. Die Eltern wehren sich zunächst, doch ihrem Wunsch, dem Kind eine Integrationshilfe in der Grundschule vor Ort zur Seite zu stellen, wird nicht entsprochen und da das Kind sich gemobbt fühlt, einige Lehrer und der Rektor sich mit Hilfe des Jugendamtes gegen die Integration stellen, sind bald alle für den Schulwechsel. Nur ist damit das eigentliche Problem, die fehlende Impulskontrolle beim Kind, noch nicht behoben und nach kurzer Zeit wieder Thema, jetzt in sogenannten „Kontraktgesprächen“.
Nun muss man wissen, dass es sich bei der geschilderten Problematik des Kindes um etwas handelt, das intensive Begleitung erfordert, um eine Verbesserung zu erreichen und mit einer Integrationshilfe an der Seite des Kindes eigentlich bestens versorgt gewesen wäre: Es muss, am sinnvollsten während des Schul-Alltags, Impulskontrolle regelrecht trainiert werden. Eine Integrationshilfe ist aber in einer Sonderschule kaum zu bekommen, da die besondere Ausstattung ja Hilfe genug sein muss. Und eigentlich wäre davon auszugehen, dass damit alle zufrieden sein könnten. Doch wie war das gleich mit dem Lernen miteinander und voneinander? Richtig: In einer Schule, in die ausschließlich Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten gehen, sind die Lehrer vor allem damit beschäftigt, den Kindern theoretisch zu vermitteln, was die Kinder nie real kennenlernen: Der höfliche Umgang mit Auseinandersetzung auf verbale Art. Und weil das nun wirklich alles sehr schwierig ist, braucht es noch Sondergruppen, Einzelbetreuung, Familienhilfe und, und, und. Eine wahre Job-Börse für Sozialpädagogen. Umgeben von lauter Pädagogen erfährt das achtjährige Kind immer wieder in gerichtsähnlichen Sitzungen, dass Erwachsene Probleme mit Unterschriften auf von ihnen verfassten „Verträgen“ vorgeben zu lösen. Vor dem Wechsel in diese Einrichtung, hatte das Kind aber erfahren, dass es nicht in die gleiche Schule gehen darf, wie die Nachbarskinder - auch als eine Problemlösung von Erwachsenen.
Kritik an diesem System, das Integration, Inklusion und gemeinsames Lernen einfach nicht zulassen will, prallt nicht nur ab an der fehlenden Flexibilität der Lehrkörper, einer überbesorgten Elternschaft und der Machtlosigkeit der Betroffenen, sondern auch an der Allmacht des Jugendamtes und vielleicht noch anderer Behörden.
Wie soll die Inklusion/Integration behinderter Kinder in den Regelschulen gelingen, wenn schon Kinder ohne einschränkende Bewegungs- und Lernvoraussetzungen nicht willkommen sind und dort keine Hilfe erfahren. Karlheinz Barth schreibt etwa im Jahr 2000 in „Lernschwächen früh erkennen im Vorschul- und Grundschulalter: „Es wäre paradox, würde man auf der einen Seite behinderten Kindern den Zugang zur Grundschule ermöglichen, auf der anderen Seite aber den nicht schulreifen Kindern diesen Zugang verwehren.“ Das Zitat habe ich zwar etwas aus dem Zusammenhang genommen, aber letztendlich sagt es zusammengefasst aus, dass unser Schulsystem keine Angebote machen kann und will für jegliche Bedürfnisse individueller Art und daher wird die Frage wie Inklusion und Integration gelingen kann, noch für sehr lange Zeit auf taube Ohren stoßen.
Als Schülerin habe ich mich oft gefragt, ob es nicht anders gehen kann, als Kinder auszugrenzen; als junge Erwachsene habe ich mir geschworen, dass meine Kinder ein anderes Schulsystem bekommen werden; jetzt bin ich Großmutter, bald Urgroßmutter, und ich muss befürchten, dass es wieder nichts wird mit dem gemeinsamen Lernen.

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Herr Prof. Böhm,
wenn ihre Absichten nicht so gut gemeint wären, müßte Justitia die Form der 3 Affen haben. Aber auch dieser Dame sind die menschlichen Schwächen nicht fremd. Auch Justitia will alles sehen und deuten um dann Urteile zu fällen. Ihre Annahmen und Forderungen wären nur dann realistisch, wenn es keine menschlichen Schwächen aller Derjenigen gäbe, die an den Problemen beteiligt sind. Mich erinnert der idealistische Ansatz doch stark an die Forderung aller Pazifisten nach der totalen Wehrlosigkeit. Auch in diesem Fall wird das Gute um jeden Fall gefordert, auch wenn es sich letzlich ins Gegenteil verkehren könnte. Das Internet bietet ein Forum für alle "Versucherle", die niemals der Gefahr begegnen müssen, ihre Ideale der Grausamkeit der Realitäten auszusetzen. Wer will einem Ideal widersprechen ohne selbst Gefahr zu laufen, kein "Guter" zu sein? Um auf den vorhergehenden Beitrag einzugehen, es ist schrecklich, was ein gut gemeinter Idealismus alles anrichten kann. Ebenso schrecklich ist aber auch, wenn man unter Diskussion nur die Auseinandersetzung mit Meinungen versteht, die nicht im Wege stehen.

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