Joanna Nottebrock
Jenni Roth wohnt in einem Mietshaus in Berlin-Neukölln. Und wer wohnt da noch? Die chrismon-Autorin hat
einfach mal geklingelt. Das Ergebnis der Geschichte: vielleicht der Beginn einer wunderbaren Hausgemeinschaft
25.03.2014

Das Treppengeländer ist zwar schon etwas alters­schwach, dafür tanzen bei Sonnenschein ­grüne Lichtflecken über das abgegriffene Holz. Beste Kiezlage, eine frisch gestrichene Fassade, Stuck im Treppenhaus – das Haus, in dem ich wohne, kann sich sehen lassen. Aber Hausgemeinschaft? Pustekuchen: Keiner, der Pizza für alle bäckt oder zum Hoffest lädt. Ich habe das Gefühl, hier interessiert sich niemand für seinen Nächs­ten, den Nachbarn. Oder denkt das einfach jeder vom an­deren, und deshalb tut keiner den ersten Schritt?

Ich mache das jetzt mal. Ich werde einfach klopfen, klingeln, die Leute an der Haustür abfangen, irgendwas. Der erste Annäherungsversuch ist eher halbherzig, weil ich mir doch blöd vorkomme bei der Vorstellung, plötzlich bei jenen Leuten anzuklopfen, an denen ich mich seit Jahren mit einem vernuschelten „Hallo“ vorbeimogle. Also stelle ich mich einfach in den Hausflur und warte. Irgendwann geht unten die Haustür auf. Stimmen, ein Rumpeln – die Frau mit dem kleinen Kind.

Ich laufe ihnen entgegen, bleibe einen Treppenabsatz über ihr stehen und stückele ein paar Sätze zusammen. „Hallo, also ich wohne ja auch hier im Haus“, und dann noch, wer ich bin und was ich von ihr will: reinkommen, sie ausfragen, die Wohnung begutachten. Am besten samt Fotografin.

Jetzt weiß ich immerhin, wie ihr Freund heißt.

Offensichtlich klinge ich nicht ansteckend begeistert. „Medien­scheu“, sagte sie dann auch, das kleine Holzfahrrad unter dem Arm. Aber ja, sie werde mal drüber nachdenken. „Und ­Mario fragen.“ Jetzt weiß ich immerhin, wie ihr Freund heißt. Aber ich wüsste schon gern auch noch, wie die drei es schaffen, sich dieselbe Wohnung zu teilen, in der ich drei Stockwerke weiter oben allein lebe. Ich weiß, hinter welcher Tür sie verschwinden, habe aber keine Ahnung, wie sie wohnen geschweige denn leben. Einrichtung, Arbeit, Familie, Träume, Liebe?

Ein Samstag, 14 Uhr. „Jens Wohlrab“ steht auf dem Klingelschild schräg gegenüber. Auf das kurze Schrillen folgen Rufe von drinnen: „Hallo, hallo?“ Die Tür geht auf, erst gerade so weit, dass ein Kopf sich durch den Spalt schieben kann. Der Hals arbeitet sich aus den Schulterblättern nach oben und wird ganz lang, die Stirn legt sich in Falten, die Augen hinter der kleinen runden ­Brille sind zusammengekniffen. Ich denke: Ach so, das ist dieser kauzige Mittvierziger, der immer an einem vorüberhuscht. Ich mag ihn sofort – vielleicht auch wegen des schwarz-weiß gestreiften Bademantels mittags um zwei. Endlich zieht er die Tür ganz auf, ich schiele ein wenig neidisch auf den geräumigen Eingang und sage dann meinen Spruch auf. Es läuft schon viel besser als beim ersten Mal. Und Herr Wohlrab scheint aufzuwachen, mit jedem Wort gehen seine Augenschlitze einen Spalt weiter auf, und am Ende sagt er, na klar, wann immer. Bis bald!

Die Sache fängt an, Spaß zu machen. Und ich habe so eine Ahnung, dass aus meinem Vorhaben mehr entstehen könnte als ein Text. Vielleicht ein ganz neues Zusammenleben hinter dieser Hausfassade mit dem berühmten Balkon von Frau Blank.

Weil sie die "Mutti" ist...

Um Monika Blank kommt man nicht herum, wenn man von unserem Haus erzählen will. Weil sie die „Mutti“ ist im Haus, weil sie seit 30 Jahren hier wohnt und weil ihr eben dieser Balkon gehört, der in ganz Deutschland berühmt ist und auch schon mal in einer französischen Zeitung war. Er ist von so vielen tönernen Wesen bevölkert, dass die Passanten ihre liebe Not haben, das ganze Panorama aufs Foto zu kriegen. Je nach Jahreszeit gibt es die passende Erweiterung: Wichtel zu Weihnachten, Eier und Hasen zu Ostern, Flaggen zur Fußballweltmeisterschaft. Den „blanken Wahnsinn“ habe ich den Street-Art-Schaukasten getauft. Leider fehlt mir noch der Einblick in die zuge­hörige Wohnung. Bis jetzt musste ich mich mit kurzen Momentaufnahmen begnügen, wenn ich an der Tür klingelte, um nach Post zu fragen: Blanks sind eine zuverlässige Paketannahme- und Schlüsselherausgabestelle. Sie haben nicht nur einen außergewöhnlichen Geschmack, sondern offensichtlich auch viel Herz und Zeit – offizielle Öffnungszeiten: Montag bis Sonntag von 6 bis 23 Uhr.

„Ick jeh hier nich raus! Nur mit die Füße zuerst“

Ich mache einen Termin für elf Uhr am Vormittag. Monika Blank, 58, hört die Klingel nicht gleich, und später, als plötzlich die Hertha-Lok im Wohnzimmerregal schnaufend anfährt, verstehe ich, warum. Frau Blank seufzt: „Die soll eigentlich nur losjehn, wenn dit Handy klingelt.“ Und das klingelt fast so oft wie die Uhren, von denen 50 in allen Größen und Formen an der Wand hängen, vielleicht auch 60.

Auf Blick zwei, drei und vier sehe ich: zahllose Urkunden und Pokale vor, hinter und über dem Tresen im Esszimmer – ihr Mann Roger („der hat schon sieben Jahre mit mir durchgehalten“) ist mehrfacher Berliner Billardmeister. An den übrigen Wänden, der Decke, auf dem Boden und in Regalen: Uhren, Gewehre, Setzkästen, Bierkrüge, gut sortiertes Schmuckwerk („Ostereier 2001“ bis „Tischdekoration 24. 12. 2013“), Straßenschilder, Kinder- und Vogelfotos, ein Rollator, ein regenbogenfarbener Staubwedel, ­ein Kaninchen im Käfig, eine Pepsiflasche XL, ein voller Aschenbecher, viele Zigarettenschachteln.

Monika Blank nestelt mit ihren schwarz lackierten Nägeln an der Packung. Zu zweit schaffen sie fünf bis sechs am Tag. „Deshalb isset ooch so jut, dit hier so viel Zeuch hängt. Wenn man wat abhängen würde, müsste man sowieso wat drüber hängn, wejen die jelben Wände.“ Als ihr Sohn noch hier lebte, waren es sieben Schachteln. Sebastian wohnt seit ein paar Jahren in der Wohnung gegenüber.

Es gibt also Verbindungen im Haus

Da klingele ich jetzt gleich mal. Sebastian kommt in Bade­latschen an die Tür. Typ Handwerker, kurz­geschorene Haare. Er ist 26, wohlerzogen (trägt mir schon mal unaufgefordert einen Küchentisch in den vierten Stock), und seine Wohnung ist in rotes Lounge­licht getaucht. Katze Kitty verlässt gerade ihren Posten am Kletter­turm und frisst aus einem „Hello Kitty“-Napf, während Sebastian am Computer sitzt und mit mir Tee trinkt. Seine Ausbildung als Fliesenleger musste er abbrechen – die Bandscheiben. Jetzt ist er geschätzte 70 Kilo leichter und macht, was er eigentlich immer machen wollte: Er ist freischaffender Kameramann und Produzent, und dafür am liebsten nachts unterwegs. Tagsüber werkelt er in der Werkstattecke in der Küche, zurzeit lötet er an einem Dolly für Kamerafahrten – oder hilft den Nachbarn.

Zum Beispiel gießt er die Blumen bei Ulrich Falke, der immer so nett grüßt. Falke wohnt direkt neben mir, doch ich höre nie etwas hinter der Wand. Der Publizist und Familientherapeut hat zwei fast erwachsene Töchter und einen Nachzüglersohn und verbringt nicht nur deshalb die meiste Zeit bei seiner Freundin: Uli, 57, ist der Letzte, der hier ohne Heizung lebt, nur mit einem Kachelofen.

Es gibt also doch Verbindungen im Haus, sogar von ganz unten nach ganz oben. Aber nicht genug, findet Sebastian. Nicht so viel wie früher, als er immer türkische Pizza bekam bei den Nachbarn: „Die Familie über uns, die war so was wie mein zweites Zuhause.“ Erst jetzt, als Sebastian aus seiner Kindheit erzählt, von seinem Vater, der schon fast 20 Jahre tot ist und an den ein Foto über dem Bildschirm erinnert, wird mir plötzlich klar, dass dieses Haus mehr als eine Durchgangsstation sein kann – so ein richtiges Zuhause.

Für Monika Blank sowieso: „So ne Wohnung krieje ick nie wieda! Ick jeh hier nich mehr raus, nur mit die Füße zuerst. Und ick werd 113!“ Um bis dahin in ihrem Reich den Überblick zu behalten, verkauft sie gerade einige Sammelstücke auf Ebay. Und versucht auch sonst, die Kontrolle nicht zu verlieren: „Neuerdings wird hier ein- und ausjezogen, ejal wie. Dit jefällt ma nich.“

Gibt es doch eine Bilderbuch-WG bei uns?

Vielleicht meint sie damit auch diese junge Frau mit den kurzen blonden Haaren, der ich kurz darauf im Flur zum ersten Mal begegne: „Du bist neu hier, oder?“, frage ich. – „Nein, ich ­wohne hier seit drei Jahren.“ Ich schlucke. Da scheint doch einiges an mir vorbeizugehen. Offensichtlich auch, dass es in unserem Haus noch eine Bilderbuch-WG gibt, in der man sich schnell selbst wieder ganz studentisch fühlt: Gineke teilt sich die Wohnung mit Toni – der Frau mit den Dreadlocks und dem Brauenpiercing.

Es ist Sonntagabend, und Toni ist zwischen geblümtem Küchensofa und Müsliregal schon zum Salatwaschen eingeteilt worden. Gineke und Toni sind ein eingespieltes Team, so verschieden sie auch sein mögen. Toni (32, promoviert in Biochemie) lebt ganz in Blau-Rot und begnügt sich in einem mittleren Chaos mit einem schmalen Schlafsofa. Daneben Gineke: weiße Wände, helles Holz, Stricknadeln und Wolle in einem Rattankorb am Boden. Notenständer. Und sieben, nein, acht Flöten in unterschiedlichen Farben und Größen. Gineke, 23, macht gerade ihr Diplom in Block­flöte. Das bedeutet auch: viel üben, was die Zimmernachbarin aber nicht im Geringsten stört. „Gineke ist mein Zuhause“, sagt Toni. „Im Haus kennt man sich ja nicht, man ist nicht füreinander da.“ Wir gucken zusammen auf den Garten vor Ginekes Fenster. ­

„Ich würde ja gern ein paar Kräuter oder Blumen pflanzen. Aber die ganzen Gartenzwerge.“ Dann überlegt sie laut, ob sie nicht vielleicht doch einfach mal bei Frau Blank nachfragen soll. „Was sollen bloß die Nachbarn denken!“ Das dürfte heute den meisten herzlich egal sein, zumindest bis an die Großstadt­grenzen und wenn es darum geht, ob der Herr im dritten Stock Damenbesuch empfängt oder den Müll falsch trennt. Aber so seine Gedanken macht sich doch jeder. Zum Beispiel über Jens Wohlrab, mit zehn Jahren im Haus einer der Alteingesessenen.

„Den mag ich heiß und innig, der ist so herrlich verstrahlt“, sagt Monika Blank. „Vielleicht hat er keine Arbeit, weil er jeht oft spät abends weg und kommt früh morgens. Aber er spielt so schön Klavier!“ Und dann diese Frau, die mit Herrn Gräber zusammenwohnt. „Bei der frag ick mich manchmal: Sieht die mich überhaupt? Dabei bin ick ja nun wirklich nich zu übersehen!“ Oder der Herr Schulte im ersten Stock: „Der schleppte die janze Zeit Orgeln nach oben. Da hab ick mal jefracht – er richtet die wieda her! Aber seine Frau, dit wüsst ick ja schon jern, was die so macht.“

Ein paar Tage später weiß ich Bescheid: Die Frau von Herrn Schulte ist Illustratorin und heißt Lisa, ihre kleine Tochter Frida scheint ein ähnliches Berufsziel zu verfolgen. Kniet auf dem Stuhl am Esstisch und malt ein Gesicht mit Glitzerstiften: „Die Oma Blank!“ Lisa und Frida kenne ich schon aus dem Hausflur, mein erster Annäherungsversuch. Als ich am Ende der Wohnungsführung mit Lisa in ihrer Abstellkammer stehe, weiß ich auch, warum nebenan nie jemand auf mein Klingeln reagierte: Diebeiden Wohnungen sind eine. Die verwinkelte Küche wiederum hat zwar denselben Schnitt wie meine, ist aber viel praktischer eingerichtet. Im Arbeitszimmer steht dann auch eine der Orgeln, von denen Frau Blank erzählt hat, außerdem Hunderte, wenn nicht Tausende Schallplatten. „Kleine Sammelstörung“, kommentiert Mario, der auch einen guten Grundstock fürs Berufesammeln hätte: Unter anderem ist er selbstständiger Plakatierer, schreibt Kindertheaterstücke und macht Musik.

Musik ist auch der Grund, warum er immerhin ein paar Nachbarn besser kennt. „Ich würde mich ja nicht trauen, die Leute im Haus einfach so anzusprechen“, sagt Mario. „Aber ich habe Jens drüben Klavier spielen hören.“ Irgendwann rückte Mario dann mit einem Kumpel „und unserem zusammengeschraubten Zeug“ an und sie improvisierten gemeinsam. „Wir waren ganz ergriffen. Der Jens Wohlrab, was für ein Musiker! Und das ist mein Nachbar!“ Noch ein Stück Nachbarschaft, von dem ich nichts wusste.

Und offenbar gibt es noch einen mit einer Schwäche für Musik. Von oben dringen jetzt Bässe aus einer Anlage. „Tommy. Den kannten wir vorher schon durch gemeinsame Musikerfreunde. Als wir hier eingezogen sind, meinten alle, ach so, das Tommy-Haus!“

Er liebt vor allem Schallplatten

Tommy, ein wortkarger Typ mit Geheimratsecken, ist DJ – was ich weiß, weil ich ihn einmal in einem Club gesehen habe. Seine Freundin trägt eine hoch aufragende Amy-Winehouse-Tolle und wirkt oft, als wäre sie ganz woanders. Soweit meine Vorkenntnisse, als ich klingle. Dann stellt sich heraus: Thal ist nicht seine Freundin, sondern die Mitbewohnerin, eine Musikerin aus Israel, die mit ihrer Band hier in der Küche probt – der ersten kühlschranklosen, die ich kennenlerne. Tommy zuckt die Schultern. „Ich bin zufrieden mit dem, was ich habe.“

Und das sind vor allem Schallplatten. Alle drei Minuten steht Tommy, 47, auf, um eine neue Single aus diesem raumfüllenden Platten-Bau zu ziehen. Als „DJ Lobotomy“ legt er nur Vinyl auf, und das seit mehr als 30 Jahren. Und wohl auch die nächsten ­30 Jahre. Und aus dem Haus will er auch nicht mehr raus. „Wegen der Nachbarn?“ – „Die sind mir eigentlich egal.“ – „Findest du es nicht schade, dass du kaum einen im Haus kennst?“ – „Hm, da hab ich mir noch nie Gedanken drüber gemacht. Aber jetzt, wo du es sagst – schade eigentlich.“ Und dann serviert er Sprudelwasser aus Glasflaschen, „die bringt Mario mir immer mit, wenn er einkaufen geht. Also, von solchen Nachbarn hätte ich gern mehr!“

Vom Sprudel ist es nicht weit zu einer neuen Nachbarschafts­utopie von Haus und Hof, und wir sind uns schnell einig, dass als Erstes die Schrottfirma vom Nachbarhof verschwinden muss, ­damit wir morgens wieder einmal länger als bis sechs Uhr in ­Ruhe schlafen können. Wow. Dass ich einmal mit diesem so reserviert wirkenden Typ solche Pläne ausbrüten würde! „Und dann pflanzen wir Apfelbäume und stellen im Garten eine Saftpresse auf.“ Zusammen mit dem Waldmeister, der auf seinem Nordbalkon wächst, wird daraus bestimmt ein neues Trendgetränk.

Fragt sich nur, was die Nachbarn davon halten. Denn viele leben bestimmt auch deshalb in Berlin, weil sie in Ruhe gelassen werden wollen. „Neulich war ich auf Heimatbesuch in meinem alten Dorf“, erzählt Mario. „Stehe da an der Kasse im Tante-Emma-Laden, während die Kassiererin sich mit der Frau hinter mir über meinen Kopf hinweg über mich unterhält: Ist das der Junge vom Willi? Nein, nicht der Paul, das ist der vom Raimund! – So ging das dann noch eine Weile, und ich durfte noch sagen: Ja, stimmt.“

Die Berliner Anonymität dagegen: ein Traum. Andererseits will auch Mario im eigenen Haus kein Schatten sein. „Da bin ich über Leute wie Jens wirklich froh.“ Oft sitze er im Sommer einfach bei ihm auf dem Balkon und frage Jens nach seiner Meinung in Lebensdingen. „Der denkt so schön.“
Als ich schließlich, wie verabredet, bei Jens in der Wohnung stehe, kommt er mir fast schon vertraut vor. Jens Wohlrab ist alleinstehend, 48, freischaffender Künstler, Maler. Gibt Klavierstunden. In seiner Küche steht eine leere Raviolidose, im Regal stapelt sich eine Sahnebechersammlung. Der Apfel, die Zwiebel und der Zitronenschnitz auf dem schwarzen Tisch geben fast ein Stillleben her. Seine Bilder, die eigenen, hängen an der Wand, viel Farbe, viel Surrealistisches. Wir sprechen über Regale als Schalldämpfer, über Berlin früher und heute und darüber, was für ein „Akustikgenie“ der Nachbar ist: „Die Musik von Mario hat einen ganz eigenen Stil mit viel Selbstironie. Irgendwie Ton gewordener Zeitgeist aus unserem Kiez.“

Frau Blank hatte recht: Er ist „herrlich verstrahlt“. Dabei aber durchaus auch sehr praktisch. „Jens hat unsere Bude gerettet, nein, das ganze Haus!“, sagt Mario. Und das kam so: Mario und Lisa hatten vor ihrem Einzug noch die Dielen abschleifen lassen. Am Abend blieb ein Haufen Sägespäne und die Hitze eines heißen Juli­tags. Eine gefährliche Kombi: Bald sah Jens es, dank der verwinkelten Hausarchitektur, rotgelb flackern und rief die Feuerwehr.

„Ich glaube, das war das einzige Mal, dass ich fast alle Nachbarn auf einmal gesehen habe. Alle standen unten“, sagt Matthias, 33. Er wohnt direkt neben mir im vierten Stock und ist der Einzige, den ich nicht nur vom Namensschild kenne. Und der für unseren Besuch seinen Lernmarathon unterbricht: noch fünf Tage bis zur Verteidigung seiner Doktorarbeit in Physik.

Wir stehen auf seinem Balkon und hören den Spaniern zu, die am Landwehrkanal auf ihren Gitarren klampfen, wie jeden Dienstag und Freitag, wenn Türkischer Markt ist, wo ich auch immer einkaufen gehe. Eine Woche nach meinem Besuch bei Matthias schaffe ich es wieder erst kurz vor Schluss, wenn die Marktschreier alles loswerden wollen. Auf einen fragenden Fingerzeig hin drückt mir ein Verkäufer eine ganze Kiste Pflaumen gegen die Brust, Widerrede zwecklos: „Da, nimmst du, ein Euro!“ – ­

„Aber was soll ich mit dem ganzen Obst, das vergammelt doch!“ – „Gibst du Nachbarn!“ Recht hat er.
Also stehe ich abends am Herd und koche Pflaumenmarmelade. Beim anschließenden Türklingeln habe ich keine Skrupel mehr und denke: Vielleicht ist das ein kleiner nächster Schritt, die Hausgemeinschaft weiter von oben nach unten und quer zu verbinden. Ein paar Tage später steht Jens vor meiner Tür, mit ­einer Flasche Bordeaux als Dankeschön und einer Geburtstagsein­ladung. Dann eine SMS aus dem zweiten Stock: „Morgen ist mein Diplomkonzert, würde mich freuen, wenn du kommst. Gineke“.

Als ich gerade die letzten Sätze von diesem Text tippen will, klingelt es wieder. Eine junge Frau in Jogginghosen: „Ich bin die neue Nachbarin von drüben.“ Die Geschichte geht weiter.

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Eine sehr wunderbare Geschichte. So könnte es gehen und Utopia ist nicht mehr weit..........

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Toll und nachahmenswert. Eigentlich auch kein Wenn und Aber. Und: Doch ein Aber . Es gibt Unterschiede. Sie haben es mit einer neugierigen bunten Mischung zu tun und kannten sich nur flüchtig oder überhaupt nicht. Ausserdem hatten Sie als Argument die verbindende Hausgemeinschaft. Die beiderseitige Neugier wurde belohnt.

Ein anderes Szenario. Sie gehen in einer Siedlung, wo man Sie schon lange, zumindest vom Ansehen, kennt, von Haus zu Haus. Weil nicht so enge Nachbarschaft, ist auch kaum jemand auf einander angewiesen. Man ist es gewohnt, sich in seiner Burg zu verbergen. Zwar könnte es ein weibliches Wesen bei anderen weiblichen Wesen etwas leichter haben, aber generell wird vermutlich eine solche „Tour“ als Angriff auf die eigenen Burgmauern mißdeutet. Was wird denn da wohl dahinter stecken? Obwohl ohne Hintergedanken, werden die zumeist sofort unterstellt. Nun, Ausreden gibt es immer. Es ist total unüblich geworden, sich bei Zuzug den Nachbarn vorzustellen. Keine Ausrede ist auch, wenn Sie in einem Land, einem Ort wohnen, in dem ein Dialekt oder ein Hochdeutsch mit Sprachfärbung üblich ist. Wenn Sie da mit Hochdeutsch auftreten, geht erst einmal „die Klappe runter“. Das ist dann wie in der Schweiz, auch dort wird es amtlich (vor Gericht, Nachrichtensprecher, Fernsehprogramm, Schriftdeutsch, etc.) wenn Sie dort mit Hochdeutsch auftreten. Wir haben es vor Jahren mit einem Strassenfest versucht. Einige wenige (zumeist Neubürger) waren begeistert. Aber die „Urbevölkerung“ war unbeweglich, hatte alle Ausreden der Welt, und die die kamen, waren sehr reserviert. Ihren Artikel habe ich zum Anlass genommen, zu fragen, ob es noch die vor einigen Jahren in Neubaugebieten üblichen Strassenfeste gibt. Fehlanzeige. Woanders mag es anders sein.

Ich bin als sogenannter „Patientenpate“ tätig. Ziel ist zu helfen und den Kranken die ersten Schritte nach dem Krankenhaus zu erleichtern, ihn 3 Monate zu begleiten. Zwar bemüht sich die Leitung des Krankenhaus intensiv bei den zur Entlassung Anstehenden, aber das Ergebnis ist mager. Hilfe ohne Bezahlung ist verdächtig. Ist der Helfer auch noch männlich, droht möglicherweise eine imaginäre Gefahr. Aber auch die Frauen im Team können ein bedauerliches Lied davon singen, mit welchen Schwierigkeiten sie konfrontiert werden und wie selten Aspiranten sind. Von den ausgebildeten Personen (ca. 7 männlich und 20 weiblich) haben auch nach bald 2 Jahren nicht alle schon einmal den Dienst machen dürfen. Es fehlte einfach am Mut und am Interesse der Leidenden.

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