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Woher kommst du, wie lange bleibst du?
Als Gloria Veeser zuerst das Wort Europa hörte, kam ihr das spanisch vor. Später traf sie den halben Kontinent in Berlin, erst beim Feiern, später zur Krisenbewältigung. Und nun? Nun braucht Europa Hilfe...
11.12.2013

Als ich noch zu klein war, um Europa zu verstehen, reiste meine Mutter mit mir nach Spanien. Im Bus Richtung Costa Brava waren lauter deutsche Urlauber, die staunten, dass so ein kleines Mädchen schon zwei Sprachen spricht, während ­ich mich nur wunderte, warum so alte Menschen immer noch kein Spanisch verstehen. Doch gerade bevor wir spanischen Boden betraten, gerieten wir in eine Kontrolle. Ein Grenzbeamter forderte alle ­Passagiere auf, ihre Pässe nach vorne durchzureichen. Aus dem Stapel Papiere in seiner Hand fischte er dann den einzigen Pass heraus, der irgendwie die falsche Farbe hatte, klappte ihn auf und sagte entsetzt: „Eine Peruanerin! Also, die dürfen nicht einreisen.“

Ob er ihr denn nicht wenigs­tens mal ins Gesicht sehen wolle, rief die Peruanerin, die außerdem meine Mutter war, dem spanischen Beamten beim Verlassen des Busses hinterher, sie könne ihm sicher alles erklä­ren: wie ­lange sie schon in Deutschland lebe, dass sie einen deutschen Mann und drei deutsche Kinder habe und nur deshalb keinen deutschen Pass, weil sie ihren peruanischen dafür nicht abgeben wollte. Doch der ­Spanier ließ sich zu Argumenten nicht herab: „Kein Visum, kein Einlass. So sind nun mal die Regeln in Europa.“

Das war das erste Mal, dass ich das Wort Europa hörte, und es kam mir ziemlich spanisch vor. Wir waren doch die ­einzigen in dem Bus, die Spanisch konnten – wieso durfte ausgerechnet meine Mutter nicht nach Spanien? Was hatten diese Deutschen, einschließlich mir, was meine Mutter nicht hatte? Es musste also etwas geben, was die Spanier mit den Deutschen verband, und was stärker war als die Muttersprache. War das Europa?

Europatour, ohne das Haus zu verlassen


Richtig kennengelernt habe ich meine europäische „Familie“, zu der ich dank meines deutschen Vaters gehörte, auf der europäischsten aller Reisen: Erasmus-Studienaustausch. In der „Cité Internationale Universitaire“ in Paris bekam ich eine Europatour­nee, ohne auch nur das Haus zu verlassen: Die Europäer kamen zu mir – und brachten ihre Kultur mit: Ich teilte mein Wohnheimzimmer mit monatlich wechselnden Nachbarn aus Spanien, Öster­reich, Griechenland, Slowenien, Italien und sogar mit einer echten Französin: Am Ende des Semesters konnte ich auf einem Dutzend Sprachen bis zehn zählen, fluchen und „Ich liebe dich“ sagen.

Junge Europäer antworten auf diese Fragen:  Was willst du machen? Worauf freust du dich? Wovor hast du Angst?

Und wo ich als Touristin auf Unterschiede geachtet hatte, fielen mir als Zimmergenossin immer mehr Gemeinsamkeiten auf. Alle fanden sich in der ­gleichen Fremde, alle mit der gleichen Euphorie und mit den gleichen Fragen: Woher kommst du, wie lange bleibst du, und was machst du hier? Angst hatte keiner.

Europa bedeutete plötzlich einen ins Unendliche erweiterten Freundeskreis, den es zu erschließen galt – staatlich gefördert. Denn war das nicht der Grund für dieses Programm: dass wir uns kennenlernten? Also feierten wir zusammen, lernten von-einander und schlossen Freundschaften – nicht wenige gründeten sogar echte ­multinationale Familien. Wenn sich ein Engländer in Paris in eine Italienerin verliebt, ist das nicht die denkbar beste Inves­tition in die Zukunft Europas? Immerhin hat das berühmte Stipendienprogramm einer ganzen Generation junger Europäer dazu verholfen, sich gegenseitig kennenzulernen.

Inzwischen darf der Name des niederländischen Gelehrten in keiner Akade­mikerbiografie mehr fehlen. Die Generation Erasmus ist die europäischste aller Generationen, einfach weil sie die erste ist, die sich persönlich kennt. Über drei Millionen Studierende aus 33 europäischen Ländern haben seit dem Start Ende der Achtziger an dem EU-Programm teilgenommen. Drei Millionen, die wissen, wie es ist, allein in einem fremden Land zu leben, die Einwanderern, Nachbarn und Gästen mit mehr Erfahrungen als Vorurteilen begegnen können.



Aber als ich später auf die generationsübliche Selbstfindungsreise in die USA verschwand und gerade gelernt hatte, die Zuschreibung „Europäerin“ zu genießen, ahnte ich nicht, was mich nach meiner Rückkehr erwarten würde. Europa hatte gerade die gemeinsame Verfassung auf- und sich stattdessen einer Krise hingegeben. In Italien, Griechenland und Deutschland talkte fortan die Politiker­kas­te im Fernsehen über die EU, die Troika, „die faulen Griechen“ oder „diese Hitler-Merkel“, die an allem schuld seien. Aus Europas Freiheit wurden Schulden, die EU förderte nicht mehr, sie forderte, zwang, und strafte.

Und dann begann die neue Migration. Gerade die jungen, gut ausgebildeten flohen in Scharen aus den südlichen Krisen­ländern gen Norden, und wieder kam Europa zu mir nach Hause. Berlin wurde spanisch, dann italienisch, griechisch. Die Biografien der jungen Generation wurden europäischer – aber sie fühlten sich nicht mehr so an. Aus dem großen Gefühl der Freiheit, überallhin reisen zu können, wurde das Gefühl, nirgends bleiben zu dürfen. Europa ist heute vernetzter denn je, weder Visum noch Währung sind mehr ein Problem, nie war es so leicht wie für den aktuellen „Easy-Jet-Set“, überall zu arbeiten, zu leben oder es mal einen Sommer lang in Berlin zu versuchen. Dennoch fragen sich viele, die mit exzellentem Abschluss für einen miesen Job in Berlin ihre Heimat verlassen: Was bringt Europa eigentlich? Was bringt diese Gemeinschaft, die nur auf einer Währung gebaut ist, und die nichts als Geld und im besten Fall Schulden teilt? Gab es je einen Plan für die Zukunft Europas, und falls ja – wer hat ihn verraten?

Nun kann die Krise ja auch eine ge­mein­same Chance sein. Denn die Auswanderer, die die neue Situation aus ­ihrer ­Heimat zwingt, erleben Europa. Und sobald sie es tun, sobald sie losziehen und ihre Freizügigkeit und ihre erweiterten Grenzen nutzen, machen sie Europa stärker, bunter, vernetzter, die Bindungen fester, und sie lernen auch ­das Netz, in dem sie gefangen sind, zu nutzen. Sie lernen, wie man ein europäisches
Leben führt, auf die harte Tour zwar, aber am Ende werden sie wissen, wie man wo welche Fische fängt.

Gab es je einen Plan für Europa? Wenn ja, wer hat ihn verraten?


Von denen, die seit Beginn der Krise nach Berlin kamen, sind zwar viele wieder gegangen, aber viel mehr sind geblieben, fanden Arbeit, Sinn, ein neues Leben. Und auch jene, die gingen, kehrten nicht mit leeren Händen zurück. Sie haben viel gelernt, übers Reisen, übers Leben, über sich selbst – oder nur staunend vor dem Pfand­automaten. Viele haben Freunde gefunden oder sogar Liebe, jeder ist ein Stück europäischer geworden. Oder wie es mein italienischer Mitbewohner ausdrückte: „Wir quetschen unsere Rechte aus der EU heraus wie den Saft aus einer Zitrone – sauer, ja. Aber wir lernen auch, wo der Zucker steht.“

Ich glaube immer noch daran, dass mit der Generation Erasmus eine europäische Familie heranwächst, die gelernt hat, voneinander zu lernen. Die Europa zu gut kennt, um sich gegenseitig die Schuld in die Schuhe zu schieben, zu gut vernetzt ist, um sich gegeneinander zu wenden. Wir haben nicht nur eine Währung, sondern eine Kultur – und wir sind bereit für eine gemeinsame Politik.

Jetzt müssen wir die auch machen. Gerade erleben wir, wie Rechtspopulisten in den Niederlanden und in Frankreich das Haus Europa zum Einsturz bringen wollen. Nationale Parolen stoßen auch anderswo auf ungeahnte Zustimmung. Begeistert klatschen und wählen diejenigen, die vergessen haben, worum es gegangen war, damals, als unsere Großeltern diese europäische Gemeinschaft bauten: Es ging um Versöhnung und Frieden, einen Frieden, von dem die Generationen vor uns kaum zu träumen wagten und der für uns so selbstverständlich ist, dass wir ihn durch Untätigkeit riskieren. Es hat keinen Sinn, der Politik Versäumnisse vorzuhalten. Denn wir sind es, die den Laden in Zukunft zusammenhalten müssen. Wir sind dran, unseren Eltern zu zeigen, was wir gelernt haben in der „Cité Universitaire“. Dass wir die Angst vor den ewig Anderen endlich ablegen müssen. Nicht länger auf Visionen warten, sondern unsere Version von Europa verbreiten, auf den Straßen und in den Parlamenten – und zuallererst in unserer eigenen Familie.

Liebe Gloria Veeser, das haben Sie wunderbar geschrieben. Das, was Sie beschreiben, haben wir in eine Initiative transformiert: We are Europe! Wir wurden im September 2012 in Düsseldorf gegründet. Unser Thema ist die europäische Bürgergesellschaft. Wir sind überzeugt, dass Europa nur erfolgreich sein kann, wenn sich unterhalb der (reformbedürftigen) institutionellen Ebene eine europäische Bürgergesellschaft zu bilden beginnt. Daher legen wir großen Wert darauf, keine „deutsche“, sondern eine in Deutschland ansässige europäische Initiative zu sein. Sie können das etwa an der Zusammensetzung unseres Vorstands erkennen. Wahr ist: Im Moment bewegen wir uns gegen den Strom. Aber Bewegungen, die etwas verändern wollen, fangen immer so an.

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