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Wie Dana es wollte
Als sie den Tod kommen sah, wollte sie nicht mehr allein sein. Dana versammelte ihre Freunde und ihre Familie um sich, brachte alles in Ordnung. Sie wollte Fotos, sie wollte Eiersalat zum Frühstück. Ein Kleid für den Sarg, Briefe schreiben an ihren Jungen, und alle halfen mit. Die Rekonstruktion eines Abschieds
Tim Wegner
28.12.2010

Es war ein Tag im März 2009, als sie ihre Eltern und die Freunde eingeladen hatte. „Ihr sollt euch kennenlernen, denn ich gehe jetzt wahrscheinlich meinen letzten Weg“, er­öffnete ihnen Dana W., 33, alleinerziehende Mutter von Johannes*, vier, und den Körper voller Tumore. „Es sind neue Metastasen gewachsen, sie haben fast alle Organe befallen. Ich habe Angst, ich kann das nur mit eurer Unterstützung durchstehen. Aber niemand soll sich verpflichtet fühlen.“

Oh nein! Kaum einer der Anwesenden hatte je einen Toten gesehen, geschweige denn einen Menschen in den Tod begleitet. Kann ich das überhaupt? Und: Bedeutet das nicht, die Hoffnung aufzugeben? Überhaupt, Dana, du stirbst doch nicht, du doch nicht, du hast es immer wieder geschafft! Großes Entsetzen, meist hatte man ihr die Krankheit gar nicht angemerkt, und plötzlich sprach sie so klar von ihrem Ende – so war sie schon immer, offen und direkt.

Rückblick: Im Frühjahr 2000 hatte Dana W., wohnhaft in Cottbus, ehemalige Leistungssportlerin im Schwimmen und Radfahren, eine harte Stelle in der linken Brust entdeckt. Sie wurde am Tag vor ihrem 25. ­Geburtstag operiert, Brustamputation, Chemo, Bestrahlung. Der Onkologe in Cottbus sagte, es bestehe wenig Hoffnung. 2002 zog sie nach Potsdam, sie wollte ein neues Leben beginnen. Als Zahntechni­kerin konnte sie nicht mehr arbeiten, sie hatte keine Lymphknoten mehr in den ­Achseln, das behinderte sie. Also machte sie das Abitur und eine Ausbildung zur Veranstaltungskauffrau.

Vielleicht ist es einfacher, sich nicht damit ­auseinan­derzusetzen, was einem wehtun könnte

Dana war eine zierliche Frau, blond, wenn gerade keine Chemotherapie anstand und die Haare ausfielen; und hübsch, obwohl der Krebs zehrte, ihr Ringe unter die Augen malte, sie so müde machte. Sie war, sagen die Freunde, trotzdem meist fröhlich; mitreißend; brachte Leute zusammen, die sonst nie miteinander zu tun gehabt hätten: alte Freunde aus Cottbus, neue Freunde aus Potsdam. Da war Doreen G., 34, eine ihrer ältesten Freundinnen, sie kannten sich vom Schwimmen. Thomas „Tom“ K., 39, der gute Freund, sie kannten sich seit Mitte der Neunziger. Heidi G., 46, die ehemalige Nachbarin aus dem Haus in Alt ­Nowawes in Babelsberg. Und viele andere.

Krebs macht oft einsam, Verwandte, Freunde, Arbeitskollegen wissen nicht, wie sie sich verhalten, was sie sagen ­sollen, ­rufen nicht an, ziehen sich zurück. Vielleicht ist es einfacher, sich nicht damit ­auseinan­derzusetzen, was einem wehtun könnte.

Erinnerungen. Pinwand in Danas Zimmer auf der Palliativstation. Foto: Gordon Welters

Bei Dana ging keiner weg. Sie waren schon so lange da gewesen, warum sollten sie sich jetzt zurückziehen? Wenn es schon zu Ende gehen musste, dann so gut wie möglich! Die Freunde rückten näher, jeder wie er konnte, ein Dana-Kreis, ungefähr 20 Leute, moderiert von Bettina Viebeg, 55, ihrer Therapeutin. Sie übernachteten bei Dana und Johannes in der Zweiraumwohnung; standen mit ihr die Stunden nach den Chemotherapien durch; gingen mit ihr tanzen; oder ins „Lapis Lazuli“, ihre Lieblingskneipe, wo sie immer Yogi-Tee trank.

Natürlich sprachen sie auch über die Krankheit, aber nicht nur, sonst wird man ja verrückt. „Sie hat mir mal eine Broschüre mitgebracht über den Verwesungsprozess“, sagt Heidi G., die ehemalige Nachbarin. „Ich konnte nur kurz reingucken, das war mir zu heftig.“

Im April 2004 bekam Dana Johannes. Keiner hatte geglaubt, dass sie nach der Chemo­therapie schwanger werden könnte. Die Be­ziehung zu Johannes’ Vater zerbrach, der Kontakt blieb spärlich. Ende 2006 hustete Dana viel. Anfang 2007 wurden Metastasen an der Lunge und der Leber diagnostiziert, sie bekam wieder Chemotherapie. Die Ärzte gaben ihr noch ein Jahr. 2008 ließ sie sich die zweite Brust abnehmen.

Im Sommer 2009 wurde Dana W. 34 Jahre alt. Mit ihrer Familie reiste sie an die Ostsee, und mit Doreen und den Kindern nach Schweden und Dänemark. Johannes und sie pflanzten auf dem Ge­lände der Bundesgartenschau in Potsdam eine hängende Rotbuche; ein Ort, an dem er seiner Mama nah sein kann. Und: Der Baum soll mit Johannes wachsen und wie er groß und stark werden.

Wie sie sich ihre Beerdigung vorstellte: keine Blumen, keine Kränze, sondern Geldspenden für ein Hospiz

Einmal im Monat gab es Freundeskreistreffen, man sprach über Alltagsdinge, aber eben auch über Dana. Wie es weitergehen sollte, wenn ihr Zustand sich verschlechterte: So lange wie möglich zu Hause ­bleiben, dann vor allem nicht alleine sein. Wie sie sich ihre Beerdigung vorstellte: mit einer Pfarrerin, außerhalb Potsdams, keine Blumen, keine Kränze, sondern Geldspenden für ein Hospiz. „Schade, dass ich nicht dabei sein kann“, sagte Dana einmal. „Aber Sie sind doch dabei“, sagte die Pfarrerin. „Ja, aber nicht so.“ Da mussten alle lachen. Wie gut es war, dass keiner mit ­seinen Sorgen um Dana alleine war.

Im Herbst ging es ihr schlechter, während einer Radtour mit den Eltern Brigitte und Friedrich W., beide 61, musste sie immer wieder anhalten und ausruhen. „Wir holen dich und Johannes zu uns nach Cottbus“, sagten sie. „Nein“, sagte Dana. Sie hatte Wichtiges zu erledigen: Wo sollte Johannes aufwachsen? Sie wollte ihn nicht zu ihren Eltern geben, sie fand sie zu alt. Sie wünschte sich, dass der Junge bei seinem Vater lebe.

Jeder Sterbende hat das Recht auf menschenwürdiges Leben bis zum Ende

Am 17. November 2009 musste Dana W. ins Krankenhaus. Sie hatte so ­starke Kopfschmerzen, dass sie sich kaum aufrecht halten konnte. „Migräne!“, sagte der Arzt. „Muskelverspannung!“, sagte der Schmerztherapeut. „Gott sei Dank!“, dachten die Eltern und wagten zu hoffen. „Kaum zu glauben!“, beschwerten sich die Freunde, „seht doch, wie sie leidet!“

Dana hatte Angst, sie weinte viel. Sie hämmerte mit den Fäusten oder den Kühlakkus auf ihren Schädel und knurrte, „Kopf, was willst du mir sagen?“ Nach zehn Tagen überwies der Onkologe sie in eine andere Klinik, sie lag fortan auf der Palliativstation des Ernst-von-Bergmann-Klinikums in Potsdam, Zimmer H4 38, gelbe Wände, gelbe Bettwäsche, warmes Licht.

In Deutschland sterben jedes Jahr über 800 000 Menschen, ein Viertel von ihnen erliegt einem Krebsleiden. Jeder stirbt anders, im Krankenhaus, im Pflegeheim, im Hospiz oder zu Hause; der eine möchte dabei alleine sein, der andere nicht; der eine möchte über den Tod sprechen, der andere schweigt lieber. Klar aber ist: Jeder Sterbende hat das Recht auf menschenwürdiges Leben bis zum Ende, Paragraf 37b, Fünftes Buch des Sozialgesetzbuches. Dafür sorgt die Palliativmedizin.

„Pallium“ heißt Mantel, und wie ein Mantel sollen die psychologischen, spirituellen, körperlichen Behandlungen den Schwerstkranken umhüllen, wenn es nichts mehr zu heilen gibt: Schmerzen, Atemnot, Übelkeit, Erbrechen lindern, Sorgen und Ängste verringern, dem Patienten soll es so gut­gehen wie möglich. Der Tod wird weder beschleunigt noch hinausgezögert.

Besinnlichkeit am Krankenbett. Danas Freunde veranstalten ein Cellokonzert.
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Dana hatte Tumore an den Hirnhäuten, daher die schlimmen Schmerzen. Sie bekam Chemotherapie und Bestrahlung, das nahm den Druck im Schädel. Man gab ihr Morphium, gerade so viel, dass sie klar blieb im Kopf. „Wir sind eine Kriseninterventionsstation“, sagt der Oberarzt der ­Palliativabteilung, Bernd Kämpfer, 44. Acht Betten, 21 Mitarbeiter, Ärzte, Pflegekräfte, Physiotherapeuten, Psychologen, Seelsorger, Sozialarbeiter. Seine Patienten sollen, wenn sie stabilisiert sind, zu Hause oder im Hospiz weiterbetreut werden. „Wir können sie nicht zu Hause pflegen“, besprachen sich die Freunde, „das schaffen wir nicht. Wir möchten Verantwortung abgeben können.“ Heidi G. besichtigte ein Hospiz.

Johannes kam oft morgens: „Guten Morgen, Mama“, rief er, „ist der Krebs auch schon wach?“

Dana richtete sich in ihrem Zimmer ein. Wie auf allen Reisen hatte sie das kleine grüne Kopfkissen dabei, auf dem sie schon als Kind geschlafen hatte. Die Freunde dekorierten das Bett mit Engelgirlanden, auf dem Tisch standen Körperöle, Bücher, Hörbücher, eine Pinnwand mit Fotos, jemand hatte ein elektrisches Klavier gebracht.

An der Pinnwand hing auch ein Stunden­plan, in den sich jeder eintragen konnte, damit Dana nachts nie allein war; es musste immer jemand im Gästebett neben ihr schlafen. Heidi etwa kam jeden Tag zu ­Besuch, vormittags, wenn ihr Sohn zur Schule ging, oder abends, wenn ihr Mann auf ihn aufpassen konnte; Doreen übernachtete immer donnerstags; Tom ar­beitete drei Tage die Woche in Leipzig, er besuchte Dana, wenn er in Potsdam war, manchmal brachte er seine Frau und den Sohn mit; Danas Eltern waren fast immer am Krankenbett, fuhren nur zum Wäschewaschen nach Cottbus. Johannes kam oft morgens: „Guten Morgen, Mama“, rief er, „ist der Krebs auch schon wach?“

Begleittagebücher, E-Mail Verteiler - alle sollen auf dem Laufenden sein

Früher war der Tod selbstverständlich, man starb oft im eigenen Bett, umgeben von Angehörigen. Heute sterben die meisten Menschen unsichtbar für die Gesellschaft. Die Oma, heißt es, wolle niemanden mehr sehen. Oder: Der Opa sieht so schlecht aus, erspar dir den Anblick, und für kleine Kinder ist das erst recht nichts. Dana W. wollte den Tod ins Leben holen, vorbildhaft, darum hat sie sich fotogra­fieren lassen, wollte, dass über ihr Sterben geschrieben wird.

Ob ihr der Besuch auch mal zu viel wurde? Zunächst nicht, auch wenn sie schnell erschöpft war. Wenn jemand nachfragte, sagte sie: „Ach, weißt du, die Einsamkeit habe ich schon kennengelernt.“ Die vielen Gäste waren für das Stationsteam eine Herausforderung: „Wir brauchten auch Zeit für Dana W.“, sagt der Oberarzt, für die Schmerzbehandlung, die Körperpflege, für Gespräche.

Die Freunde richteten einen E-Mail-­Verteiler ein, um alle auf dem Laufenden zu halten; sie führten Begleittagebücher, in die jeder hineinschrieb, was die anderen wissen sollten oder was sie bewegte: ­„Gerade hadere ich mit ihrem Schicksal, sie überhaupt nicht.“ – „Dana zieht ihr Schlaf­shirt hoch und legt meine Hände auf ihre Brust. ‚Spür mal, alles voller Metastasen, ganz hart, das wird nicht mehr lange dauern.‘“ – „Johannes fragte, wann du aus dem Krankenhaus kommst, und du hast ihm geantwortet, dass das nicht mehr ­passieren wird, und dass du sterben wirst. Er sagte, dass du das gar nicht wissen kannst, wann du sterben wirst. Wenn überhaupt, dann weiß das der liebe Gott.“

Menschen fürchten den Tod, das Unbekannte. Wer gläubig ist, hofft auf ein Jenseits

Ende November erblindete Dana, erst auf dem einen, ein paar Tage später auf dem anderen Auge, wegen der Tumore. „Als ich sie am Tag vor Nikolaus besuchte, sah sie nur noch einen Schleier, sie meinte, das sei eine Schwellung, das gehe wieder weg“, sagt Tom K., ihr guter Freund; außerdem bekam sie schlecht Luft. „Ich bin unter Tränen nach Hause gekommen“, sagt er, „habe so richtig realisiert, dass sie stirbt.“

Menschen fürchten den Tod, das Unbekannte. Wer gläubig ist, hofft auf ein Jenseits. Dana W., Kind der DDR, haderte damit, dass sie nicht religiös war. „Was kommt nur danach“, fragte sie immer wieder, ihre Angst vor dem Nichts war riesig, sagt eine Freundin. Irgendwann fand sie die Vorstellung tröstlich, dass sie eine Wolke sein würde.

Dana hatte manchmal Panikattacken, manchmal Halluzinationen, sagte, sie sehe das Licht. Oder fragte: „Hast du bei mir saubergemacht? Hast du hinter uns zugemacht?“ Manche Freunde ertrugen es nicht, sie so zu sehen, und wenn jemand eine Ablösung brauchte, reichte ein Anruf, dann kam jemand anderes an Danas Bett. Es galt: Jeder hilft, so gut er kann.

Die einen massierten ihr die Füße oder den Bauch oder spielten mit Johannes. Die anderen lasen aus den Begleitbüchern vor, das mochte sie gerne: „Die weiße Wolke, die du dann bist, wird uns alle immer begleiten...“ Wieder andere sangen abends „Der Mond ist aufgegangen“ oder unternahmen mit ihr Fantasiespaziergänge durch die Natur, wenn sie nachts nicht schlafen konnte. Tom saß an ihrem Bett und hielt ihre Hand: „Ich war einfach nur da. Mehr konnte ich nicht tun, ich bin nicht besonders gut im Trösten.“

Die Freunde sagen, sie seien immer mit mehr aus Danas Zimmer gekommen, als sie hineingegangen waren

An einem Tag im Advent gab eine Bekannte von Dana ein Cellokonzert im Aufenthaltsraum der Palliativstation, dem sogenannten Wohnzimmer, weiße Sofas, ein großer Tisch, eine Küchenzeile, ein Klavier. Dana wollte erst nicht zuhören, es ging ihr nicht gut. Aber dann sagte sie: „Bitte, rollt mich rüber.“ Sie lag in ihrem Bett, die Augen geschlossen, das Gesicht zufrieden, die Hände lagen übereinander auf der Brust, und unter der Decke wippten ihre Füße.

Johannes besuchte sie oft morgens. "Guten Morgen Mama", rief er dann, "ist der Krebs auch schon wach?" Foto: Gordon Welters

Die Freunde sagen, sie seien immer mit mehr aus Danas Zimmer gekommen, als sie hineingegangen waren. Dana kümmerte sich auch zurück, der einen Freundin sagte sie immer, bitte, du musst was essen! Und Heidi G., deren Schwester ebenfalls sehr krank war, und die nur ein paar Stunden bei ihrem Mann im Sekretariat arbeitete, um für beide da sein zu können, fragte sie, sag mal, Heidi, was willst du eigentlich beruflich machen?

Oft lief die Musik des Films „Drei Nüsse für Aschenbrödel“, Danas Schwester hatte die CD mitgebracht, es war ihrer beider Lieblingsmärchen. Wenn Dana Lust hatte, Eiersalat zu frühstücken, bekam sie ihn. Oder frisch gepressten Orangensaft. Einmal wünschte sie sich ein Gericht, das sie früher bei der Oma gegessen hatte: eine Scheibe Brot, dazu Leinöl und Zucker. ­Heidi G. bereitete es zu und dirigierte die Blinde: „Das Brot steht auf elf Uhr, das Leinöl bei drei, Zucker bei sechs.“ Alle Dinge mussten immer an der gleichen Stelle stehen, damit sie gleich greifen konnte, was sie suchte. Die Schnabeltasse. Die Taschentücher. Einmal war die Zahnbürste nicht am gewohnten Platz, da schimpfte sie laut.

Dana wollte die Palliativstation nicht mehr verlassen, versuchte, mit dem Oberarzt zu handeln. „Sie schon wieder!“, sagte sie immer, wenn Oberarzt Kämpfer zu ihr ans Bett trat und mit ihr über einen Hospizplatz reden wollte. „Sie können hier nicht für immer bleiben“, sagte er, „wir leisten keine Hospizversorgung.“ – „Aber ich fühle mich so wohl hier“, antwortete Dana, „ich bin doch schon so lange hier, ihr seid doch meine Familie.“ – „Nein, liebe Frau W. das sind wir nicht. Ich verstehe, dass Sie nicht mehr umziehen wollen. Wir können Ihnen nicht versprechen, dass Sie bis zum Ende bleiben können. Aber über Weihnachten können Sie bleiben.“

Weihnachten! Auf einer Station mit lauter Sterbenskranken. Und Dana feierte, schließlich war dies einer ihrer Meilensteine. „Heiligabend schaffe ich noch“, hatte sie gesagt. Es gab Kartoffelsalat und Würstchen, das Zimmer war voller Menschen, Kerzen brannten, und zusammen sangen sie „Stille Nacht, heilige Nacht“ und „Schneeflöckchen, Weißröckchen“. Sie spielten Wichteln und würfelten um die Geschenke. Dana überreichte den Eltern die Stieg-Larsson-Trilogie, einer Freundin die DVD „Erbsen auf halb 6“, einer anderen ein Öl von Weleda.

„Liebe Engel“, sagte sie, „lasst mich gehen, lasst mich einschlafen, schlafen, schlafen, schlafen.“

Dana hatte durch die Chemo ihre Haare verloren. Sie war mager, aber Beine und Bauch waren angeschwollen. Es fiel ihr schwer, in diesem Körper zu sein. „Sie war hin- und hergerissen, sie wollte endlich frei sein – aber das bedeutete ja den Tod“, sagt Doreen G.  „Was hält mich hier noch?“, fragte Dana manchmal. „Liebe Engel“, sagte sie, „lasst mich gehen, lasst mich einschlafen, schlafen, schlafen, schlafen.“

Sie verteilte Aufgaben für „danach“. Der einen Freundin diktierte sie Briefe an Johannes, für jeden Geburtstag einen, bis er 18 wird. „Ob er mich vergisst?“, sorgte sie sich. Eine andere Freundin kaufte weiße Wollunterwäsche für den Sarg, ihre Oma strickte warme Socken, denn Dana fürchtete, sie werde entsetzlich frieren. Tom K. nahm Danas selbst gedrehte Videofilme an sich, um sie für Johannes zu schneiden. Doreen G., gelernte Schneiderin, kümmerte sich um das Sterbekleid. „Lange wollte Dana ein gelbes Kleid. Sie trug nie Gelb. Wir einigten uns darauf, dass es zu dem himbeerfarbenen Tuch passen sollte, das sie um den Kopf tragen würde.“

Es begann die Zeit des Abschiednehmens, Tom K. etwa sagte ihr am zweiten Weihnachtstag Lebewohl. „Du, Dana, ich weiß nicht, wie lange du noch lebst, vielleicht bin ich dann nicht da“, sagte er, „aber es wird jemand bei dir sein, ganz bestimmt.“ Auch Doreen G., die langjährige Freundin, verabschiedete sich. „Ich bin für eine Woche verreist, aber wenn es zu Ende gegangen wäre, hätte mich jemand angerufen, und ich wäre zurückgekommen“, sagt sie. „Unsere Nerven waren wie zum Zerreißen“, sagt Heidi G., die ehemalige Nachbarin. „Ich dachte immer, wenn ich es jetzt nicht nutze, bei ihr zu sein, kann ich es nie nachholen.“

In den letzten Tagen schrieb keiner mehr in das Tagebuch, zum einen, weil es keinen Grund mehr gab, etwas zu notieren, zum anderen, weil die Kraft schwand. „Wir ­haben ja nicht nur Dana getragen, sondern auch uns gegenseitig“, sagt Heidi G. Nach Weihnachten wurde der Besuch weniger, Dana schickte auch mal jemanden weg, der ihr nicht so nahestand: „Bitte sei nicht böse“, sagte sie, „aber ich brauche ­Ruhe.“ Es schien, als bräuchte sie Besuch nicht mehr als Ablenkung, als Betäubung. Als würde ihre Angst nachlassen.

Als sie alles erledigt hatte, wurde sie immer leiser, wirkte abwesend

Dana wollte alles bisher Ungeklärte ­klären. Johannes’ Vater versprach ihr, ihren Jungen großzuziehen. Die Männer, die ­eine Rolle in ihrem Leben gespielt hatten, kamen, um sich zu verabschieden. Die evangelische Schule, die sie für Johannes ausgesucht hatte, schickte die Zusage für einen Platz. Bei ihren Eltern bedankte sie sich für ihre Kindheit, „es war wunderbar!“ Und: „Bitte“, sagte sie zu ihnen, „seid stark, seid es für Johannes. Das Schlimmste wäre, wenn ihr zerbrechen würdet.“

Mit ihrer Schwester verbrachte sie den letzten Abend, sie hatten in den vergangenen ­Wochen alte Streitigkeiten beigelegt, „das war am Ende alles nicht mehr schlimm“, sagt die Schwester. „Und ich habe ihr versprochen, dass ich Johannes später davon erzählen werde, wie seine Mama war.“ ­Dana hatte alle Beziehungen abgerundet. Als sie alles erledigt hatte, wurde sie immer leiser, wirkte abwesend. „Sie hatte einen sehr entfernten Blick, ich dachte immer, jetzt entrinnt sie uns“, sagt Heidi G.

Solange die Ärzte nicht sagen, dieser Mensch wird jetzt sterben, spüren Ange­hörige Hoffnung. „Klarheit nimmt die ­Anspannung und gibt Sicherheit“, sagt Bernd Kämpfer. „Als wir uns im Team ­einig waren, dass die allerletzte Zeit angebrochen war, haben wir es Dana W., der Familie, den Freunden gesagt.“ Es sei ein Bauchgefühl, gepaart mit professioneller Erfahrung. Die Atmung wird flacher, Hände und Füße sind schlechter durch­blutet, der Kranke kann sich schlecht wach halten oder zieht sich zurück, möchte nicht mehr essen oder trinken. ­Natürlich könnten er und seine Mitarbeiter auch irren, sagt Bernd Kämpfer. Jedenfalls wurde Dana nicht mehr ins Hospiz verlegt.

In Danas Zimmer war immer was los. Normalerweise kommen zu Sterbenskranken kaum Leute, sagen die Stationsschwestern. Foto: Gordon Welters

Am 4. Januar 2010 rief jemand Doreen G. an: „Doreen, das Kleid, wir brauchen es bald.“ Sie suchte einen weißen Wollstoff aus, nähte 15 Stunden. In der Nacht zum 5. Januar, einem Dienstag, begann ­Danas Atmung zu schnappen. Sie stöhnte ein wiederkehrendes langes Stöhnen. Ab da war sie nicht mehr ansprechbar. Am Vormittag lag Dana W. im Sterben, um elf Uhr ein Anruf bei Doreen, „das Kleid muss fertig werden“.

Dana war nicht allein in ihrer letzten Stunde, ihre Eltern, Heidi G. und eine andere Freundin saßen bei ihr. Sie schauten Dana beim Atmen zu, weinten. Streichelten sie, hielten eine Hand, den Fuß. Die Mutter sprach „mein liebes Kind, mein liebes Kind“. Die Atmung wurde unruhig, Atemaussetzer. Dann wieder ein Atemzug... noch einer... und noch einer. Und dann plötzlich keiner mehr.

12. 15 Uhr. Sie waren erschrocken. Und erleichtert. Und überwältigt. Wie gut sie es gemacht hatte! Wie traurig sie waren!
Es kamen immer mehr Freundinnen, sie wuschen Dana und ölten sie mit Lavendelöl ein, eine der Krankenschwestern half ihnen dabei, sie wussten ja nicht, wie man das macht. „Ich hätte vorher nicht gedacht, dass ich sie waschen könnte“, sagt Heidi G., „ich fürchtete, sie könnte mir fremd sein. Aber das war sie nicht.“

Die Eltern warteten draußen, aber die Oma war mit dabei. Alle sprachen leiser als sonst, weinten im einen Moment und lachten im nächsten. Sie sangen und sagten: „Dana, jetzt darfst du gehen.“ Um 16 Uhr brachte Doreen G. das Kleid, sie hat Dana nicht mehr lebend gesehen, sie saß ja an der Nähmaschine. „Das war meine Aufgabe, die ich erfüllen wollte.“ Doreen und die anderen zogen Dana an. „Sie war kalt, die Totenstarre hatte schon eingesetzt. Wir kriegten den zweiten Arm fast nicht in den Ärmel, sie war wie eine Puppe.“

"Und da ist die Seele rausge­flogen?“

Und dann lag sie da. Im weißen Kleid, das himbeerfarbene Tuch um den Kopf geschlungen, mit himbeerfarbenen Pulswärmern und weißen Stulpen. „Sie sah aus wie eine Elfe“, sagt der Arzt. „Wie eine Königin“, sagt die Therapeutin. Blumen lagen bei ihr, es lief eine CD mit Naturklängen, Kerzen brannten, das Fenster war geöffnet. Johannes kam mit seinem Vater und fragte: „Und da ist die Seele rausge­flogen?“ So lag sie den ganzen Tag und die ganze Nacht, damit alle sie sehen konnten.

Als der Bestatter am nächsten Morgen kam, legten sie Dana ein Foto von sich und Johannes auf die Brust. Außerdem gaben sie die Engelgirlanden in den Sarg und ein T-Shirt des Kleinen, das grüne mit der roten Drei drauf, das Doreen ihm zum dritten Geburtstag geschenkt hatte.

Die Beerdigung war am 12. Januar, es lag viel Schnee. Die Pastorin hielt den Trauergottesdienst, sie sangen „Meine Heimat“, wie Dana es sich gewünscht hatte. „Sie wollte nicht, dass wir traurig sind“, sagt Tom K., darum stand er auf und wiederholte, was sie in einem der selbst gedrehten Videos gesagt hatte: „Ich finde es blöd, wenn ihr wegen mir depressiv seid!“ Später ließen sie Luftballons steigen, wer wollte, konnte auf Karten einen letzten Gruß schreiben. „Ich hab Dich lieb“, stand da. Oder: „Wir werden uns wiedersehen!“

Für viele war es das schönste Begräbnis, dem sie je beigewohnt hatten

Der Friedhof liegt außerhalb Potsdams, Dana hat ihn nie gesehen. Sie hatte ihn im Krankenbett ausgewählt, weil sie wollte, dass Kinder herumrennen dürfen. Und er sollte nicht um 20 Uhr schließen, weil es ja sein könnte, dass jemand sie auch danach besuchen möchte. Auf dem Weg über den Friedhof kam der Wagen mit dem Sarg nicht durch den hohen Schnee. Da haben alle mit angepackt und geschoben. Bis zu ihrem Grab. Für viele war es das schönste Begräbnis, dem sie je beigewohnt hatten.

In all den Wochen haben sich ihre Begleiter auch immer wieder gefragt, wie werde ich eigentlich mal sterben? „Hoffentlich so wie Dana“, sagt Heidi G., „mit großer Offenheit, mit großer Ehrlichkeit, auch sich selbst gegenüber.“ – „Sich verabschieden zu können, das ist wichtig“, sagt Danas Vater. Und auch Bernd Kämpfer, ihr Arzt, hat etwas gelernt von Dana: „Sie konnte immer noch etwas Schönes und Gutes finden, eine Haltung, die sehr hilfreich im Leben sein kann.“

Nach der Beerdigung hat sich der Freundeskreis nie wieder getroffen. Dana war der Mittelpunkt – wie bei einer Blüte die Mitte, die die Blütenblätter hält.

* Name von der Redaktion geändert

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Heute erfuhr ich vom Tod der Tochter meiner Patentante. Das Schicksal hatte es so gewollt, dass ich während dieser Zeit einen Abstand zu meiner Patentante hatte.
Tanja durfte am 09.06.2010, hoch aggressiver Brustkrebs, einschlafen.
Vor Weihnachten erfuhr ich vom Tod meines 2. Halbbruders, der 1. ist schon länger gegangen.
Sowohl die "Sterben und Tod" - Themenwoche auf NDR, als auch anschließend "Hand in Hand" sind nun für mich hilfreich, zu wissen, wie entlastend es für den Gehenden ist, wenn er endlich einschlafen darf.
Ich bin 43 Jahre. Tanja schlief mit 45 Jahren ein. Eine weitere, mir sehr wichtige Person in meinem Leben ging mit 47 Jahren in den nächsten Raum.
Bedingt durch die Weihnachtstage denken so viele einander, da erfuhr ich dann auch von meiner Bekannten, ihr Mann ist vor Kurzem in ihren Armen eingeschlafen.
Krebs - eine Qual.
Auch stelle ich mich darauf ein, demnächst in der Nachbarschaft zu begleiten. Diagnose Lungenkrebs, dem folgend Gehirntumor und nun auch die Metastasen in der Blase.

Dieses Tagebuch finde ich unendlich berührend, danke dafür. Es hilft mir, erahnen zu können, was meine Pateneltern durchgemacht haben: "Wenn du dein eigenes Kind an dieser Morphiumpumpe siehst, da ist alles aus. Das ist ein Zustand, den du nicht aushalten kannst." - Ich konnte den weiteren Worten nicht lauschen, da ich dieses grausame Bild vor mir hatte. Meiner Meinung nach ist es das allerschlimmste Schicksal, wenn dir das Kind aus dem Leben gerissen wird. Es gibt meiner Meinung nach nichts Schlimmeres. Und wie das Schicksal es einrichtete, heute, seit 2009, telefonierte ich das 1. Mal wieder mit meiner Patentante, haben sie den 51. Hochzeitstag. Meine Pateneltern sind unendlich stark. Und ich war gelähmt, weil ich nicht wusste, woher sie DIESE Kraft nehmen. Ich selbst finde es selbstverständlich, wie die Freunde und Familie von Dana, die erkrankte Person zu unterstützen. Ich erlebe allerdings das Gegenteil. Die Erkrankten und deren sehr nahes Umfeld schämen sich. Insofern danke ich Dana von Herzen, dass sie auf eigenen Wunsch dieses Tagebuch zugelassen hat. Ganz, ganz mutig, prima und vor allem selbstlos.
Momentan bin ich so erschöpft und traurig, dass Sterben so entsetzlich qualvoll sein kann, so dass ich nun selbt erst ein Mal um Tanja trauern muss.
Danke an Dana und das "Team", die Blüte, die die Blütenblätter trug.
(Als ich den letzten Satz las, dachte ich, alle Helfer sind sicherlich auch so sehr erschöpft, sodass sie eine Auszeit benötigen, wer weiß, ob sie eines Tages eine jährliche Erinnungsfeier an Dana veranstalten).
Herzlichst, L.

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