In der evangelischen Christuskirche in Bozen wurde Pfarrer Marcus Friedrich am 16. Oktober 2010 mit einem Festgottesdienst eingeführt.
Foto: privat
Dem Himmel so nah in den Bergen Südtirols
Dem Himmel so nah ist der evangelische Pfarrer in den Bergen Südtirols. Und dem Vatikan. Zum Glück herrscht Tauwetter

In der Sakristei ziehen gerade sechs Kinder ihre Messgewänder über, da muss ich sie enttäuschen: „Messdiener haben wir bei einer Beerdigung nicht!“ – „Ach so“, antwortet der katholische Ortspfarrer, „Sie machen einen reinen Wortgottesdienst.“ – „Ja.“ – „Keine Messe?“ – „Nein. Die Jungen und Mädchen könnten sich doch in die erste Reihe setzen und mal schauen, wie das bei den Evangelischen zugeht!“

Man kommt sich ja vor wie ein Spielverderber, denke ich so bei mir, während ich meinen schwarzen Talar zuknöpfe. Dem Bestatter hatte ich schon den Weihrauch ausgeschlagen, nun auch noch die Messdiener: raus! Es ist aber auch freundlich, dass der katholische Bruder mir für diese Beerdigung nicht nur seine Pfarrkirche, sondern auch ein  paar liturgische Assistenten leihen will. Vieles deutet darauf hin, dass dies die erste evangelische Beerdigung in dem barocken Kalterer Gotteshaus ist. Ein evangelischer Auswanderer aus Deutschland, der über 35 Jahre in Kaltern gelebt hatte, war alt und lebenssatt gestorben.

Umgeben von Katholiken

Seit dem 1. September 2010 bin ich Pfarrer der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde Bozen. Viel länger schon, seit ein, zwei Jahrzehnten, herrscht „Tauwetter“ in den ökumenischen Beziehungen zwischen Katholiken und Protestanten im „heiligen Land Südtirol“. So nennen die Menschen hier immer noch gern ihren von tiefer katholischer Frömmigkeit geprägten Landstrich. Großzügig werden uns die Kirchen geliehen. Und man muss sich auch nicht mehr sorgen, dass den Lutherischen die letzte Ecke des Dorffriedhofes angeboten wird. Für die, denen man keinen Platz auf der „geweihten Erde“ geben wollte, schufen die Gründungsväter unserer Gemeinde vor etwa 100 Jahren einen wunderschönen evangelischen Friedhof in Bozen. Auch katholische Christen sind dort heute unter den großen Bäumen beerdigt.

Achtzig Prozent unserer Gemeindemitglieder leben bereits länger als zehn Jahre in Südtirol. Die meisten der rund 500 Eingetragenen haben Wurzeln geschlagen und wohnen hier schon über Generationen. Die Gemeinde wächst, die Diaspora ist trotzdem spürbar.

Über Berg und Tal

Das 180 Kilometer lange und 80 Kilometer breite Gemeindegebiet reicht vom Brenner bis zum Gardasee und ist von drei unterschiedlichen Lebensräumen geprägt: der Stadt Bozen, der umliegenden Berglandschaft der Dolomiten und der Region Trentino. Die deutsch- und italienischsprachige Stadt Bozen, Hauptstadt der nördlichen Provinz in Südtirol, liegt in der Mitte. Hier stehen auch die rund 100 Jahre alte evangelische Christuskirche und unser Pfarrhaus, Mittelpunkte des gemeindlichen Lebens. Als Hauptstadt der freiheitsliebenden Südtiroler versucht Bozen, im europäischen Polit- und Kulturkarussell mitzumischen. Einmal hat sie es immerhin zu einem handfesten Skandal geschafft. 2008 wühlte ein gekreuzigter Plastikfrosch, eine Skulptur, die Bevölkerung auf und brachte das Museion, das Museum für zeitgenössische Kunst, über Nacht auf die Titelseiten europäischer Zeitungen. Freilich ein zweifelhafter Triumph!

Gen Norden und Osten liegen die verschlungenen Täler und Höhen des Weltnaturerbes Dolomiten. Sie bergen vor allem zwei Herausforderungen für den Pfarrer: Es gilt, Kontakt zu halten zu weit entfernten Gemeindegliedern, etwa im Pustertal, anderthalb Stunden Autofahrt dorthin sind Minimum. Und ich muss umgehen mit dem Hochzeitstourismus. Aus Deutschland kommen zahlreiche Anfragen für Trauungen im Idyll irgendeiner der Abertausend Bergkapellen, „weil wir hier immer so schöne Urlaube hatten!“ Kirche nur als Sahnehäubchen?

Richtung Süden wird´s mediterran

Im Süden des Gemeindegebietes beginnt die Provinz Trentino, wo das Italienische als Sprache und Lebensform die Musik des Lebens bestimmt. Die Provinzstadt Trient, jener für die Reformationsgeschichte denkwürdige Ort des Trienter Konzils, beheimatet heute eine kleine Gruppe der Gemeinde in einem Ökumenischen Zentrum. Treffe ich Alessandro Martinelli, die gute Seele des Hauses, der für uns die Orgel spielt, werde ich auf jeden Fall mit Küsschen begrüßt. Und nicht selten kommt es vor, dass wir nach einem ökumenischen Ereignis mit Orthodoxen, Waldensern und Katholiken in einer Pizzeria zu einem ausgiebigen Mahl eingeladen werden.

Außerhalb unseres Gemeindegebietes, im Osten, haben wir Verstärkung durch die evangelische Gemeinde Meran. Sie ist  Ausgangspunkt der Gemeindegründung hier in Bozen gewesen. Beide Orte, Meran und Bozen, waren Anfang des letzten Jahrhunderts
geprägt von kurenden Großbürgern und Adligen aus dem  deutschen Sprachraum. Unter anderem hat die Eisenbahnlinie von Wien über den Brenner für die erste touristische Belebung  in dieser Gegend gesorgt – und wieder vermehrt evangelische Christen nach Südtirol gebracht.

Erzwungene Entscheidung

Es liegt in der Geschichte des letzten Jahrhunderts begründet, dass die deutschsprachigen Südtiroler Italien mit wechselhaften Gefühlen wahrnehmen. Zwischen 1939 und 1943 zwang sie das Hitler-Mussolini-Abkommen zu der Entscheidung, entweder ins Deutsche Reich umzusiedeln oder die eigene Sprache und Kultur aufzugeben. Diese Zeit wird als „Option“ bezeichnet und hatte schwerwiegende Folgen: Familien wurden auseinandergerissen, die Südtiroler Gesellschaft gespalten.

Die Auswirkungen waren noch Jahre danach zu spüren. Andererseits und Gott sei Dank sind gemischtsprachige und gemischtkonfessionelle Ehen in Gesellschaft und Gemeinde heute gegenwärtiger denn je. Anscheinend wählen manche Familien auch bewusst diesen Lebensraum. Von beiden Sprachkulturen finden sie Gutes vor, und sie können die Vielfalt manchmal leichter bejahen als jene Beheimateten, die auf eine leidvolle Geschichte zurückblicken.

Blühende Rosen, Erdbeeren und Apfelbäume

Italien ist für uns aber auch die Chiesa Evangelica Luterana in Italia, mit der „himmlischen“ italienischen Abkürzung CELI: Cielo heißt Himmel. Seit 1945 bilden die 14 evangelisch-lutherischen Gemeinden eine eigene kleine Kirche mit Dekanat in Rom, pflegen nationale und internationale ökumenische Beziehungen und bilden auch Prädikanten aus. Die Gemeinden agieren engagiert und stolz im Mutterland der katholischen Kirche. Es gibt auch erstaunliche historische Traditionen: In der Venediger Gemeinde hängt ein Luther-Porträt von Cranach, ein Original.

Während ich diese Zeilen schreibe, sitze ich am offenen Fenster. Es ist April, draußen zwitschern die Vögel. Die Natur ist in den letzten Tagen über sich selbst hinausgewachsen. Und das sprunghaft wärmere Klima bringt komische Phänomene hervor: Rosen blühen zeitgleich mit Tulpen, Erdbeeren und Apfelbäumen. Ich freue mich schon auf die gemeinsame Reise zum Kirchentag und meine erste Synode in Rom, auf die Konfirmation und die gar nicht alltäglichen Gottesdienste jeden Sonntag, auf die strahlenden Klänge unserer feinen Orgel. Wir sind stolz auf einen gelungenen Arp-Schnitger-Nachbau und auf unseren guten Organisten. Leonhard Tutzer spielt gerne für die Evangelischen wegen Bach, Buxtehude und Konsorten und weil wir so gerne und kräftig singen. Ich freue mich auch auf die kritischen Nachfragen der Gemeinde auf meine Predigten.

Seit der Beerdigung, von der ich eingangs schrieb, ist der Sohn des Verstorbenen öfters in unseren Gottesdienst gekommen. Vielleicht hat er angefangen, seine geistlichen Wurzeln wieder zu spüren. Er ist evangelisch, hatte aber eine katholische Meranerin geheiratet, seine Kinder wurden katholisch groß. Die Trauerfeier war also doch evangelisch genug, trotz der Ave-Marias und anderer katholischer Bräuche, welche die Gemeinde in Kaltern von sich aus eingebracht hatte. Ich bin gespannt, wo ihn das hinführt, und dankbar: Das Evangelium lebt und belebt!

 

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Eine spannende und lebendige Gemeinde. Gott gebe weiterhin Kraft für die vielfältigen Aufgaben. Viele Grüße aus dem hohen Norden.

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