The Glowing Homeless, Pavillion 333, Pinakothek der Moderne, München, 2021
Jakob Bahret
Who's next - jeder kann obdachlos werden
Was tun gegen die steigende Zahl wohnungsloser Menschen auf der Welt? "Housing First" lautet das Stichwort - Menschen ohne Wohnung bekommen ein Dach über den Kopf, ohne Auflagen. Wie das gehen kann, zeigt eine Ausstellung in Hamburg mit vielen Best Practice Beispielen, auch aus Frankfurt am Main.
27.10.2022

Als Berufspendlerin zwischen Hamburg und Frankfurt passiere ich regelmäßig zwei der größten Bahnhöfe Deutschlands. In beiden Bahnhofsvierteln die gleichen Bilder und die gleiche Tendenz. Ich zähle eine steigende Zahl von Menschen, die rund um diese Anlaufpunkte auf der Straße übernachten. Auf dem Hinweg komme ich meist früh morgens in Frankfurt an und sehe beim Vorbeiradeln, wie Menschen ihre Schlafsäcke einrollen und irgendwohin verschwinden. Wenn ich dann, ein paar Tage später, meist spätabends wieder in Hamburg bin, kann ich nur Umrisse von Körpern erahnen. Tief eingegraben in ihren Schlafsäcken schlafen dort Menschen, oftmals auf Betten aus Pappe oder Papier.

Letzte Woche stand ich unter 43 leeren Schlafsäcken, die über Schnüren im Treppenaufgang des Museums für Kunst und Gewerbe in Hamburg hingen. 43 Symbole für 43 gestorbene obdachlose Menschen in Hamburg im Jahr 2021. Ein erschreckender Eindruck.

43 Schlafsäcke symbolisieren 43 gestorbene obdachlose Menschen in Hamburg

Who’s next – Obdachlosigkeit, Architektur und die Stadt“ heißt die Ausstellung, die schon in München lief und nun auch in Hamburg gezeigt wird. Meine Heimatstadt führt einen traurigen Rekord an: Fast 19 000 Menschen ohne eine Wohnung leben hier, fünfmal mehr als in jeder anderen deutschen Großstadt; 1021 Menschen pro 100 000 Einwohner sind das. Frankfurt liegt nach Stuttgart an dritter Stelle: 747 wohnungslosen Menschen pro 100 000 Einwohnern.

Krisengipfel und Duschbus entlasten nur kurzfristig

Jetzt kommt der Winter, die Zahlen werden wieder steigen, es wird wieder Tote geben.

Und das, obwohl alle deutschen Städte und Kommunen sich seit Jahrzehnten bemühen und teure Unterbringungsprogramme, Winternotunterkünfte, Duschbusse und wer weiß, was noch organisieren. Die Zahl der Obdachlosen steigt dramatisch.

Muss das so sein?

Das Beispiel Finnland zeigt: Es geht auch anders. Die Zahl der Obdachlosen sinkt, seit der Staat ganz offiziell ein Housing-First-Programm beschlossen hat.  Wer keine Wohnung hat, bekommt eine. Ohne Auflagen, ohne Drohungen, bei Missverhalten wieder auf die Straße geschmissen zu werden. In Deutschland praktizieren einige Städte und Kommunen bereits diesen Ansatz, doch immer sind es lokal oder regional begrenzte Aktionen. Was fehlt ist eine bundesweite Strategie, ein wirklich strategisches Umdenken. 

Die Ausstellung „Who’s next“ propagiert genau diesen Paradigmenwechsel. Gezeigt werden Best Practice Elemente aus der ganzen Welt. Obdachlose, Architekten und Stadtplaner*innen kommen in Filmen zu Wort, es gibt einen wirklich großartigen Begleitband. Die entscheidende Botschaft lautet: Obdachlosigkeit ist Ausdruck eines politischen Systemfehlers. Es gibt ein Grundrecht auf Wohnen, doch das wird weltweit missachtet.

Deshalb braucht es neue Ideen, weg von temporären, nicht nachhaltigen Ansätzen, hin zu langfristigen Modellen. Feststehende Häuser für Obdachlose beispielsweise. So eines wie das „O16“ in Frankfurt.

Eine in die Natur sich hineinspiegelnde Fassade - das "O16" in Frankfurt

„O16“ heißt das Haus, „O“ für „Ostparkstraße“, 16 für die Hausnummer. Mitgeplant und -gebaut hat es der Künstler und Architekt Michel Müller. Künstlerisch tätig war er in diesem Jahr bei der Dokumenta mit seinem "Fliegendem Künstlerzimmer"; zu "O16" habe ich mit ihm telefoniert, und er hat mir etwas zur Geschichte des außergewöhnlichen Bauwerkes erzählt.

Der Ostpark, in dem das Haus jetzt steht, war schon lange ein Fluchtort für obdachlose Menschen in der Stadt. Lange gab es prekäre Zeltlager, dann ein paar Container, jetzt das Haus. Es dient hauptsächlich als Notunterkunft mit kleinen Zimmern; aber es steht fest, bietet Schutz und wirkt mit seiner auffällig spiegelnden Fassade im Park wir ein Statement: Wir sind hier!

2009 kam der Auftrag an den Architekten vom Frankfurter Verein für Soziale Heimstätten und Michel Müller begann mit aufwändigen Recherchen und einem jahrelangen Partizipationsverfahren. Zusammen mit Künstler*nnen und Studierenden organisierte er Workshops; Modelle wurden gebaut, wieder verworfen, mit obdachlosen Menschen diskutiert.

Drei  Brillen - je nach Grad der gewünschten Öffentlichkeit

Besonders im Gedächtnis geblieben ist ihm ein Mann, der immer drei Brillen trug. Warum? Je nachdem, wie eng er die Außenwelt an sich ranlassen wollte. Drei Brillen – weit weg; eine Brille näher dran.

Eine schöne Geschichte; vielleicht, so Michel Müller, stimmte sie auch nicht, aber sie sei für ihn, den Architekten, eine gute Metapher bei der Planung gewesen. Wieviel Öffentlichkeit solle es in dem Haus geben? Wieviel Privatheit war unabdingbar für Menschen, die vielleicht jahrzehntelang nie einen privaten Rückzugsraum gehabt haben? 

Das Thema Rückzug  hat er mit einem gestalterische „Trick“ gelöst: Keiner der privaten Räume ist dank intelligent und gegeneinander versetzter Grundrisse am Eingang von außen einsichtbar. Grad der Öffentlichkeit also eher in Richtung drei Brillen...

Wichtig sei es auch gewesen, dass es keine „Angsträume“ auf dem Grundstück gibt. Angsträume sind Orte, aus denen es nur einen Ausweg gibt – für Menschen, die oft flüchten mussten, braucht es mehr als nur einen Ausgang. Das "Dialogische" in seiner Planung war ihm immer wichtig. Erst zuhören, dann umsetzen. Und später wieder hingehen und schauen, ob es funktioniert hat.

Ein Haus, wie das "O16" zeigt, was Architektur alles leisten könnte, wenn nach "menschlichem Maß" gebaut wird. Gibt es auch das Gegenteil? Eine Anti-Architektur, die sich gegen Menschen richtet?

Ja, sagt Michel Müller. So sei es heute völlig selbstverständlich, dass in Parks kaum noch Bänke, sondern nur Stühle stehen; auf Bahnhöfen gebe es sowieso kaum noch bequeme Sitzmöglichkeiten. Der Hintergrund, so Michel Müller, sei ein von uns allen akzeptierter „Pragmatismus“: „Da wird einfach so gebaut und geplant, dass Menschen sich in öffentlichen Räumen möglichst unwohl fühlen und nicht lange aufhalten.“

Die Ausstellung in Hamburg ist eine Reise wert!

Hörtipp: ARD-Podcastfolge über Housing First 

 

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Kolumne

Dorothea Heintze

Dorothea Heintze lebt in einer Baugemeinschaft in Hamburg und weiß aus eigener Erfahrung: Das eigene Wohnglück finden ist gar nicht so einfach. Dabei gibt es tolle, neue Modelle. Aber viele kennen die nicht. Und die Politik hinkt der Entwicklung sowieso hinterher. Über all das schreibt sie hier.