Wohnglueck Witzenhausen lena
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"Wir können klimaschonend leben"
Lena möchte auf einem Bauwagenplatz in Witzenhausen leben. Eigentlich eine gute Idee, denn bis vor kurzem wollte die Stadt noch eine Modell-Region genau dafür werden. Plötzlich drohen Strafgelder und Räumung. Echt jetzt?
Tim Wegner
22.07.2021

Eine seltsame Zeit, in der wir leben. Am letzten Sonnabend telefonierte ich mit Freunden in NRW. Entsetzen, Trauer, Mitgefühl. Wir sprachen über versiegelte Städte, begradigte Flussläufe, über die Ursachen des Klimawandels und wann und wo das nächste Unglück kommen würde. Denn dass Überschwemmungen und andere Folgen von Extremwetter passieren werden, wissen wir alle seit Jahren.

Einen Tag später, am Sonntag, stand ich mit Lena vor ihrem selbst zusammengezimmerten Zuhause auf dem Bauwagenplatz am Hang eV in Witzenhausen. Auf dem vom Verein gekauften Grundstück bauen sich gerade 9 Personen ein neues Lebensumfeld auf. Sie alle wollen hier genau das vermeiden, was jetzt in vielen Artikel als Mit-Ursache für die Hochwassermassen angegeben wird. Sie verbrauchen mit ihren kleinen Bauwagen wenig Ressourcen; sie versiegeln die Erde nicht mit Beton; nutzen Regenwasser und produzieren Strom über Solarpanele. Lena hat einen Master in der Ökologischen Landwirtschaft an der Uni Witzenhausen gemacht und ist der Überzeugung: „Wir können nicht ständig immer nur reden, was wir machen wollen, sondern wir müssen endlich auch handeln und unsere Lebensformen ändern. Wir wollen hier beweisen, dass ein Mensch auch mitten in Deutschland klimaschonend leben kann.“

Und wo bleibt die Modellregion?

Ob Lena eines Tages legal in ihrem ganz persönlichen "Wohnglück" am Hang leben kann, ist jedoch fraglich. Völlig überraschend hat die Stadt ihre grundsätzlich wohlwollende Haltung gegenüber den Bauwagenplatz-Projekten in und um Witzenhausen geändert – obwohl eine ebenfalls von Stadt beauftragte Machbarkeitsstudie noch gar nicht abgeschlossen ist. Lena und ihre Freund:innen hatten auf die Studie und den Experimentierzeitraum vertraut und Zeit, Energie und auch Geld in ihr Lebensprojekt gesteckt. Mittlerweile hat sich ihr Verein mit anderen Bauwagenplätzen zu einer Initiative zusammengeschlossen.

Pro-Bauwagenplatz-Plakat am Bahnof von Witzenhausen. Auch eine große Demo hat nichts gebracht

Vor Kurzem tagte die Stadtverordnetenversammlung. Die FDP stellte einen Antrag auf Räumung, Machbarkeitsstudie hin oder her. Auf den Plätzen würden viele Menschen doch schon jetzt dauerhaft wohnen und das sei ungesetzlich; auch Jäger und Landwirte fühlen sich gestört. SPD und CDU schwenkten um. Eine für Witzenhäuser Verhältnisse große Demo (an die 400 Menschen) änderte nichts. Nun drohen heftige Bußgelder und Räumung.

Bußgelder? Räumung? Trotz laufender Machbarkeitsstudie? Wo bleibt die geplante  Bauwagenplatz-Modellregion-Idee?

Die Lokalredakteurin hat auch keine Erklärung

Fragen, die ich an einem Sonntagnachmittag und mit wenig Platz hier im Blog nicht klären kann. Aber ich kann am nächsten Tag ein Telefonat mit der sehr kompetenten und freundlichen Lokaljournalistin und Redaktionsleiterin der Hessisch Niedersächsischen Allgemeinen führen. Friederike Steensen verfolgt das Geschehen um die Bauplätze schon seit längerem und schickt mir ein paar Artikel zur Erläuterung. Stimmt alles, was Lena mir erzählt hat: Modellregion, Machbarkeitsstudie, wohlwollende Grundhaltung, drohende Räumung, plötzlicher Schwenk und Gegendemonstration:

Der Sinneswandel in der Stadtverordnetenversammlung ist auch für Friederike Steensen nur schwer nachvollziehbar. Aber sie kann mir einiges erklären: „Teile der Kommunalpolitik pochen vor allem auf die Einhaltung der Gesetze - und derzeit ist das Wohnen im Außenbereich nun mal schlicht nicht erlaubt. Es sollte geduldet werden, so lange die Machbarkeitsstudie erstellt wird.“ Witzenhausen habe zwar den Ruf einer Öko- und Studentenstadt, tatsächlich aber sei die Bevölkerung hier sehr gemischt. Die Uni mit dem Schwerpunkt Ökologische Landwirtschaft sei ein wichtiger Arbeitgeber, aber eben nicht der einzige. Viele, die hier leben, wollen weiterhin uneingeschränkt ihr Auto nutzen, in den Urlaub fliegen und ihr Leben unbehelligt weiterleben. „Es gibt in Witzenhausen viele Menschen, die genervt sind von den Aufrufen und Ideen für ein nachhaltigeres Leben, die oft aus dem Umfeld der Agrarstudenten kommen. Sie sehen quasi ständig den erhobenen Zeigefinger der 'Ökos'“, beschreibt es Friederike Steensen.

Kann ich verstehen. Trotzdem: Mein Herz schlägt für Lena und ihre Mitstreiter:innen. In eine laufende Machbarkeitsstudie einzugreifen, finde ich skandalös.Wenn wir keine Best-Practice-Modelle ermöglichen, werden wir nie wissen, ob so etwas Wildes und Neues wie der Bauwagenplatz Am Hang auch in einem Gemeinschaftswesen wie Witzenhausen funktionieren und gesetzeskonform bewohnt werden kann….

Was tun?

Ich schicke meinen Blog einfach mal an den Bürgermeister von Witzenhausen Daniel Herz und an die Bauamtsleiterin Anja Strecker. Immerhin hat sich die Stadt selbst eine zukunftsweisende Agenda gegeben: Witzenhausen 2030.

Mal sehen, vielleicht melden die sich ja und erzählten mir ihre Sicht der Dinge. Fortsetzung folgt.

 

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Kolumne

Dorothea Heintze

Dorothea Heintze lebt in einer Baugemeinschaft in Hamburg und weiß aus eigener Erfahrung: Das eigene Wohnglück finden ist gar nicht so einfach. Dabei gibt es tolle, neue Modelle. Aber viele kennen die nicht. Und die Politik hinkt der Entwicklung sowieso hinterher. Über all das schreibt sie hier.