Zwei Hände, alt und jung fassen sich an..
Mirka from Pixabay
"Enkelin, lass es mich tun!"
Wegen des Krieges musste ich fast mein gesamtes Hab und Gut in meiner Heimatstadt zurücklassen. Aber es gibt eine Sache, die wertvoller ist als alles andere auf der Welt: Meine schönen Erinnerungen.
16.05.2023

Mein geliebter ukrainischer Großvater, der für mich ein Beispiel für einen äußerst respektablen Menschen und ein echter Mann war, starb zwei Wochen vor dem großen Krieg in der Ukraine. Wir standen uns sehr nah. Er kochte wahnsinnig leckeren Borschtsch und kannte viele Geschichten, die wir die drei Enkelinnen gerne hörten. Die letzten Wochen, in denen sich der Zustand des Großvaters plötzlich und stark verschlechterte, waren sehr schwierig. Er konnte nicht mehr alleine atmen und musste ständig ein Atemgerät durch das Haus tragen (und er weigerte sich, länger im selben Raum zu sitzen).

Es war sehr schmerzhaft für ihn und es war sehr schmerzhaft für mich, es anzusehen. Ich wusste, dass bald die Zeit kommen würde, von ihm Abschied zu nehmen, und so bat ich Opa im Dezember 2021, mir auf einem kleinen Zettel zu schreiben: „Für immer bei dir“. Ich hatte vor, mir diesen Satz nach der Beerdigung meines Großvaters tätowieren zu lassen. Er starb am 12. Februar und ich erinnere mich an ihn als sehr gutaussehend und sehr geliebt. Und dann…

Ich bin Gott dankbar, dass dies vor dem großen Krieg in der Ukraine geschah, denn wir hatten die Möglichkeit, meinen Großvater angemessen zu beerdigen. Später, als Russland begann Bomben auf die Häuser von Zivilisten zu werfen, wurde so etwas wie „die Beerdigung eines geliebten Menschen“ zum Luxus. In Städten wie Mariupol, Irpin, Bucha, Charkiw und Cherson starben Menschen durch Granaten direkt auf der Straße und ihre Leichen blieben mehrere Wochen dort. Viele konnten ihre Verwandten nie finden, um sie zu begraben. Deshalb bin ich wirklich Gott dankbar, dass mein Großvater diesen Krieg nicht mehr erlebt hat, auch wenn ich so sehr an ihm hing.

Alles war zu schnell

Der Krieg verhinderte, dass ich mich mental von ihm verabschieden konnte. Ungefähr drei oder vier Monate lang erlaubte ich mir nicht, zu trauern, über seinen Verlust und auch über mich; eben auch weil es vielen Ukrainer*innen viel schlechter geht als mir.   Eines Tages brach ich zusammen. Ich weinte stundenlang und bekam regelrechte Wutanfälle, auch gegen mich selbst gerichtet. In einem Moment absoluten Schmerzes wandte ich mich immer an ihn, an meinen geliebten Großvater. Ich sagte ihm, wie sehr ich ihn vermisse, wie sehr ich hören wollte, was er mir immer gesagt hatte: „Enkelin, lass es mich tun!“ Egal, welches Problem ich meinem Großvater vorbrachte, zum Beispiel schlechtes Wetter oder eine dumme Kollegin, er ging immer auf meine Wünsche ein und versicherte mir, dass er mir helfen könne. Und so war es oft. Er half mir, durch seine  entschiedene moralische Unterstützung und seinen Optimismus; und auch durch echte Taten: obwohl er eine Rente nur von zweihundert Dollar hatte, fragte er mich ständig, ob ich finanzielle Unterstützung bräuchte...

Ich habe das nich geschafft, aber...

Ich habe es nicht geschafft, dieses Tattoo zu machen. Ich erinnere mich noch genau daran, wie ich diesen Zettel mit der Handschrift von Opa ins Regal legte, damit ich diesen Satz immer vor Augen hatte. Ich dachte, es gäbe keine Eile, ich würde alles im Frühling nach der Veröffentlichung meines neuen Buches erledigen. Aber plötzlich, in all dem Chaos mit dem Krieg, verließ ich die gemietete Wohnung nur noch mit einem Laptop und Dokumenten und war bisher nie wieder da. Die meisten meiner Sachen sind verloren, andere hat meine Freundin eingesammelt und eingelagert. Ich hoffe, dass das Stück Papier nicht verloren gegangen ist, weil man den Opa nicht zurückbringen kann, um es noch einmal zu schreiben. Ja, ich hoffe...

Es gibt viele Berichte darüber, dass die russische Soldaten während der Besatzung ukrainischer Städte Wohnungen geplündert haben und Waschmaschinen, Toilettenschüsseln, Babydecken oder Damenbademäntel mitgenommen haben. Sie dachten wahrscheinlich, dass sie den Menschen die wertvollsten Dinge stehlen würden. Denn die Leute, die zu solch schrecklichen Taten fähig sind, ahnten nicht einmal, was Liebe ist. Sie wissen nicht, was die wahren Werte dieses Lebens sind. Und sie sind natürlich nicht in der Sache: Wir können definitiv neue Decken und Haushaltsgeräte kaufen. Ist es jedoch möglich, Dinge, die Erinnerungen und Gefühle speichern, erneut zu kaufen? Es ist unmöglich. Andererseits…

Egal, wie groß die Zerstörungen sind: Niemand kann uns unsere gesegnete Erinnerung nehmen. Und schöne Erinnerungen sind etwas, für das es sich lohnt, zu leben. 

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