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Ungerechte Triage
Menschen mit Behinderungen haben gekämpft - und gewonnen.
Portrait Hanna Lucassen, Redaktion chrismon, Redaktions-Portraits Maerz 2017Lena Uphoff
04.01.2022

Es ist zum Glück (noch) eine theoretische Diskussion. Bislang werden bei uns alle lebensbedrohlich erkrankten Menschen behandelt. Ist das örtliche Krankenhaus überfüllt, wird die Patientin in eine andere Klinik geflogen, auch in ein anderes Bundesland. Trotzdem: Die Fernsehbilder aus Bergamo stecken uns noch in den Knochen. Sie haben die Angst geschürt, dass auch wir irgendwann nicht genug Krankenhausbetten und Beatmungsmaschinen für alle haben. Wie sollen dann die Ärzte und Ärztinnen entscheiden, wer behandelt wird - und wer nicht?

Menschen mit Behinderungen treibt die Angst vor einem Triage-Szenario besonders um. Sie kennen es zu Genüge, hintenan zu stehen. In der Warteschlange. Bei der Arbeitssuche.
Und jetzt auch beim Kampf um Leben und Tod? So sehen das neun Betroffene, die bereits im Sommer 2020 Beschwerde beim Verfassungsgericht einlegten. Sie fühlen sich nicht genügend  geschützt, sollten die medizinischen Ressourcen einmal nicht mehr reichen. Jetzt erst gab es ein Urteil. Und das lautet: Sie haben Recht. Der Bundestag muss die Triage im Krankenhaus gesetzlich regeln. Und zwar dringend.

Es gibt schon Leitlinien

Das ist zweifelsohne gut. Weil diese Menschen für ihre berechtigten Anliegen kämpften und erfolgreich waren. Und weil die Intensivmediziner:innen nicht ganz alleine dastehen werden bei diesen furchtbar schweren Entscheidungen. Sie brauchen dringend Rückendeckung. Müssen gerüstet sein. Im Frühjahr 2020 formulierten Mitglieder von acht medizinischen Fachgesellschaften deshalb eine Leitlinie für solche Situationen. Diese gilt - in einer im November 2021 aktualisierten Fassung - bis heute. Darin steht: Das Alter der Patienten spielt keine Rolle, ebenso wenig soziale Merkmale, der Impfstatus, bestimmte Grunderkrankungen oder Behinderungen. Entscheidend sind die klinischen Erfolgsaussichten. Wer eine höhere Chance hat, mit der Behandlung zu überleben, wird eher behandelt.

Die Nummer 7

Behindertenverbände reagierten empört. Denn die Erfolgsaussichten des Patienten sollten auch anhand einer Gebrechlichkeitskala eingeschätzt werden. Diese hat neun Stufen. Stufe eins heißt: sehr fit, Stufe neun: terminal erkrankt. Sigrid Arnade, Aktivistin für die Rechte behinderter Menschen, sagte daraufhin in einem Interview mit dem Deutschlandfunk: „Ich habe mal geguckt: Wo liege ich denn auf dieser Skala? Ich bin bei Nummer 7, also, auf Assistenz angewiesen im Alltag, alleine kann ich nicht leben." Arnade sitzt im Rollstuhl, ihr Mann hilft ihr. Sie hätte ebenso große Überlebenschancen wie eine Gleichaltrige, die laufen könne, sagt sie, aber "verdammt schlechte Chancen, noch behandelt zu werden, wenn die Ressourcen knapp werden.“ 

Die Angst geht bei allen um. Bei Menschen mit Behinderungen in besonderer Weise. Umso besser, dass sie hellhörig sind und rechtzeitig die Weichen stellen. Für eine Situation, die hoffentlich nie eintritt.

 

 

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Man kauft einen gebrauchten PKW.
1. Zu € 12.000. Davon soll eine dringende Operation bezahlt werden.
2. Gleichwertig zu € 10.000, wovon eine Weltreise bezahlt wird.
Ist es eine Triage, wenn der Bedürftige verliert? Zwar hinkt der Vergleich, aber der Schwächere verliert. Die Zahlen durch das umgekehrte Alter ersetzt, zeigt die Alltäglichkeit des Problems

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