Mann mit Baby auf Bauch liegt auf Sofa
Mein Vater mit mir als kleines Baby
Sarah Zapf
Familie
Was bleibt, wenn der Vater geht
Mein Vater starb vor einem halben Jahr, unerwartet in der Nacht. Über die Vergänglichkeit und das, was bleibt
Julian Leitenstorfer
11.05.2023

Als wir meinen Vater im November beerdigt haben, hat es das erste Mal geschneit. Ein Vorbote des beginnenden Winters. Dabei hat mein Vater den Winter nicht gemocht. In der Trauerhalle war es trotz der zwei vor sich hin brummenden Heizkörpern sehr kalt, mein Mantel wärmte nur wenig.

Das Foto, das ich in den Nächten zuvor nach langer Suche auf meinem Laptop ausgewählt hatte, stand direkt in der Nähe des Rednerpults. Auf dem Bild hat er zumindest einen Hauch eines Lächelns. Schwarz-weiß haben wir es gewählt. Mir fiel schmerzhaft auf, dass ich so gut wie keine Fotos von meinem Vater habe, die nicht mehr als zehn Jahre alt sind. So lange hatten wir eine nur spärliche, durchwachsene Beziehung. Meine Eltern waren fast ebenso lange verheiratet wie sie getrennt sind. Fast 28 Jahre hat ihre Ehe gehalten, besonders die letzten Jahre waren aber eher ein Kampf. Meine Mutter zog nach langer Überlegung die Reißleine, wir zogen für ein Jahr aus und wieder zurück. Die Bereitschaft für eine Paartherapie, um die Ehe zu retten, hatte mein Vater nur bedingt.

Meine Mutter wurde mit 18 Jahren schwanger, mein Vater war da schon 31. Mein Vater absolvierte seinen Dienst bei der Nationalen Volksarmee, er übernahm in alter Handwerkertradition als Heizungsbauer den Betrieb seines Vaters Heinrich Florian Zapf in Annaberg-Buchholz, meiner Heimatstadt. Mein Großvater starb kurz nach der Hochzeit meiner Eltern mit Anfang 60. Ich habe ihn nie kennengelernt. Sehr feierlustig und herzlich ist er gewesen, so meine Mutter. Ich denke, der Tod meines Großvaters hat meinen Vater sehr beeinflusst.

Jede gute Begegnung mit ihm war für mich wertvoll

Drei der fünf Geschwister meines Vaters waren in der Zeit schon ausgereist, sie lebten in Westdeutschland. Mein Onkel schrieb einen undiplomatischen, emotionalen Brief und saß daraufhin ein, bevor er ausreisen durfte. Die Familie meines Vaters erlebte meine Mutter oft wie eine italienische Großfamilie, es wurde gezankt, laut diskutiert und getrunken. Die Familie kannte man in der Stadt. Die vier Töchter, meine Tanten, waren umschwärmt. Alle waren um ein Vielfaches älter als meine Mutter. Mein Vater hatte schon eine vergleichsweise wilde Zeit hinter sich, als die beiden heirateten. Dass mein Vater einen Sohn aus einer kurzen Beziehung lange vor meiner Mutter hatte, habe ich erst vor ein paar Jahren erfahren.

Vom Pfarrhaus im Dorf ging es für meine Mutter mitten in ihrer Ausbildung als Konditorin zum Hausbau. Es war mühsam, bis in die Nacht arbeiteten beide auf der Baustelle nach der Arbeit, meine Mutter auch noch, als sie hochschwanger war. Die Heirat war mehr oder weniger der obligatorische Schritt in der DDR, für meine Mutter aber auch ein Weg aus ihrem Elternhaus auszubrechen. Sie wollte immer eine gute Ehefrau und Mutter sein, auch um ihre Schwiegermutter zufrieden zu stellen. Meine Mutter konnte es ihr nie wirklich recht machen.

Beide haben ihre Fehler in der Ehe gemacht. Mein Vater hat bis zu seinem Tod meiner Mutter die Scheidung nie wirklich verziehen, Groll, Lethargie und Pessimismus machten neben einem starken Einfluss seiner Geschwister eine gute Vater-Kind-Beziehung nach der Trennung nahezu unmöglich. Es war auch für uns ein Kampf, ein Tauziehen, jede gute Begegnung war für mich wertvoll. Ich habe irgendwann akzeptiert, wie er ist. Wut hatte ich trotzdem immer wieder. Die ist erst nach und nach weniger geworden. Ich kann nicht über das Leben meines Vaters urteilen. Jeder hat seine Gründe für Handeln oder Nichthandeln, offensichtlich oder verborgen. Bewusst oder unbewusst. Auch wenn es schmerzhaft ist.

Mein Vater hat einen Großteil seines Lebens in der DDR verbracht, er ist 1948 geboren, nur ein Jahr später kam die Trennung des Landes. Mein Vater war ein sehr heimatbezogener Mensch, er sammelte in der DDR und lange nach der Wende neben etlichen Antiquitäten alte Ansichtskarten aus dem Erzgebirge und Böhmen. An der Wand hingen in meiner Kindheit Gemälde von Anton Günther, dem Volksdichter aus dem einstigen böhmischen Gottesgab in der tschechisch-deutschen Grenzregion. 

Oft unternahm mein Vater Spaziergänge im Wald, die letzten Jahre häufig mit seiner Lebenspartnerin. Er trank zeit seines Lebens zu viel. In den ersten Ehejahren mit seinen Freunden abends beim Kartenspielen, während meine noch junge Mutter alleine zu Hause mit ihrem ersten Kind war und auf meinen Vater am Fenster stundenlang bis in die Nacht wartete. Das zerstörte viel. Einige Male flüchteten wir uns als Kinder beim Streit meiner Eltern in das Zimmer meines Bruders, der mehr als zehn Jahre älter ist. Ein Schutzraum. Mein großer Bruder trinkt bis heute keinen Alkohol.

Die DDR prägte meinen Vater. In die Ferne wollte mein Vater nie wirklich reisen. Außer nach Hawaii. Ein sehnlicher Urlaubstraum inmitten des Sozialismus. Im Sommer dachte ich noch daran, den Wunsch zu erfüllen und einfach mit ihm dorthin zu reisen. Vielleicht spontan über Weihnachten. Ein erster wirklicher Vater-Tochter-Urlaub. Aussprechen konnte ich es nicht mehr, sicher hätte es da auch Probleme gegeben. Man malt es sich oft schön. Auch meinen dreißigsten Geburtstag hat mein Vater nicht mehr erlebt.   

Ein halbes Jahr vor seinem Tod hatten wir uns wieder etwas angenähert. Er musste akut ins Krankenhaus, ich besuchte ihn. Es fiel mir schwer. Er erholte sich, im Sommer holte ich ihn für einen Spaziergang ab, als ich meine Mutter besuchte. Wir saßen auf einer Bank, mit Kaffee und Kuchen, und redeten. Nach Karlsbad wollte mein Vater gerne, wir sprachen darüber. Wir wollten eine kleine Böhmen-Rundfahrt machen. Wir hatten uns endlich wieder etwas angenähert, schrittweise, nicht beständig, aber es fühlte sich schön an. Meine Großeltern kamen aus Böhmen, sie wurden nach dem Weltkrieg wie so viele vertrieben. Mein Vater sprach häufig davon. Mein Großvater sei aber nie in der sudetendeutschen Partei gewesen, überhaupt war er eher unpolitisch. Und er schaffte es irgendwie, aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft zu flüchten.

Ein halbes Jahr ist der Tod meines Vaters nun schon her.

Heute gibt es zu viele Fragen, auf die ich keine Antwort mehr erhalten werde. Mein größter Schatz sind all die Fotos, die mein Vater in vielen Alben gesammelt und beschriftet hat. Kistenweise habe ich die nach München mit genommen, in der Hoffnung, Antworten zu finden. Viele Fotos kenne ich nicht. Meine Mutter erklärt das eine oder andere Bild, das ich in den Händen halte. Die Hochzeit, die anstrengenden, jahrelangen Baumaßnahmen Anfang der 80er Jahre, die ersten Jahre der Kindheit meines großen Bruders. Und Personen aus der Familie, alte Freunde, Geschichten, die mich spüren lassen, dass mein Vater auf seine Art gelebt hat, wenn auch nicht so lange, wie ich es mir gewünscht hätte. Ich habe das Gefühl, ein Stück seiner Identität zu entdecken. Trotzdem bleibt der Schmerz, die Schuld, die Trauer über das, was nicht gewesen ist. Aber die Unruhe in mir wird weniger. 

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