Oma, mein Partner und sein bester Kindheitsfreund stehen auf einem Weg
Oma, mein Partner und sein bester Kindheitsfreund
Sarah Zapf
"Deine Eltern sind auf Dienstreise"
Hinter Gittern zu sein. Auf unbestimmte Zeit. Weil man einen Staat verlassen möchte. Für die Eltern meines Freundes ein Teil ihres Lebens.
Julian Leitenstorfer
30.03.2023

Ein schöner Sommertag in Jena im Jahr 1978. Es ist Mittagszeit im Schulhort. Eigentlich ein ganz normaler Tag.

Zwei Männer und eine Frau in Zivilkleidung stehen plötzlich im Raum. „Deine Eltern sind auf Dienstreise. Wir bringen dich jetzt zu deiner Oma.“ In einer schwarzen Limousine fährt mein Freund, unbedarft und nichtsahnend. Soweit er sich erinnern kann ein russisches Auto. Seine Kleidung war schon im Auto - säuberlich in einem Koffer verpackt. So als ginge es in den Urlaub.

Alles passierte schnell. Die Kinder im Hort, mit denen er wie so oft spielte, bekamen es gar nicht mit, dass er plötzlich nicht mehr da war. Auch nicht sein Freund Matthias.

Mein Freund übergab sich dreimal im Auto, sie mussten anhalten und rausfahren. Die Fahrt kam ihm unheimlich lang vor. Eigentlich fast wie der Auftakt eines guten Krimis, denke ich.

Angst und Verunsicherung

Bei seiner Oma in Thale im Harz saßen dann ungefähr sechs Leute im Wohnzimmer, wartend. Zwei Onkels, sein Opa. So genau weiß er es nicht mehr - nur, dass es sich wie eine große Menschentraube anfühlte. Eines hat sie alle verbunden: Sie waren verängstigt, als mein Freund ankam und einfach abgegeben wurde. Unbedarft und nichtsahnend blieb er. Nichts wurde ihm gesagt. Auch nicht die nächsten Tage. Oder die nächsten Wochen.

Erst nach einem halben Jahr teilte seine Oma ihm mit, dass seine Eltern im Gefängnis sind. Bis dahin dachte er, dass seine Eltern tatsächlich auf Dienstreise verweilen. Sie traute sich nicht, ihm die Wahrheit zu sagen. Zu schmerzhaft war es.

Mein Partner Christian (rechts) und sein bester Freund Helmut, der ihn im Harz besuchen kam

Im Jahr 1977 hatten sie einen Ausreiseantrag gestellt. Sie schrieben mehrere Briefe. An Franz Josef Strauß, sein Vater war großer Bewunderer des bayerischen Politikers. Deshalb wollte er gerne nach München, weg aus der DDR. Und einen Brief an Amnesty International. Mit einem Familienfoto, das in einem Westmagazin veröffentlicht wurde.

In der DDR wurde bei „Volksverrätern“ nicht lange gefackelt. Es ging schnell. Am nächsten Tag wurden alle durch die Stasi abgeholt - von der Arbeit, aus dem Schulhort. Sein Vater von Carl Zeiss, wo er als Ingenieur tätig war. Seine Mutter war Sekretärin im gleichen Betrieb.

Seine Mutter saß im berüchtigten Frauengefängnis Hoheneck bei Stollberg, keine halbe Stunde von meiner Heimatstadt entfernt. Sein Vater saß in Bautzen. Ich erinnere mich, dass wir in der Oberstufe Besuch von Zeitzeuginnen hatten, die in unserer Schulaula in einer abendlichen öffentlichen Diskussionsveranstaltung über ihre Gefängniszeit in Hoheneck berichteten. Mir gingen die Erlebnisse unter die Haut. Schlecht wurde mir. Aber nicht so, wie meinem Freund damals, als er abgeholt wurde.

Von einem zum nächsten Ort als DDR-Flüchtlinge

1979 wurden sein Vater und seine Mutter dann freigekauft. Und mein Freund wurde von Verwandten, die in Braunschweig lebten, von seiner Oma abgeholt. Es folgten verschiedene Stationen. Kressbronn am Bodensee. Wendlingen bei Stuttgart, wo seine Mutter kurze Zeit Arbeit bei Mercedes fand. Dann kamen sie nach München, in die Stadt von Franz Josef Strauß.

In der gesamten Gefängniszeit hatte er keinen Kontakt zu seinen Eltern. Wenn ich meinen Freund heute frage, so erlebt er die Entscheidung seiner Eltern, die ohne ihn getroffen wurde, im Rückblick nicht als Vertrauensbruch. Damals war er verunsichert. Und wütend, weil er von einer zur nächsten Sekunde von seinen Freunden getrennt wurde, mit denen er bis dahin eine glückliche Kindheit verbracht hatte.

Heute denke ich oft stärker über diese Erlebnisse nach als mein Freund. Auch, weil ich in bestimmten Situationen eine kindliche Anhänglichkeit erlebe - und die Angst, verlassen zu werden. Vielleicht Ausdruck in seinem Verdrängungsmechanismus.

Dass sich die Familie wiedergesehen hat, ist ganz und gar nicht selbstverständlich. Hätte es keine Oma gegeben, wäre mein Freund vielleicht in ein DDR-Kinderheim oder zu einer Pflegefamilie gekommen. Für mich fühlt sich das heute wie Risiko auf Kosten des Kindes an. Aber ich möchte mir kein Urteil erlauben. Denn alle, die damals den Mut hatten, einen Ausreiseantrag zu stellen und damit eine unbestimmte Zeit im Gefängnis in Kauf zu nehmen, hatten ihre ganz persönlichen Gründe. Mein Freund hätte auch kein Abitur, kein Studium ablegen können. Und ich hätte ihn vermutlich nie kennengelernt.

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