Gummistiefel stehen auf einer Fussmatte an einer Eingangstür.
Gummistiefel stehen auf einer Fussmatte an einer Eingangstür.
Getty Images/iStockphoto/Ktmophoto
Wie mich (auch) die Kanzlerin zum Ossi machte
11.02.2019

Liebe Anne,

darüber habe ich ehrlich gesagt noch nie nachgedacht - ob man das so sagen darf, dass die Mauer „fiel“. Ich wurde zumindest noch nie korrigiert, wenn ich es gesagt habe. Vielleicht ja, weil ich selbst Ossi bin? Vielleicht haben deine Gesprächspartner in Meißen das Gefühl, einem „Wessi“ gleich die richtige Terminologie beibringen zu müssen? Nimm es ihnen nicht übel, sie sind sicher froh, dass mal jemand von „drüben“ kommt und alles ganz genau wissen will.

Ja, ich war erst drei, als die Mauer fiel oder gefallen wurde oder wie auch immer. Eigentlich noch zu jung, um mich an irgendetwas zu erinnern. Aber der Tag hat sich aus einem ganz anderen Grund in mein Gedächtnis gebrannt. Ich weiß noch, dass meine Familie in ein großes Gasthaus in der Nähe fuhr, in dem es unglaublich voll und heiß war. Alle Leute standen, jubelten, und es lief ein Fernseher, der irgendwie wichtig zu sein schien. Meine Mutter hielt mich auf dem Arm und trug mich irgendwann nach draußen, als wir wieder nach Hause fahren wollten.

Im Gedränge war aber einer meiner Stiefel verloren gegangen, was ich erst merkte, als es am Fuß plötzlich kalt wurde. Wieso ich mir das bis heute gemerkt habe? Weil der Stiefel nie mehr aufgetaucht ist, obwohl wir gleich nach ihm gesucht haben. Und das hatte es in meiner Welt noch nie gegeben - dass etwas für immer weg war, was gerade noch da gewesen war.

Erst viele Jahre später habe ich verstanden, dass die Menschen damals die Grenzöffnung feierten. Vorher hatte ich geglaubt, es wäre vielleicht Silvester gewesen. Auch dass das Gasthaus im Westen lag, gleich hinter der Grenze, keine zehn Minuten mit dem Auto entfernt, wurde mir erst später klar. In meiner bewussten Wahrnehmung hatte es diese Grenze nie gegeben, auch wenn mir die Geschichten vom Todesstreifen, von verminten Wäldern noch lange erzählt wurden.

Erst im Studium, im Westen war diese Grenze plötzlich wieder da, und sie verlief durch die Köpfe vieler meiner Kommilitonen. Wie ich im Westen zum Ossi wurde, habe ich dir ja schon erzählt. Aber wusstest du, dass dazu sogar die Kanzlerin ein wenig beigetragen hat? In den ersten Semestern meines Studiums war sie nämlich einmal zu Besuch in Würzburg gewesen und hielt eine Rede auf dem historischen Marktplatz, der ein wenig aussieht wie der in Meißen.

Es war irgendeine Wahlkampfveranstaltung, die plötzlich von einer kleinen Gruppe von Studenten gestört wurde. Kurz zuvor waren nämlich Studiengebühren in Bayern eingeführt worden, zu unser aller Verdruss. Ein paar Sprechchöre ertrug Angela Merkel stoisch schweigend, dann musste sie doch reagieren. Warum sich die Protestierenden denn beschwerten, fragte sie. „Sie können doch froh sein, dass sie in Bayern Abitur machen durften.“

Da waren nicht nur die Protestierenden baff, sondern auch ich. Glaubte die Kanzlerin, ausgerechnet die Ost-Kanzlerin wirklich, jeder, der in Bayern studierte, habe auch hier Abitur gemacht? Ich hatte das zum Beispiel nicht und meine Kommilitonen gaben mir schon oft genug zu verstehen, dass mein Thüringer Abitur weniger wert sei als ihres. Außerdem war es bei der Demonstration um etwas völlig anderes gegangen.

Dass die Meinung von jungen Menschen so schnell kleingemacht wird, erleben wir heute wieder bei den Fridays-for-Future-Protesten, die in den Augen vieler Erwachsener ja nur eine gute Gelegenheit zum Schule schwänzen sind. Wann fangen wir endlich an, einander wirklich zuzuhören - egal, ob Ossi oder Wessi, ob jung oder alt? Die Proteste in Bayern haben übrigens schließlich dazu geführt, dass die Studiengebühren schon bald wieder abgeschafft wurden.

Nächstes Mal erzähle ich wieder etwas von Frankfurt, Anne! Ich glaube nämlich, ich bin hier einer ziemlich heißen Sache auf der Spur…

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