Tahora Husaini Ausstellung Memory Boxes
Tahora Husaini
Schreibmäppchen, Taschentücher, eine Kekspackung
Tausende von Menschen starben in den letzten Jahrzehnten in Afghanistan durch den Terror. Hinter jeder Zahl steht ein Mensch, ein Schicksal, eine Familie. Auch ich hätte ein Opfer sein können - was läge dann in meiner Memory-Box?
Tahora HusainiPrivat
06.09.2022

Während aller Epochen und Regime in Afghanistan wurden unzählige Menschen getötet. Sei es wegen ihrer Rasse, Religion oder politischer Aktivitäten gewesen oder weil sie völlig grundlos Opfer eines Krieges wurden. Während des Königreichs von Abdur Rahman Khan im späten 19. Jahrhundert wurden die Hazara unterdrückt, vertrieben und ermordet. Dawood Khan und seine Anhänger vernichteten jegliche Opposition. Politische Morde durch die Demokratische Partei sowie die Angriffe der Mujahideen, Taliban und verschiedener terroristischer Gruppen forderten tausende von Opfern. NATO und die USA bezeichnen die vielen durch sie getöteten Zivilisten als „Kollateralschäden“.

In Geschichtsbüchern enden sie dann in Statistiken und Übersichtsgrafiken. In den Nachrichten werden Todeszahlen angesagt wie Lottozahlen. Hinter den Zahlen verbergen sich Menschen wie du und ich, die Ziele und Träume hatten. Kinder, die auf dem Weg zur Schule waren oder draußen spielten. Männer, die auf Arbeit waren, um ihre komplette Familie ernähren zu können. Studierende an der Universität, die studierten für eine bessere Zukunft.

In Berlin wird jetzt eine Ausstellung gezeigt: „Afghanistan Memory Boxes“ heißt sie. Organisiert hat sie eine Initiative der afghanischen Menschenrechtsorganisation AHRDO, die persönliche Gegenstände von Opfern öffentlich zeigt. Acht Boxen von acht Gewaltopfern der vergangenen vierzig Jahre. Zu jeder Box liegt jeweils ein Foto und eine kleine Geschichte eines Familienangehörigen bei. Der Anblick der Boxen und die Geschichten der Familien sind nur schwer zu ertragen.

Immer mit Uni-Heftern unterm Arm

Eine der Boxen enthält die persönlichen Erinnerungsstücke eines 22-jährigen Polytechnik-Studenten, der auf seinem Weg zur Uni wegen eines Terroranschlags sein Leben verlor. Als sein Bruder ihn nicht unter den Toten finden konnte, begann er in den Krankenhäusern der Stadt nach ihm zu suchen. Schließlich fand er seinen Bruder blutüberströmt in einer der überfüllten Notfall-Stationen und veranlasste sofort einen Transfer in eine bessere Klinik, doch er verstarb eine Woche später. In seiner Memory-Box befinden sich Vorlesungsmitschriften, ein Füller, ein Bleistift, Haargel und ein Rasierer.

Ich erinnere mich noch gut an die jungen Männer, die in Kabul studierten. Immer mit Uni-Heftern unterm Arm und einem kleinen Tuch um den Hals, mit dem sie Mund und Nase bedeckten, um sich vor dem vielen Staub zu schützen. Wenn sie einer jungen Frau begegneten, blickten sie schüchtern auf den Boden. Stolz strichen sie sich über ihren frisch gewachsenen Bart und redeten mit ihren Kommilitonen über die anstehenden Prüfungen. Vielleicht hatte er den Rasierer in der Hoffnung gekauft, dass dann sein Bart schneller wachsen würde.

Und heute? Wollen sie einfach nur überleben

In einer Ecke der kleinen Box fiel mir ein Büchlein auf, in dem englische Wörter und deren persische Übersetzungen aufgeschrieben waren. Ich hatte früher ein ganz ähnliches Buch, in dem ich jeden Tag meine neu gelernten Englischvokabeln notierte. Gute Englischkenntnisse waren äußerst wichtig, wenn man einen Job bekommen wollte. Meine Hände fingen an zu zittern, als ich mir das Büchlein des Jungen genauer ansah. Ich erinnerte mich an den Tag, als ich auf dem Weg zur Uni war und plötzlich ein lauter Knall alles zum beben brachte. Die Polizei hatte die Universitätsstraße komplett abgesperrt und lies niemanden durch. Ich fragte, ob ich bitte zur Uni dürfe, weil meine Vorlesung gleich begann. „Nein, es gab ein Selbstmord-Attentat. Geh‘ nach Hause.“

Wäre ich an diesem Tag nur wenige Minuten eher zur Universität gekommen, wäre ich jetzt vielleicht nicht mehr am Leben. Mit etwas Glück hätte man dann auch für mich eine kleine Memory-Box aufgestellt. Vielleicht auch mit Schreibmäppchen, Taschentüchern oder einer Kekspackung. Oder aber man hätte mich vergessen, so wie die meisten anderen.

Zu jener Zeit war ich voller Hoffnung und Zielstrebigkeit. Vorm Sterben hatte ich keine Angst, aber ich fürchtete zu sterben, bevor ich meine Ziele erreichen konnte und die Welt gesehen hatte. Also entschied ich mich, Afghanistan zu verlassen und meine Träume zu verwirklichen. Aber wie viele haben gerade jetzt die Möglichkeit, das Land zu verlassen, nicht nur um ihre Träume zu verwirklichen, sondern einfach nur um zu überleben?

Informationen:
Die Menschenrechtsorganisation »AHRDO – Afghanistan Human Rights and Democracy Organization« arbeitete bis zur Eroberung Kabuls durch die Taliban vor Ort. Die »Memory Boxes« wurden in einem dafür eingerichteten Museum in Kabul ausgestellt, bis die Aktivist*innen des Projekts im letzten Jahr flüchten mussten und über Umwege nach Kanada gelangten.

 

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