Junger Mann Javad in Berlin
Junger Mann Javad in Berlin
Tahora Husaini
Javad - der Ingenieur
In Kabul ruhte die Hoffnung der Familie auf dem begabten jungen Javad. Dann kamen die Taliban, Javad floh - bekommt er in Berlin jetzt eine echte Chance?
Tahora HusainiPrivat
31.05.2022

Einige Momente im Leben brennen sich ins Gedächtnis ein und manchmal reicht allein der Klang einer Stimme, dass man sofort wieder dahin zurückversetzt wird. So geht es mir zumindest mit meinem Cousin Javad, jedes Mal, wenn ich ihn spreche. Immer dann erinnere ich mich an unser kurzes Telefonat am 15. August 2021 um 11:30.

Als er ans Telefon ging, hörte er sich an, als hätte er gerade einen Marathonlauf hinter sich. Ich hatte Geld für meine Familie geschickt und wollte ihn bitten, es so schnell wie möglich abzuheben, bevor den Banken kein Bargeld mehr zur Verfügung steht. Doch dafür hatte er kein offenes Ohr. „Die Taliban sind mit ihren Flaggen in Kabul einmarschiert! Es ist alles vorbei. Ich bin auf dem Weg zum Flughafen.“ Dann legte er einfach auf. Danach rief ich seine Mutter an. Sie erzählte mir nur, dass Javad kurz zuvor in die Wohnung gestürmt kam, seinen Reisepass holte und ihnen sagte, dass sie sich vielleicht nie wieder sehen würden.

"Das Flugzeug ist halb leer..."

Am nächsten Tag waren die Nachrichten voll von Bildern des völlig überfüllten Flughafens in Kabul. Javad war immer noch dort. Gebannt saß ich vor dem Fernseher, mit meinem Telefon in der Hand, in der Hoffnung, dass er sich meldet. Schließlich rief er mich an: „Schwester, ich habe es endlich ins Flugzeug geschafft. Ich wünschte, meine Familie wäre mitgekommen. Das Flugzeug ist fast leer, die meisten wurden nicht reingelassen.“

Nach einem Monat in der Ukrainie, sieben Monaten in Militär- und Flüchtlingscamps in der Slowakei, einer Festnahme durch die deutsche Grenzpolizei und einer Nacht im Gefängnis, hatte Javad endlich seine Aufenthaltsgenehmigung erhalten und konnte mich letztlich in Deutschland besuchen. Auf ihn zu warten erinnerte mich daran, als ich acht Jahre alt war und jeden Tag nach der Schule gespannt war, endlich meinen neugeborenen Cousin zu treffen. Wegen einer Frühgeburt musste er länger im Krankenhaus bleiben, doch schon bald durfte er mit nach Hause kommen. Unsere ganze Familie versammelte sich um Javad und jeder versuchte, ihn zum Lachen zu bringen.

Er reparierte alles

Ein lächelnder, verspielter und aufgeweckter Junge, der oftmals für Verärgerung sorgte, weil er regelmäßig Kühlschränke, Radios und andere elektrische Geräte auf dem Gewissen hatte. Wir gaben ihm den Spitznamen „Javad, der Zerstörer“. Doch schon nach einigen Jahren begannen alle, ihn „Javad, der Ingenieur“ zu nennen. Familienmitglieder und Nachbarn brachten elektronischen Geräte aller Art zu ihm und er reparierte sie.

Zwei meiner Brüder, die beide Filmemacher sind, wurden zu Javads Vorbildern. Er begeisterte sich für Fotografie und begann Kurzfilme zu kreieren, gefilmt mit seinem Handy. Als er feststellte, dass seine Fotos und Filme zur finanziellen Unterstützung seiner Familie nicht ausreichten, schaute er sich nach einer Arbeit um. Er war so intelligent und talentiert, dass wir uns alle sicher waren, er würde ein erfolgreicher Ingenieur werden. Doch die schlechte finanzielle und gesundheitliche Situation seiner Familie nahmen ihm den Wind aus den Segeln. Dennoch gab er nie auf und suchte ständig nach Wegen, seine Träume wahr werden zu lassen.

Als ich letztes Jahr vor dem Einmarsch der Taliban in Kabul zu Besuch war, erzählte er mir mit einem bitteren Lächeln, dass er nicht die Fortschritte gemacht hatte, die er sich erhoffte. „Es ist wie verhext. Ich bin auf vieles vorbereitet, aber ich habe große Angst, dass die Taliban kommen und mich als Soldat einziehen. Lieber würde ich sterben. Davor fürchte ich mich mehr, als von einer Bombe getötet zu werden, so wie es zwei meiner Arbeitskollegen passiert es.“

Vielleicht hat er zum ersten Mal eine reale Chance

Bei seinem Besuch in Berlin hatte Javad, trotz der schweren Zeit fern von seiner Familie, wieder ein Lächeln im Gesicht und blickte hoffnungsvoll in die Zukunft. „Im Leben läuft nicht alles wie geplant, aber jetzt bin ich zumindest in Sicherheit und kann schon bald an der Uni studieren.“ In der Slowakei arbeitet er jeden Tag in einem indischen Restaurant und ist inzwischen an der Uni eingeschrieben. Das war immer sein großer Traum. Er musste damals in Kabul sein Studium abbrechen, weil er nicht genügend Geld hatte.

Ich bin froh zu sehen, dass er sich trotz der schwierigen Umstände auf seine Zukunft konzentriert und seine positive Einstellung behalten hat. Doch hinter seinem Lächeln und Optimismus verstecken sich viel Schmerz und Wut, die ihn noch einige Zeit begleiten werden. Ich brachte ihn noch zum Bahnhof. Diesmal fiel mir der Abschied leichter als die vielen anderen Male in Kabul. Zum ersten Mal hat er die reale Chance auf eine bessere Zukunft.

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