Tahora Husaini Kabul Flughafen
privat
"Entweder Du gehst allein, oder Du bleibst hier."
Nur die Schwester von Tahora Husaini hätte ausreisen dürfen. Den vierjährigen Sohn, die Familie zurücklassen? Alle blieben in Kabul.
Tahora HusainiPrivat
27.09.2021

Von Beginn an, als meine beiden kleinen Geschwister auf die Welt kamen und ich mich um sie gekümmert habe, entwickelte ich mütterliche Gefühle für sie. Von Zeit zu Zeit wurde ich von furchtbaren Alpträumen geplagt. Alpträume von einem Krieg, in dem ich kämpfen muss, um meine Geschwister zu retten.

Diese Träume verfolgten mich sogar noch in meiner Zeit in Deutschland. Immer wenn ich aufwachte, fragte ich mich, was das zu bedeuten hatte – der Krieg war doch lange vorbei.

Wir spielten Verstecken im Maisfeld, als der US-Hubschrauber kam

Als mein Bruder Paya zwei oder drei Jahre alt war, lebten wir in einem Häuschen in Kabul, wo wir Mais anbauten. Wir liebten es, in den hochgewachsenen Feldern Verstecken zu spielen.

Das Bild ist eine kostbare Erinnerung, als ich mit meinem kleinen Bruder und meiner Schwester in unserem Maisfeld am Haus Verstecken spielte

Eines Tages tauchte plötzlich ein Hubschrauber der Amerikaner auf und umkreiste uns in einer ohrenbetäubenden Lautstärke. Paya schrie lauthals vor Angst. Von diesem Tag an war mein Bruder ängstlich und hasste laute Geräusche. Regelmäßig patrouillierten amerikanische Militärhubschrauber unsere Häuser und jedes Mal rannte ich sofort zu Paya, um ihn fest in meine Arme zu schließen.

Ich riet meiner Schwester, mit der Familie zum Flughafen zu gehen

Während der letzten Tage der Evakuierungsmission aus Kabul rief mich meine ältere Schwester an und meinte, dass lediglich ihr Name auf der Liste der Franzosen stehen würde. Die restliche Familie wurde nicht vermerkt, nicht einmal ihr 4-jähriger Sohn. Ich riet ihr, trotzdem gemeinsam zum Flughafen zu gehen, in der festen Überzeugung, dass man sie nicht von ihren engsten Angehörigen trennen würde. Als sich meine Familie dann zum Flughafen aufmachte, blieb ich im ständigen telefonischen Kontakt mit ihnen. Meine Schwester beklagte, wie heiß es sei, dass tausende Menschen in engstem Gedränge versuchten zum Flughafen zu gelangen und dass sie es nicht länger aushalten würden.

Soldaten, Waffen, meine weinende Schwester - die Bilder lassen mich nicht mehr los

Ich ermutigte sie, stark zu sein und noch etwas Geduld zu haben. Nach vielen Stunden des Wartens, Durst und extremer Hitze, erreichten sie endlich das Eingangstor, welches zu diesem Zeitpunkt nur durch einen tiefen Abwasserkanal zugänglich war. Ein Soldat las ihre Namen und stellte dann fest, dass tatsächlich nur meine Schwester auf der Liste zu finden war. Er sagte ihr: „Entweder gehst du allein oder bleibst hier mit deiner Familie.“ Meine Schwester fing an, laut zu weinen und schließlich drängte der Soldat sie gewaltsam mit seiner Waffe zurück.

„Sie haben uns nicht hineingelassen. Bitte hilf uns! Wir stehen bis zur Brust im Wasser und haben unsere Sachen verloren. Ich kann Mutter und Paya nicht finden.“ Dann bricht das Telefonat plötzlich ab und ich kann meine Familie nicht mehr erreichen. Ich rufe sämtliche Bekannte und Freunde an, in der Hoffnung, irgendwie Hilfe zu bekommen. Doch immer lautet die Antwort nur „Es tut mir leid.“

"Wir standen fünf Stunden im Abwasserkanal"

Acht Stunden später geht dann meine Schwester endlich ans Telefon: „Wir sind wieder zu Hause. Mein Akku war leer und Payas Telefon wurde gestohlen. Wir standen fünf Stunden lang im Abwasserkanal“, erzählt sie. Ich bitte sie, sich keine Sorgen zu machen und verspreche, alles zu tun, um sie doch noch herauszuholen. Ich verstehe jetzt die Bedeutung meiner Alpträume. Es fühlt sich an, als hätte mich das Universum vorgewarnt – und trotzdem kann ich sie jetzt nicht beschützen.

Obwohl mein Bruder jetzt schon siebzehn Jahre alt ist, sehe ich immer noch den kleinen Jungen, um den ich mich kümmere. Doch während ich in meiner Wohnung in Berlin sitze, trägt er auf seinen Schultern stundenlang meinen kleinen Neffen durch einen Kanal voller Fäkalien und Müll. Er ist jetzt der Mann der Familie in einer Zeit voller Angst und Horror.

PS: Zur Zeit habe ich nur telefonischen Kontakt – sie sagen mir, es ginge ihnen gut. Ich hoffe, es stimmt.

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