Fatima malt ein Bild in Frankreich
Tahora Husaini Fatima
privat
Kabul, 7. August 2021
Während die Taliban immer näher an die Hauptstadt vorrückten, fürchteten sich Familien um die Sicherheit ihrer Töchter. Genau ein Jahr ist es jetzt her, als ich aus Kabul abreisen musste.
Tahora HusainiPrivat
09.08.2022

„Mein Liebes, ich weiß, du hast keinen Platz mehr, aber nimm diese Sachen doch bitte noch mit für meinen Sohn und meine Enkel.“ Meine Tante überreichte mir ein traditionelles afghanisches Kleid für ihre Enkelin Sara, eine kleine orangefarbige Uhr, die ihr Enkel Amir immer in Videoanrufen bewunderte, Babyklamotten, eine Puppe, Nüsse und eine riesige Packung Grünen Tee. Entgeistert sah ich mir meine ohnehin überfüllten Koffer und den Berg an Sachen an, den ich noch mitnehmen sollte. Der Großteil davon war für Verwandte und Freunde. „Liebe Tante, ich habe wirklich keinen Platz mehr. Der Tee bleibt hier. In Hamburg gibt es unzählige afghanische Läden, in denen ich Tee kaufen kann.“

Als ich versuchte, alles in meine Koffer zu stopfen, ging einer der Reißverschlüsse kaputt und alles fiel heraus. Ich war ziemlich verärgert darüber, die letzten Stunden meines Aufenthalts mit Packen zu verbringen, anstatt mit meiner Familie. Doch ich hatte eine Vorahnung, dass dies mein letzter Besuch in der Heimat gewesen sein könnte, also wollte ich so viel, wie nur möglich, mitnehmen.

Plötzlich fiel mir ein, dass für meine beiden Geschwister noch Geburtstagstorte im Kühlschrank war. In den letzten Jahren hatte ich ihre Geburtstage immer verpasst, daher wollte ich das irgendwie nachholen und alles auf einmal feiern. Meine kleine Schwester Pari schlief schon. Dennoch holte ich die Torte und weckte sie auf. Wir bereiteten noch etwas Tee zu, schnitten die Torte an und fingen an zu reden.

Die Töchter werden noch schnell verheiratet

Mein Onkel erzählte, dass die Taliban von Tag zu Tag mehr Provinzen einnehmen und dass die afghanischen Soldaten keine Unterstützung von der Regierung erhalten. Daraufhin erzählte meine Mutter von unserer Nachbarin, die sich große Sorgen um ihre Töchter machte. Man hörte viele Geschichten von verschleppten Mädchen. Deshalb organisierte sie für das kommende Wochenende eine Hochzeit für ihre beiden Töchter. Sie zu verheiraten, wäre besser, als sie in die Hände der Taliban zu lassen.

Meine Cousine Fatima, die sich an meine Tante klammerte, hörte unserer Unterhaltung aufmerksam zu. „Ich habe blonde Haare und ich sehe aus wie eine Barbie. Was, wenn die Taliban in meine Schule kommen und mich mitnehmen?“ (Ihr Haare sind braun, aber in Afghanistan bezeichnen wir Haare als „blond“, sobald sie nicht schwarz sind)

Um die Atmosphäre etwas aufzulockern, witzelte meine Schwester darüber, dass die Taliban in die Schule kommen und eine Durchsage über die Lautsprecher machen würden: „Frau Fatima Hussaini, bitte kommen Sie und legen Sie sich in den Sarg, den wir für Sie vorbereitet haben.“ Wir konnten darüber alle lachen, außer Fatima. Bangend hielt sie die Hand meiner Tante: „Bitte Vater, lass uns von hier fortgehen.“

Keiner konnte mehr lachen

Tröstend sagte ihr mein Onkel, dass sie keine Angst haben muss. Falls sie kommen, werde er sie aufhalten. Er würde sein Leben für sie opfern. „Das wird mich nicht retten. Sie werden dich erst töten und mich dann mitnehmen.“ antworte Fatima weinend. Da verging meinem Onkel das Lachen und er starrte nur noch stumm die Blumen auf dem roten Teppich an.

Ihre Mutter starb, als Fatima noch ganz jung war. Alle kannten sie als ein sehr ruhiges Kind, immer vertieft in ihre Schulbücher. Wenn sie traurig war, malte sie Bilder. Einmal erzählte sie mir, dass sie eine unabhängige Frau werden und die ganze Welt bereisen möchte. Aktuell bereitete sie sich auf ihre Abschlussprüfung vor. Sie erinnerte mich sehr an mein jüngeres Ich.

Ich sah meine ganze Verwandtschaft an und stellte mir plötzlich vor, wie unsere Türen eingetreten werden und Männer mit Gewehren hineinstürmen. Sofort unterbrach ich meine Horrorvorstellungen und fragte meinen Onkel, warum er und seine Familie nicht nach Iran gehen. Sicherlich nicht die beste Lösung, aber wenigstens wären sie dann in Sicherheit. Mein Onkel mochte Iran nicht. Er hat die meiste Zeit seines Lebens dort als Arbeiter verbracht und schwere körperliche Probleme wegen der harten Arbeit bekommen. Er wurde schlecht bezahlt und sein Chef behandelte ihn miserabel. In Afghanistan verkaufte er Kekse und Taschentücher. Meistens reicht das Geld nicht einmal für eine Mahlzeit am Tag. Er war sehr schwach und wurde oft krank.

"Wie sollen wir uns ein Leben im Iran leisten?"

Nochmals versuchte ich ihm ins Gewissen zu reden: „Aber Onkel, du bist für die Sicherheit deiner Töchter verantwortlich.“ Wie immer versuchte er die Stimmung durch einen Witz aufzulockern und sagte, er würde seiner Nachbarin gleichtun und zwei gute Ehemänner für seine beiden Töchter finden. Meine Cousinen waren ziemlich verärgert und schrien ihn an, doch er lacht nur. Dann sah er mich in ernster Miene an: „Ich habe überhaupt kein Geld. Ich kann nicht einmal die Stromrechnung bezahlen. Wie könnte ich mir jemals für die Reise- und Visakosten nach Iran für sechs Personen aufkommen? Und wie sollen wir uns das Leben im Iran leisten?“

Trotz meines negativen Kontostands und dem Geld, was ich mir für den Flug nach Kabul geliehen hatte, konnte ich beim Anblick meiner Cousinen nicht anders: „Ich werde für alles bezahlen, ich verspreche es. Bitte fangt an, die Ausreise zu planen. Ich werde euch Geld schicken, sobald ich wieder in Berlin bin. Bringt bitte die Mädchen von hier weg.“ Das Leuchten in Fatimas Augen kam etwas zurück und sie hatte ein kleines Lächeln im Gesicht.

Dank großzügiger Spenden von Freunden, Kollegen und vielen hilfsbereiten Menschen sind sie jetzt, nach all den traumatischen Erlebnissen, endlich in Sicherheit. Aber ich weiß, dass auch viele andere Familien in dieser Nacht ähnliche Unterhaltungen führten. Doch sie haben niemanden, der ihnen hilft. Ich frage mich, wie viele Mädchen letztes Jahr zwangsverheiratet wurden. Wenigstens Fatima, im Gegensatz zu ihren Klassenkameradinnen, kann auf eine gute Zukunft hoffen.

Anmerkung der Redaktion: In vielen Medien wird an den Jahrestag der Invasion und den Beginn der Taliban-Diktatur erinnert. Sehenswert ist dieser Rückblick in der ARD: Die Story - Afghanistan, ein Jahr später.

 

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