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Flüchtlinge zweiter Klasse
Wer aus Afghanistan flüchtete, durfte nur Kinder unter 18 Jahren mitnehmen. Doch in Afghanistan herrscht ein ganz anderer Familienbegriff. Auch ältere Kinder gehören zur Kernfamilie ebenso die alten Eltern. In der Heimat waren sie eine große Familie - die ist jetzt zerrissen.
Tahora HusainiPrivat
11.04.2023

Unterschiedliche Gesellschaften haben ihre eigenen Definitionen und Strukturen, aber die Familie wird allgemein als solche anerkannt, unabhängig vom politischen oder kulturellen Kontext. In Konflikt- oder Notsituationen haben die Sicherheit und das Wohlergehen der Familienmitglieder Vorrang, unabhängig von ihrem Alter oder anderen Faktoren.

Die jüngste Evakuierung von afghanischen Ortskräften durch die deutsche Regierung hat jedoch gezeigt, dass die politische Definition von Familie starr ausgelegt wird. Nur der Ehemann oder die Ehefrau und Kinder unter 18 Jahren kamen für eine Evakuierung infrage, für andere Familienmitglieder gab es keine Flexibilität.

Ich habe an Workshops zur Familienzusammenführung teilgenommen, da meine eigene Familie den gleichen Prozess durchmacht und mein Vater noch nicht zu uns kommen konnte. Ich habe die Verzweiflung der Menschen erlebt, die versuchen, ihre Familienmitglieder in Gefahr zu retten. Sie haben Aufnahmebescheide erhalten und mussten ihr Heimatland verlassen, in der Hoffnung, zu einem späteren Zeitpunkt wieder mit ihren Angehörigen vereint zu werden. Doch sie wurden enttäuscht, weil die Politik der Regierung so unflexibel ist, dass sie nicht die Absicht hat, Familien zusammenzuführen.

„Meine Familie ist wegen meiner Arbeit für die deutsche Regierung in Gefahr und ich kann sie nicht in Sicherheit bringen. Wie kann ich in Frieden leben, wenn ich mir jede Sekunde meines Lebens Sorgen um ihre Sicherheit mache?“

„Meine 19-jährige Tochter wurde zurückgelassen, ich hatte gehofft, sie hier herholen zu können, aber es gibt keine Möglichkeit. Bitte zeigen Sie mir einen Weg.“

„Ich musste meinen 21-jährigen Sohn zurücklassen. Sie sagten, ich könne ihn nicht mitnehmen. Was ist das für ein Land? Es tut mir in der Seele weh“.

„Ich habe meine Mutter zurückgelassen. Mein Vater ist im Krieg gestorben und sie ist ganz allein in Afghanistan und hat keine Arbeit. Sie ist krank und ich bin hier. Wie kann ich mein Leben leben, wenn ich mir ständig Sorgen um sie mache?“

Die meiste Zeit des Workshops wurde damit verbracht, sich die verzweifelte Lage von afghanischen Ortskräften anzuhören. Der Konflikt hat dazu geführt, dass Familien auf der Suche nach Sicherheit und Überleben in verschiedene Länder zerstreut wurden. Einige sind in den Iran, nach Pakistan oder Tadschikistan geflohen, Länder mit extremen Bedingungen für Asylsuchende, insbesondere für Afghanen. Die Iraner selbst stehen vor wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen und haben Schwierigkeiten, Arbeit zu finden, um zu überleben, ganz zu schweigen, von den Afghanen, die seit Jahrzehnten diskriminiert werden. Einige entscheiden sich, in die Türkei zu gehen und riskieren damit, nach Afghanistan abgeschoben zu werden. Enttäuscht vom Verfahren der Familienzusammenführung versuchen andere, auf illegalem Weg nach Europa zu gelangen, in der Hoffnung, ihre Angehörigen wiederzusehen.

In Paragraf 22 des Aufenthaltstitels, der für afghanische Arbeitnehmer gilt, heißt es, dass die Person für die Familienzusammenführung jedes Familienmitglied finanziell unterstützen und über ein bestimmtes Gehalt für jede eingeladene Person sowie über genügend Platz in ihrer Wohnung für jeden verfügen muss. Nachdem der Rechtsberater im Workshop diese Informationen mitgeteilt hatte, gab er verärgert zu, dass selbst er als Vollzeitbeschäftigter in Deutschland nicht in der Lage sei, jemanden nach Deutschland zu holen. Er kritisierte die Schwierigkeit, mehrere Familienmitglieder nach Deutschland zu bringen, wenn die Person neu im Land ist, die Sprache nicht beherrscht und verschiedenen starken Belastungen ausgesetzt ist. Es scheint, dass die deutsche Regierung diesen Paragrafen absichtlich so gestaltet hat, um afghanischen Ortskräften die Familienzusammenführung zu erschweren.

„Seit der Machtübernahme hat Deutschland mithilfe der Zivilgesellschaft rund 26.000 afghanische Ortskräfte aufgenommen. Die meisten von ihnen leben jedoch unter schwierigen Bedingungen in Flüchtlingslagern, während Millionen von Ukrainern als Geflüchtete erster Klasse behandelt werden“, sagt Shirin, die seit letztem Jahr als Beraterin für afghanische Geflüchtete vor Ort arbeitet.

Warum wird das Notprogramm nicht umgesetzt?

Im Oktober 2022 kündigte die Regierung das Bundesaufnahmeprogramm an und versprach, jeden Monat Tausende bedürftige Afghanen aufzunehmen. Die Nachricht wurde begeistert aufgenommen, doch sechs Monate später ist noch kein einziger Afghane angekommen. Viele Familien hatten gehofft, mit ihren Angehörigen wiedervereint zu werden, doch nach monatelangen Versuchen standen sie vor verschlossenen Türen. Das Programm ist unklar und schließt Angehörige von Armee und Polizei aus. Nur Personen, die sich in Afghanistan aufhalten und besonders gefährdet sind, gefoltert oder getötet zu werden, können sich registrieren lassen. Dies hat dazu geführt, dass viele Menschen aus den Nachbarländern nach Afghanistan zurückgekehrt sind und ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben. Die Unklarheit des Programms hat die Enttäuschung und Hoffnungslosigkeit vieler Afghanen verstärkt.

Wer gehört zur Kernfamilie? Jede Kultur hat ihre Definition. Für Flüchtlinge aus Afghanistan stellt sich die Frage: Sollte die Definition von Richtlinien und Normen im Falle von Konflikten und humanitären Krisen nicht neu definiert werden?

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Vielen Dank für den interessanten Beitrag. Wir möchten gern mit unseren Erfahrungen etwas beitragen: Wir haben für 33 unserer sog. "Ortskräfte" eine Aufnahmegenehmigung nach § 22 erhalten. Diese konnten Töchter, die älter als 18 Jahre alt waren, sowie alleinstehende Frauen (wie Schwester oder Mutter) mit nach Deutschland bringen, sofern diese mit ihnen zusammen im Haushalt gelebt hatten, d.h. der Vater/Bruder/die Mutter für sie gesorgt hatten. Das BMZ, das für uns zuständig war, war sehr kooperativ.
Leicht ist es natürlich für viele trotzdem nicht. Sie konnten zwar das Bundesland wählen, in dem sie ihr neues Leben beginnen wollten, aber nicht die Stadt, es sei denn sie hatten eine Zusage, dass Wohnraum für sie bereit stand. So sind manche in einem Dorf gelandet, obwohl sie in die Großstadt wollten. Einige von ihnen haben immer noch keinen Deutschkurs bekommen, obwohl sie seit über einem Jahr in Deutschland leben. Viele wohnen noch in Flüchtlingsunterkünften, manchmal ohne eigene Küche oder Bad, und warten auf ihre eigene Wohnung. Eine Familie wohnt zu fünft in zwei Zimmern. Eine andere in einem Containerdorf. Alle vermissen ihre Heimat, ihre große Familie wie Eltern und Geschwister, egal wie alt sie sind. Sie vermissen ihre Kultur, ihre Feste und Gewohnheiten.
Glücklich ist der Vater eines schwerstbehinderten Kindes, das nun endlich Physiotherapie erhält und Unterricht in einer speziellen Schule, in der er gut betreut wird. Seine Schwester ist bei ihm. Sie und seine Frau sind gerne hier in Deutschland. Seine anderen Kinder besuchen die Schule oder Kindergarten. Er hat schon recht gut Deutsch gelernt und wird hoffentlich irgendwann auch eine Arbeit finden. Da er früher Lehrer war und dann für uns im Büro tätig war, wird sich hoffentlich etwas finden, aber auch für ihn ist eine Aus-/Fortbildung nicht so einfach.
Weiterhin erreichen uns Bitten von Menschen in Afghanistan - Schüler:innen, Bekannte usw. -, die sich Hilfe von euch wünschen, um Afghanistan zu verlassen. Eine Kollegin bemüht sich darum, dass in Hamburg ein Landesaufnahmeprogramm etabliert wird, um einigen Familien zu helfen. Das Bundesaufnahmeprogramm ruht offenbar zurzeit, weil neue Sicherheitsvorkehrungen aufgebaut werden sollen.

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