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Vielen Dank für das Gespräch
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
19.09.2017

Vorgestern hatte ich das Vergnügen, bei einer Preisverleihung zu helfen. Wim Wenders wurde in Bochum mit dem protestantischen Hans-Ehrenberg-Preis geehrt. Ich hatte ein Gespräch mit ihm und Heinrich Bedford-Strohm, dem Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland, zu moderieren. Zur Vorbereitung hatten Wim Wenders und ich diese Email-Korrespondenz.

Kino – eine moralische Anstalt?

jhc: Herr Wenders, das Kino ist sicherlich keine moralische Anstalt. Dennoch die Frage, ob es einen humanen Charakter haben kann. Worin könnte er bestehen?

WW:  In der simplen Annahme, dass Filme durchaus lebensdienlich oder menschenfreundlich sein können und vor allem Fragen beantworten können, nämlich die einfachste, aber auch dringlichste von allen: „Wie soll man leben?“ Die möglichen Antworten darauf werden heutzutage immer komplexer und vielschichtiger und undurchsichtiger. Wer bemüht sich überhaupt noch um solche Fragen? Die Kirche historisch gesehen am meisten, aber leider versagt sie heute auch oft am meisten. Wenn man einmal davon absieht, wie unermüdlich einzelne, beispielsweise Papst Franziskus, sich solchen Fragen stellen.

Das Kino als populäres und weltumspannendes Medium zeigt hin und wieder, was es alles kann und wie gründlich es auf Existenzfragen eingehen kann. Wenn es nur will. Hier gilt aber leider dasselbe wie für alle Medien: „Gute Nachrichten sind keine“, niemand will den Geruch einer „moralischen Anstalt“ an sich haben. Das ist heute einfach uncool. Obwohl gerade das mehr gebraucht würde als je zuvor.

Den erstaunlichsten Reichtum an Mut, sich allen Fragen zu stellen, gibt es in der zeitgenössischen Musik, ich wüsste nicht, welches andere Medium sich beispielsweise zum Thema „Tod“ so explizit geäußert hätte wie Leonhard Cohen in seinem letzten Album „You Want It Darker“ oder David Bowie mit „Blackstar“ oder Nick Cave mit „Skeleton Tree“.

Musik – Pop und spirituell

jhc: Musik spielt immer eine große und eigene Rolle in Ihren Filmen neben den Bildern und Geschichten. Wie ist Ihr Verhältnis zu geistlicher Musik oder zur spirituellen Qualität von Musik?

WW:  Über Bach geht bei mir gar nichts. Wenn es wirklich hart auf hart geht, hilft mir keine andere Musik besser, zu mir zu kommen. Musik ist die „immateriellste“ aller Künste, wenn ich das mal so vereinfacht sagen darf, und deswegen auch so geistlich. Sie verbindet Menschen anders als Worte und Bilder. Sie trägt weniger „Bedeutung“, ist dafür aber umso assoziativer. Ich glaube kaum, dass zwei Menschen dieselbe Musik hören können. Aber gut, das mag bei einem Gedicht ähnlich sein, dass es in jedem Menschen anders anklingt. 

Was ist Wahrheit?

jhc: Als Dokumentarfilmer, aber auch als Autor fiktionaler Filme: Was ist für Sie Wahrheit im Film, was verstehen Sie unter Wahrhaftigkeit?

WW:  „Wahr“ hat so wie das englische „true“ vier Buchstaben und ist in den Zeiten von „alternativen Fakten“ zu so etwas wie einem Unwort geworden, wofür es im englischen Sprachgebrauch den Ausdruck „four-letter-word“ gibt. Gut, der Begriff ist für Schimpfworte geprägt worden, aber genau dazu sind diese Worte wie „real“, „true“, „good“ und eben „wahr“ ja auch verkommen. Das will ja niemand mehr in den Mund nehmen. Ist “Wahrheit“ nicht gerade im öffentlichen Leben komplett beliebig geworden? In einer Zeit, in der es ein Pendant dazu gibt, die „alternativen Fakten“?

Ich mag deswegen ihr schönes deutsches Wort „Wahrhaftigkeit“ viel lieber! Dahin führt durchaus noch ein Weg, gerade in meinem Beruf oder Handwerk des Filmemachens. Das mag im Dokumentarfilmbereich mehr auf der Hand liegen als in Spielfilmen, aber in beiden Gattungen gibt es sowohl ein Lügen als auch ein Weglassen von Wahrheit als auch eine fortwährende Suche nach ihr. „Wahrhaftigkeit“ bezeichnet doch vor allem ein Streben nach etwas Wahrem, den ständigen Versuch, ihm nahe zu kommen. Weil man davon ausgeht, dass es das gibt, ein Wahres. Auch in einer Geschichte. Dabei meine ich nicht den gerade im Kino so beliebten Ausdruck, etwas sei „nach einer wahren Geschichte“ verfilmt. Wenn ich das vor einem Film lese, habe ich immer gleich die größten Bedenken, was seinen möglichen Wahrheitsgehalt angeht, wenn ich nicht eh gleich lauthals lachen muss. Diese entweder tautologische oder sich selbst ausschließende Definition steht ja allzu oft nur da, um einer beliebigen Fiktion „Glaubwürdigkeit“ zu verleihen. Da ist jetzt noch so ein schönes deutsches Wort im Spiel: Wann ist etwas „glaub-würdig“? Wenn es von „Wahrhaftigkeit“ zeugt, also Wahrheit an ihm haftet?

Man könnte von hier ausgehend seitenlange Definitionen schreiben. Für mein Teil glaube ich, dass auch Geschichten, also pure Fiktion, die man sich ausgedacht hat, einen Grad von Wahrhaftigkeit haben können, so dass die Charaktere darin durchaus „glaubhaft“ sein können, mitunter sogar „wahrer“ werden können als Personen in Dokumentarfilmen, denen man ja a priori „Glaubhaftigkeit“ nachsagen will, von denen ich aber nur zu genau weiß, wie gerne sich da hinter dem Mantel des Dokumentarischen durchaus Geflunkertes und Halbwahres verbergen kann.

Wie wahrhaftig ein Mensch oder eine Figur in einem Film ist, das kann man ja nur ahnen, nicht wissen. Ein Wissen davon wäre erst aus der Summe eines Lebens abzulesen. So wie im Falle von Hans Ehrenberg, eines wahrhaft „wahrhaftigen“ Menschen. Aber jetzt reden wir darüber, wie erst Taten den Worten wirklich „Wahrhaftigkeit“ verleihen.

 

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