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Lesen in Zeiten von Corona
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
13.03.2020

Ob es an meinem zunehmenden Alter oder gar an meinem Geschlecht liegt? Eine betrübliche Tatsache ist, dass ich mich viel seltener als früher für Romane begeistern kann. Zwar lese ich immer noch viel und gern, aber vor allem Historisches und Sachliches, kaum Erzählerisches. Eine jüngere Frau und Branchenkennerin erklärte mir, dass sei bei den meisten älteren Männern so. Schmeichelhaft fand ich das nicht, doch erinnerte es mich an einen Ausspruch meines über 90 Jahre alten Patenonkels: „Ich lese keine Romane mehr, ich habe selbst genug Geschichten erlebt. Ich muss mir nichts mehr erzählen lassen. Meine letzten Tage will ich dafür nutzen, diese verrückte Welt zu verstehen.“ Das kann ich nachvollziehen, obwohl ich erst Mitte 50 bin. Sachliche Informationen etwa über neue Gesundheitsgefahren ziehen mich mehr in den Bann als manches neue Erzählwerk.

Dennoch bedauere ich es, dass ich nicht mehr wie als Jugendlicher oder Student in dicken, tiefen Erzählwerken versinken kann. Unsere Welt lernen wir ja nicht nur über historische oder soziologische Fach- und Sachbücher kennen, sondern mindestens ebenso dadurch, dass wir uns von Menschen, ihren Schicksalen und Taten, ihren Gedanken und Gefühlen, ihrer Traurigkeit und Liebe erzählen lassen. Indem wir für die Zeit der Lektüre mit ihnen leben und leiden, werden wir hinausgeführt aus unserer engen kleinen Umwelt, lernen wir, mit den Augen anderer zu schauen, gewinnen wir ein tieferes, emotional reicheres Verständnis für andere, werden sie uns zu Mitmenschen – obwohl es sie ja streng genommen gar nicht gibt.

Aber diese schöne Einübung in Mitmenschlichkeit bekomme ich immer seltener hin. Die meisten Romane der aktuellen Frühjahrs- oder Herbstkollektion, die ich zur Hand nehme, lege ich bald wieder aus der Hand. Sie sprechen nicht zu mir, ich komme nicht in sie hinein. Ich stoße mich an konstruierten Handlungen, nach Aufmerksamkeit schreienden Themen, einer allzu oft flachen Sprache. Eine Zeitlang wollte ich mir einreden, meine Leseunlust hätte ihren Grund darin, dass ich schon so viele große Werke gelesen hätte und deshalb für heutige Bestseller-Ware verdorben sei. Doch das war ein Selbstbetrug. Der eigentliche Grund ist, dass ich keine Zeit habe – besser gesagt, mir die Zeit nicht mehr nehme. Einen guten Roman zu lesen, ist mehr als flüchtiges Unterhalten-Werden, sondern eine durchaus anspruchsvolle, anstrengende Unternehmung. Man muss – altmodisch gesprochen – Einkehr halten bei einem Buch, also sich abkehren von all den allgegenwärtigen Ablenkungen, die die Medien oder das Internet anbieten. Es ist fast ein klösterlicher Akt, der während einer Pandemie aber plötzlich hochmodern wirkt: Man setzt sich an einen ruhigen Ort, nimmt nur dieses Buch in die Hand, legt alles andere weg, neigt den Kopf und tut nichts anderes, als eben zu lesen. So hält man nicht nur sozial Abstand, sondern man kommt so aus der Zerstreuung und zur Besinnung. Allein darin schon liegt die tiefe Verwandtschaft zwischen dem Buch und dem Glauben, der Literatur und dem Christentum begründet: Man versenkt sich in eine ganz andere Welt, um sich selbst und die eigene Zeit in einem neuen Licht zu sehen.

Manchmal muss man aus dem Alltag herausgerissen werden, um in das eigentümliche Glück des Lesens zurückzufinden. So verschaffte mir vor meiner aktuellen „home office“-Existenz vor wenigen Wochen ein kleiner Klinikaufenthalt eine Schonzeit von zwei Tagen, in denen ich mich endlich wieder in einem Roman verlieren konnte. Eine Kollegin hatte mir schon vor langer Zeit Kazuo Ishiguros „Was vom Tage übrig blieb“ (1989) ans Herz gelegt – Mundpropaganda ist ja immer noch die beste Werbung für Literatur. Ich hatte dieses Buch damals übersehen, jetzt nahm ich es mir vor und war wie gebannt von dieser Geschichte eines englischen Butlers, der sein ganzen Leben einem Lord widmet, der sich am Ende als dessen unwürdig erweist, so dass vom Tag am Ende nichts übrigbleibt. So tragisch, so bitter, so anrührend und komisch las sich das, dass mir dieses 30 Jahre alte Buch plötzlich als der beste Kommentar zur gegenwärtigen Brexit-Misere erschien. Romane sind eben doch die besten Brücken über Zeiten und Kulturen hinweg. Und sie schaffen einen heilsamen Abstand zu den Aufregungen und Gefährdungen der Gegenwart.

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