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Kultureinrichtungen geschlossen – Gottesdienste möglich
Nun bin ich schon so lange im Geschäft und weiß eigentlich, dass Religion als öffentliches Thema fast nur über Empörungen „funktioniert“, und doch bin ich jedes Mal perplex, wenn ich mit einer neuen Erregung konfrontiert bin – jetzt aus einer für mich ganz unerwarteten Richtung.
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
03.11.2020

Die zweite Welle der Pandemie versetzt viele Menschen in Angst, die Maßnahmen dagegen aber stoßen auf erhebliche Kritik. Das kann ich nachvollziehen. Dass gerade Kultureinrichtungen schließen müssen, tut mir und vielen in meiner Kirche weh. Wir sind ja auch selbst davon betroffen: Konzerte, Lesungen, Diskussionen sind auch bei uns nicht mehr möglich. Dabei gehört es zum Kern unseres Selbstverständnisses, dass wir unseren Glauben auch kulturell gestalten und teilen, Religion ist für uns nicht zuletzt eine Bildungssache. Nun habe ich mir erklären lassen, dass viele Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie einzeln betrachtet willkürlich wirken – oder es auch sind. Die Hoffnung ist aber, dass sie zusammen das notwendige Signal an die Bevölkerung senden: Es ist sehr ernst! Ob das als Begründung reicht?

Froh war ich immerhin darüber, dass wir weiterhin Gottesdienste feiern können. Vor einem halben Jahr waren wir ja von gewissen Willkürlichkeiten betroffen: Wir durften keine Gottesdienste feiern, aber Bau- und Getränkemärkte waren offen. So richtig sinnig war das nicht. Damals hatten wir auf elementare Rechte verzichtet, um – nach damals bestem Wissen und Gewissen – unseren Beitrag zu leisten. Dafür haben wir jedoch von einigen heftige Kritik erfahren. Doch jetzt finden wir uns überraschend und ohne eigenes Zutun auf der anderen Seite wieder: Wir bleiben offen, Kultureinrichtungen aber nicht. Dabei fühlen wir uns gerade mit Museen, Konzerthäusern, Kinos oder Theatern eng verbunden.

Umso unvorbereiteter traf mich die Kritik von einigen Journalisten, Schriftstellerinnen und Menschen in den sozialen Netzwerken. Die Kirchen sollten sofort ihre Gottesdienst absagen! Ich verstehe die Frustration, die sich in solchen Kommentaren Luft verschafft. Aber ich empfinde diese Kritik als unfair. Befremdet bin ich vor allem über eine semantische Verschiebung: Für mich ist Religionsfreiheit ein allgemeines Menschen- und ein Grundrecht, für unsere Kritiker aber scheint es ein „kirchliches Privileg“ zu sein, das sich überlebt habe. Ist das nicht ein gefährliches „Framing“? Man macht aus einem Grundrecht ein Privileg für wenige seltsame Leute (i.e. Christen), also einen ungerechten Luxus, den man nach Belieben abschaffen kann oder vielleicht sogar muss? Was geschieht, wenn man andere Grundrechte einem solchen „Framing“ unterzieht? „Kunstfreiheit als Privileg für Künstler“? Lieber nicht!

Gerade gegenwärtig zeigt sich, wie kostbar und bedroht auch die Religionsfreiheit ist. Wir sehen das in Deutschland besonders bei den bedrohten Synagogen. In Europa ist zudem eine deutliche Zunahme an vandalistischen Angriffen auf Kirchen zu beobachten, vor allem in Frankreich. Zudem sollte der islamistische Terrorakt in der Kathedrale von Nizza nicht zu schnell vergessen werden. Das Recht, seine Religion frei – unter Einhaltung aller Hygieneregeln – auszuüben, ist ein Indikator für die Humanität einer Gesellschaft. Dazu gehört übrigens nicht nur der Gottesdienst im engeren Sinn, sondern genauso – und das kann man gar nicht deutlich genug betonen – die Seelsorge, also der Zugang von Seelsorgerinnen und Seelsorgern zu Altenheimen, Krankenhäusern oder Behinderteneinrichtungen. Die Grundrechte – dazu gehören natürlich auch die Kunstfreiheit oder die Versammlungsfreiheit – sind elementare Säulen unserer Verfassung, die sich verändern, aber ihre hohe Geltung nicht verlieren dürfen. Wir Kirchenleute dürfen uns auf dem Grundrecht der Religionsfreiheit allerdings nicht ausruhen. Wir müssen mit unserer Arbeit zeigen, warum es dieses Grundrecht gibt, zum Beispiel durch unsere Seelsorge.

Beides – Gottesdienst und Seelsorge – kommt gerade im November zusammen. Denn da feiern wir in der evangelischen Kirche keine prächtigen Feste. Wir denken still an Krieg und Frieden (Volkstrauertag), prüfen unser Gewissen und fragen nach einem guten Leben (Buß- und Bettag), trauern um unsere Toten und suchen nach Trost (Ewigkeitssonntag). Im hygienetechnokratischen Jargon mag dies als „nicht systemrelevant“ gelten, für mich und viele Menschen innerhalb und außerhalb der Kirche ist es lebensnotwendig. Wir feiern diese Gottesdienste nicht aus Eigennutz, sondern um unserer elementaren Aufgabe nachzukommen, Menschen in dieser Zeit zu begleiten und zu stärken. Was hätten die Künste gewonnen, wenn wir es ausfallen ließen?

Für meine evangelische Kirche kann ich übrigens sagen, dass wir uns sehr genau an die Hygieneregeln halten. Das Problem waren hier bisher einige, wenige Freikirchen, die ganz anders arbeiten.

Zum Schluss: Der christliche Kult hat viel mehr mit Kultur zu tun, als manche meinen. Das zeigt sich gerade jetzt. Wir bemühen uns, den Künsten in unseren Gottesdiensten einen Ort zu bieten. Das ist kein Ersatz für ausgefallene Veranstaltungen, das lindert auch die wirtschaftliche Not nicht, selbst wenn wir angemessene Honorare zahlen. Aber ein wichtiges Zeichen der Verbundenheit ist es doch. Gerade jetzt sollten wir keine unnötigen Konflikte ausfechten. Vielmehr sollten wir – die Religionsgemeinschaften, die Künste, die Gesellschaft insgesamt – versuchen, diese Krise gemeinsam zu überwinden. Denn wir durchleben harte, und besonders für viele Künstlerinnen und Künstler schlimme Zeiten.

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