Johann Hinrich Claussen über evangelische Märtyrer

Lasst doch unsere Märtyrer in Frieden!
sophie-scholl

Stadtarchiv Crailsheim/Slg. Hartnagel

Das ist gegenwärtig die größte Peinlichkeit für einen evangelischen Theologen: Neue Rechte versuchen „unsere“ Märtyrer zu vereinnahmen. Wie schön wäre es doch, sagen zu können: Mit den Neuen Rechten – diesen Ideologen zwischen Konservatismus und Rechtsextremismus – haben wir nichts zu tun! Das sind die anderen! Über die müssen wir uns nur empören! So leicht geht das leider nicht, wie der neu-rechte Märtyrerkult zeigt.

Er hat eine gewisse Tradition. Seit vielen Jahren berufen sich neu-rechte Ideologen auf Claus Schenk Graf von Stauffenberg, um so den Eindruck zu erwecken, der eigene Radikalnationalismus habe mit der NS-Diktatur nichts zu tun. Vor wenigen Jahren begannen US-amerikanische Trumpisten damit, Dietrich Bonhoeffer für sich zu reklamieren. Und nun erfahre ich, dass der neu-rechte Ideologe Götz Kubitschek in dieser Woche einen Jochen Klepper-Abend veranstaltet hat. „Auch das noch!“, dachte ich. Das hat der preußische Sozialdemokrat und evangelische Dichter, der gemeinsam mit seiner jüdischen Ehefrau und deren Tochter in den Tod gehen musste, nicht verdient. Zum Glück geriet diese Digital-Veranstaltung so zäh, dass sie keine größeren Kreise ziehen dürfte.

Und doch, ich frage mich, ob wir nicht eine gewisse Mitschuld an solchen Vereinnahmungen tragen. Denn das normal-evangelische Gedenken an Stauffenberg, Bonhoeffer, Klepper oder auch Sophie Scholl war in der Vergangenheit nicht selten ebenfalls vereinnahmend: Die Erinnerung wurde geglättet, von Widersprüchen gereinigt und eigenen Interessen dienstbar gemacht.

Deshalb bin ich so dankbar für die neue Sophie Scholl-Biographie von Robert Zoske, die eine sensible, kluge, widersprüchliche, fromme, anstrengende, mutige junge Frau zeigt, die einen langen Weg zurücklegen musste, bis sie sich entschied: Ich schweige nicht! In meinem Podcast habe ich mit dem Autor darüber gesprochen, wie anspruchsvoll, aber auch notwendig es ist, uns an Menschen wie Sophie Scholl zu erinnern, ohne sie in Besitz zu nehmen.

P.S.: Die Journalistin Liane Bednarz und ich haben uns gerade an einer theologischen Auseinandersetzung mit Vertretern der Neuen Rechten versucht – in einer Broschüre der „Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche und Rechtsextremismus“. Hier kann man sie sich herunterladen.

Über diese Kolumne

Auch das Überflüssige ist lebens­notwendig: Der Autor und Theologe Johann Hinrich Claussen reist durch die Weiten von Kunst und Kultur

Johann Hinrich Claussen
Johann Hinrich Claussen ist Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland. Das heißt, er kümmert sich um das Gespräch zwischen Kirche und Kultur.

Kolumnen auf chrismon.de

Hier finden Sie eine Übersicht aller Kolumnen auf chrismon.de
Und hier können Sie alle Kolumnen direkt abonnieren

Kolumnen

Text:
Johann Hinrich Claussen
318 Beiträge

Auch das Überflüssige ist lebens­notwendig: Der Autor und Theologe Johann Hinrich Claussen reist durch die Weiten von Kunst und Kultur

Text:
24 Beiträge

Sarah Zapf kommt aus Annaberg-Buchholz in Sachsen. Der untergegangene Staat prägte Sarahs Kindheit, ihr Familienleben, ihre Jugend. Davon, und von ihrem aus Tschechien stammenden Großvater erzählt sie in ihrer Kolumne Ostwärts

Text:
Susanne Breit-Keßler
255 Beiträge

Essen und Trinken hält Leib und ­Seele zusammen. Und darüber Neues zu lesen, macht den Geist fit. Susanne Breit-Keßler wünscht Guten Appetit!

Text:
21 Beiträge

Wer bin ich, wenn ich keine Heimatgefühle mehr habe? Was machen Krieg und Flüchtingsdasein mit mir? Darüber schreibt die ukrainisch-georgische Schriftstellerin Tamriko Sholi in Transitraum

 

Text:
12 Beiträge

"Wir müssen die Schöpfung bewahren!“ Da sind wir uns alle einig. Doch was heißt das konkret? Nils Husmann findet, wer die Schöpfung bewahren will, sollte wissen, was eine Kilowattstunde ist oder wie wir Strom aus Sonne und Wind speichern können – um nur zwei Beispiele zu nennen. Darüber schreibt er - und über Menschen und Ideen, die Hoffnung machen. Auch, aber nicht nur aus Kirchenkreisen.

Text:
Franz Alt
278 Beiträge

„Lust auf Zukunft“ will unser Kolumnist Franz Alt vermitteln. Ob Energie, Politik, Gesellschaft, Familie oder Umwelt - überall ist der Wandel möglich und durch den Wandel eine bessere Welt für uns alle

Text:
89 Beiträge

Dorothea Heintze lebt in einer Baugemeinschaft in Hamburg und weiß aus eigener Erfahrung: Das eigene Wohnglück finden ist gar nicht so einfach. Dabei gibt es tolle, neue Modelle. Aber viele kennen die nicht. Und die Politik hinkt der Entwicklung sowieso hinterher. Über all das schreibt sie hier.