privat
Unfreiwillige Reisen
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
03.07.2019

Kann eigentlich ein Exil zu etwas gut sein? Diese Frage wirkt befremdlich. Noch anstößiger klingt sie, wenn man das altertümliche deutsche Wort „Verbannung“ benutzt. Unter einem Bann zu leben, was soll daran gut sein – außer, dass man sein nacktes Leben gerettet hat?

Doch schaut man auf die Urgeschichte des Exils, stellt man fest, dass es auch seine guten Seiten gehabt haben muss. Denn die meisten Israeliten, die in Assyrien, Babylon oder Ägypten lebten, wollten nicht ins gelobte Land ihrer gewaltsam vertriebenen Väter und Mütter zurück. Die Bibel berichtet von dieser Rückkehrunwilligkeit nichts. Sie will ja das Wunder preisen, dass Israel durch Gottes Gnade wieder nach Jerusalem kam. Doch die Archäologie erzählt eine andere Geschichte: Die Mehrheit der Verbannten blieb an den Ufern von Tigris, Euphrat und Nil. Das hatte auch praktische Gründe: Sie hatten sich in der Fremde längst eingerichtet – das sollten sie aufgeben, um in der zerstörten Heimat von vorn zu beginnen? Doch dies allein war es nicht. Die Israeliten haben das Exil auch als einen kulturell anregenden Ort erfahren. Die großen Urgeschichten von Schöpfung, Sintflut oder Turmbau konnten nur mit der Erfahrung des Exils, nach der Begegnung mit fremden Kulturen geschrieben werden. So ist die Bibel ein unbewusstes Zeugnis dafür, dass das Exil auch zu etwas gut sein kann.

Die Literaturgeschichte ist ohne Exilanten nicht zu denken. Wir erinnern uns dabei vor allem an deutsche Künstler aus dem vergangenen Jahrhundert oder an heute Verbannte aus dem Nahen Osten. Es ist gut, auch der ungezählten osteuropäischen Exilanten zu gedenken, die von kommunistischen Diktaturen aus ihrer Heimat verstoßen wurden. Einer von ihnen ist der von mir sehr verehrte Adam Zagajewski. 1979 reiste er nach Westberlin, dann in die USA, 1981 kehrte er kurz nach Polen zurück, 1982 ging er nach Frankreich, wo er zwanzig Jahre lang blieb. Mit äußerster Nüchternheit hat er in einem Gedicht beschrieben, was es heißt, im Exil zu leben: „Ich wohne in fremden Städten und unterhalte mich manchmal / mit fremden Menschen über Dinge, die mir fremd sind.“

Aber ist das wirklich alles? Der wunderbare Essayist Sebastian Kleinschmidt hat es gewagt, in einer Lobrede auf Zagajewski die unverschämte Frage zu stellen: „Die Früchte der Exilzeit?“ Und dann zählt er auf: „Nun besser zu wissen, was Einsamkeit bedeutet und warum sie für den Künstler notwendig ist. Jetzt gut Französisch zu können. Maßgebenden Menschen begegnet zu sein, auf den Spuren der Großen Emigration gewandelt zu sein, eindrucksvolle Landschaften gesehen zu haben. Und nicht zuletzt: das Exil als Erfahrung der Fremdheit.“

Und dann stieß ich vor wenigen Tage auf diese zwei Sätze der ungarischen Schriftstellerin Agota Kristof aus dem Jahr 2004: „Wie wäre mein Leben gewesen, wenn ich mein Land nicht verlassen hätte? Härter, ärmlicher, denke ich, aber auch weniger einsam, weniger zerrissen, vielleicht glücklich.“

Man soll nichts schönreden und doch lohnt es, auch die andere, gute Seite zu sehen. Denn dadurch verändert sich unser Blick auf die Exilanten. Sie erscheinen dann nicht mehr als bloße Elendsgestalten, die in uns Mitleid oder Verachtung auslösen oder beides zugleich. Sondern wir können in ihnen Menschen erkennen, die mit einem geheimnisvollen Wissen begabt sind, das uns sicher Beheimateten abgeht. Und wir könnten uns versucht fühlen, mehr von ihnen erfahren zu wollen.

Neuen Kommentar hinzufügen

Der Inhalt dieses Feldes wird nicht öffentlich zugänglich angezeigt.

Plain text

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.

Kolumne