c.h. beck
Anders über Einsamkeit sprechen
Viel ist zurzeit über Einsamkeit die Rede, endlich und zurecht! Mich bewegt dieses existentielle Grundthema schon lange, so wie jeden Menschen. Als Pastor verbinde ich damit natürlich viele berufliche Erlebnisse. Schon lange hat mich irritiert, wie wenig über diese existentielle Grunderfahrung gesprochen wird, obwohl sie doch jeder kennt. Sie scheint so schambesetzt zu sein, dass kaum jemand sich zu ihr bekennt.
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
03.09.2021

Es ist eine der wenigen sinnvollen Folgen der Corona-Zeit, dass man inzwischen offener und ehrlicher über sie redet. Denn all die Einschränkungen haben dazu geführt, dass wir alle allein, abgeschnitten, isoliert waren. Allerdings hat mich beim neuen öffentlichen Reden über Einsamkeit ein manchmal katastrophischer Sound gestört. Von Einsamkeit als einer neuen Epidemie, einer sozialen Lepra war da die Rede. Natürlich kann eine chronische Einsamkeit auch den Körper krank machen. Aber soll man deshalb einsame Menschen krank-schreiben?

Um nicht selbst völlig zu vereinsamen, habe ich während der Corona-Monate gemeinsam mit Ulrich Lilie, dem Präsidenten der Diakonie in Deutschland, ein Buch über Einsamkeit geschrieben. Gerade wurde es in die Buchhandlungen ausgeliefert. Es heißt „Für sich sein“ und bietet einen „Atlas der Einsamkeiten“. Wir erzählen darin von den unterschiedlichsten Orten, Zonen und Regionen des Für-sich-Seins, der Allein-Seins und der Einsamkeit, und versuchen zu zeigen, was an einigen von ihnen schön, ja lebensnotwendig ist und wie man aus den weniger guten hinausfinden kann.

Aber wie das so ist beim Bücherschreiben. Die schönsten Geschichten und Zitate fallen einem erst vor die Füße, wenn das gedruckte Exemplar vor einem liegt. Vor kurzem habe ich mich mit einem alten Helden von mir befasst: Ludwig Marcuse. Denn am 2. August jährte sich der Todestag dieses Literaturkritikers, Philosophen und Essayisten zum fünfzigsten Mal. Immer noch frische Artikel und Essays hat er verfasst, die literarische Fülle der Weimarer Republik genossen, ist rechtzeitig vor den Nationalsozialisten geflohen, hat in Südfrankreich das Exil mit Brecht, den Manns, den Zweigs geteilt, sich in die USA gerettet, ist später in die kalte Heimat zurückgekehrt, damit immer ein Einzelgänger, ein Einzelner geblieben, hat sich nie gemein gemacht. Bei ihm kann man sehen, was es heißt, für sich zu bleiben. Bei ihm habe ich diese Sätze gefunden: „Wer sich einsam fühlt und damit ausgestoßen, sollte auch erkennen, dass die Erfahrung, isoliert zu sein, zur Definition des Menschseins gehört – wenn auch nur selten zum Bewusstsein. Jeder ist, seiner Anlage nach, vor allem einsam, selbst wenn er es achtzig Jahre lang nicht gemerkt hat.“

P.S. „Im Garten ist jeder Mensch ein König/eine König“ – ein Podcast-Gespräch mit Gabriella Pape von der Königlichen Gartenakademie zu Berlin.

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