Axel Nordmeier
„Verschub“ – endlich
Ein neues Wort habe ich gelernt: „Verschub“. Mit ihm verbindet sich eine einzigartige Kirchen-Geschichte.
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
30.07.2021

Leider konnte ich nicht selbst dabei sein, aber die Fotos und ein kurzer Film darüber haben mich sehr bewegt. Sie zeigen, wie aus einer Kirche ein Wandbild herausgeschnitten, von einem Kran fortgehoben und nicht weit an einen anderen Ort getragen wurde – „Verschub“ nennen das die Baufachleute.

In meiner Hamburger Zeit hatte ich viel mit dem Altarbild der Nicolaus-Kirche der Evangelischen Stiftung Alsterdorf zu tun. Es stellte eine unstillbare Anfechtung dar. Gemalt 1938, zeigt es einen überaus „arischen“ Christus und unter ihm eine Reihe von zwölf protestantischen Leitfiguren – ganz unprotestantisch mit einem Heiligenschein versehen – sowie drei behinderte Menschen ohne solch eine Gloriole – ein fatales Zeichen ihrer Zurücksetzung.

Zu diesem Bild gehört die schreckliche Geschichte der Alsterdorfer Anstalten in der NS-Diktatur. Sie wurden zum „nationalsozialistischen Musterbetrieb“. 1938 wurden zunächst 22 jüdische Bewohner und danach weitere 540 behinderte Menschen in andere Einrichtungen verbracht und dort ermordet.

Die NS-Zeit hat in Alsterdorf lange fortgewirkt. Erst in den 1980er Jahren wurde schrittweise ein radikaler Umbruch vollzogen – aus einer Anstalt wurde eine Stiftung, die sich ihrer Geschichte stellt und für Inklusion einsetzt. Für diesen Paradigmenwechsel besitzt der Umgang mit dem Altarbild eine beispielhafte Bedeutung.

Doch was macht man mit einem Bild, das für den Denkmalschutz unbedingt erhaltenswert ist, weil es das einzige erhaltene Werk von NS-Kunst in einer Hamburger Kirche ist? An eine Zerstörung, für die ich durchaus Verständnis gehabt hätte, war nicht zu denken. So wurde das Bild verdeckt und mit Gegenbildern verhängt. Richtig überzeugen konnte dies nicht. Dahinter war ja immer noch das böse Bild, und wer von ihm wusste, konnte es innerlich nicht ausschalten. Also folgten viele, lange, ergebnislose Beratungen. An einigen habe ich teilgenommen.

Jetzt, endlich wurde das Bild tatsächlich herausgesägt. Wenige Schritte entfernt hat es einen neuen Platz gefunden. Denn es soll nicht vergessen oder verdrängt werden. Deshalb wurde es Teil eines Lern- und Gedenkorts, der „Straße der Inklusion“. Diese Verlagerung zeigt, dass der unendliche Kampf mit dem bösen Bild nicht ein architektonisch-künstlerisches Detail nur des Kirchgebäudes betraf, sondern dass er der Kristallisationspunkt für die gesamte Neuausrichtung der Evangelischen Stiftung Alsterdorf gewesen ist und immer noch ist: sich der Geschichte stellen – aus der Geschichte lernen – in Gegenwart und Zukunft für mehr Inklusion arbeiten.

Während des „Verschubs“ stand die Kirche plötzlich offen da. Wie hell sie plötzlich wirkte. Als ich die Fotos sah, habe ich aufgeatmet und mich gefragt, wie wird das große Loch gefüllt werden?

P.S.: „Alte oder neue Lieder?“ – über diese ewige Streitfrage der Kirchenmusik spreche ich in meinem Podcast mit dem Leiter des Athesinus-Consorts (und meinem geschätzten Kollegen) Klaus-Martin Bresgott anlässlich einer neuen CD. Man kann unser Gespräch hier nachhören.

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