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Was für ein Glück, wenn es anders wird
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
25.09.2017

Zum gestrigen Wahlabend fällt mir nichts ein.

Da erzähle ich doch lieber von einem glücklichen Ereignis. Vor zwei Wochen hatte ich die bevorstehende Eröffnung eines ziemlich spektakulären Kunstwerks im Berliner Dom ankündigt. Inzwischen wurde sie feierlich vollzogen. Doch das Kunstwerk von Philipp von Matt sieht anders aus, als ich es erwartet hatte. Ich hatte mir eine glatte Spiegelwand vorgestellt, doch so ist es nicht geworden.

Wer bis zum 12. November in den Dom geht, dem begegnet dies: Vor ihm erhebt sich eine immense Skulptur aus siebzig Spiegelelementen über dem Altar, direkt in der Hauptsichtachse. Sie füllt die Apsis aus, in der Breite und der Höhe, zieht alle Aufmerksamkeit auf sich, man kann sich ihr nicht entziehen. Zwar spart sie den Altar und seinen Kruzifixus aus, doch sonst verdeckt sie vieles, verstellt und versperrt den Blick zu Bildern und Eindrücken, die für gewöhnlich die Besucher in ihren Bann ziehen. Sie verstört und verzerrt, zerbricht und zersplittert, löst auf und verdreht. Man kann sich vor dieser Skulptur nicht ruhig hinsetzen, meditativ verweilen. Man muss herumgehen, nah zu ihr heran, von links nach rechts und wieder zurück. Jedes Mal ist der Eindruck ein anderer. Mal wird der Blick in die Höhe gezogen, mal blendet einen das Licht, das steil von oben herab fällt, dann wieder sieht man das Ganze des Kirchraums – nur jetzt in einer ganz anderen Gestalt. Vor allem aber sieht man keine Bilder mehr. Denn dieses Bildwerk macht alle Bildlichkeiten unmöglich, es ist ein Nicht-Bild als Bild.

Ein Bild als Bild-Kritik

Die Spiegelskulptur stellt einen prophetisch-reformatorischen Einspruch dar und unterzieht das wilhelminische Bildprogramm des Doms einer notwendigen Kritik. Doch darin erschöpft sie sich nicht, sondern beginnt mit den durchaus kritikbedürftigen Bildern dieses Kirchraums – und gegen sie – ein rasantes ästhetisches Spiel. Sie stellt sie sich mitten in diese goldene Bilderwelt hinein, nimmt sie in sich auf, vervielfältigt sie, zerlegt sie in ihre Teile, setzt neu zusammen und miteinander in Beziehung, wirft sie in die Höhe. Doch dieses Kunstwerk besteht aus zwei Teilen: den Spiegeln und einem mittelalterlichen Kruzifixus. Für mich ist dies der ergreifendste Eindruck: So sehr die siebzig Spiegel diesen Kirchenraum auseinanderlegen, ja fast zerreißen – doch die Christusfigur hält alles zusammen.

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