matthias surall
Stirbt der Tod aus in Deutschland?
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
15.11.2019

Immer mehr Verstorbene werden ohne einen Abschied bestattet. Branchenkenner gehen davon aus, dass es in Hamburg für etwa 51 Prozent aller Toten keinen Ritus, kein Wort, keine Musik, keine Feier gibt. Hört man sich bei Bestattern, Pfarrern, Rednern und Friedhofsverwaltern in Berlin um, ergibt sich ein ähnliches Bild. In deutschen Großstädten wird fast die Mehrheit der Toten sang- und klanglos weggeschafft.

Vier Gruppen tragen zu diesem Trend bei. Da sind zunächst die Sozialbestattungen: Der Verstorbene war mittellos, seine Angehörigen sind es ebenfalls oder entziehen sich ihrer Bestattungspflicht – nun müssten die Kommunen einspringen. Aber viele haben diesen Posten aus ihren Sozialetats gestrichen. Dann bleibt nur noch der „stille Abtrag“: Der Tote wird verbrannt und von einem Friedhofsmitarbeiter in einem anonymen Gräberfeld beigesetzt, meist in einer Sammelbestattung.

Da sind zweitens die Ordnungsamtsbestattungen: Hier ist nicht Armut das Problem, sondern Einsamkeit und fehlende Vorsorge. Der Verstorbene hatte keine bestattungspflichtigen Angehörigen oder niemanden mit der Aufgabe betraut, für einen angemessenen Abschied zu sorgen – dann kommt es innerhalb von zwei Wochen zur „Beisetzung von Amts wegen“. In Hamburg ist dafür das Umweltamt verantwortlich, dem die Friedhöfe zugeordnet sind. Bis Nachbarn oder Freunde davon erfahren, ist die Leiche schon fachgerecht entsorgt.

Eine dritte Gruppe bilden die Hochbetagten, die keine Feier wollen. Einige mögen nur den Wunsch haben, dass alles zu Ende ist. Andere haben niemanden, für den die Mühe sich lohnen würde. Von vielen aus der Kriegs- und Flüchtlingsgeneration hört man zudem immer wieder diese beiden Sätze: „Ich will niemandem zur Last fallen“ und „Macht doch kein Aufhebens um mich“. Sie können ein Zeichen von nüchterner Vernünftigkeit sein. Man kann diese Sätze aber auch als Ausdruck einer generationstypischen Resignation verstehen. Manchmal kann man auch einen indirekten Ruf nach Zuwendung heraushören.

Aber es sind nicht nur die Menschen am Rand der Gesellschaft, bei denen es zum Abschied vom Abschied kommt. Dieser ist, viertens, längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen: Da stirbt ein Mensch mittleren Alters, er wurde geliebt, nun wird um ihn getrauert, doch herrscht in der Familie eine solche Sprachlosigkeit und Unsicherheit, dass sie lieber nichts dazu sagt oder unternimmt. Man weiß nichts mit diesem erschütternden Ereignis anzufangen, so lässt man den Bestatter allein seine Arbeit tun und kehrt selbst schnell wieder in den Alltag zurück.

Doch gehört es nicht zur Würde eines Menschen, dass sich nach seinem Tod Angehörige und Freunde noch einmal um ihn versammeln, seinen Namen nennen, sein Erinnerungsbild lebendig werden lassen, für Gutes danken und Schwieriges verzeihen, ein Gebet sprechen? So schwer es auch ist, so wird es doch immer noch als hilfreich erlebt, wenn man zu einem eilig festgesetzten Termin, der alle Planungen durcheinanderbringt, den man aber wahrnimmt, weil es sich so gehört, zusammenkommt, um gemeinsam Abschied zu nehmen, sich erschüttern zu lassen, zu schweigen und zu weinen, um danach bei Kaffee und Kuchen wieder miteinander zu lachen. Es ist eine menschliche Grunderfahrung, dass Rituale dabei helfen, Lebensschwellen zu überwinden.

Man nimmt sich selbst etwas, wenn man es unterlässt – und man nimmt anderen einen wichtigen Moment. Es gibt häufig mehr Menschen, die gern Abschied nehmen würden, als die Angehörigen ahnen. Als Kind kennt man ja nur einen Ausschnitt des sozialen Lebens seiner Eltern. Wenn die Kernfamilie keine oder nur eine höchst private Feier („hat im engsten Familienkreis stattgefunden“) begeht, schließt sie Menschen aus, denen es ein Bedürfnis gewesen wäre: Freunde, Nachbarn, ehemalige Kollegen, Pflegepersonal. Durch die konsequente Privatisierung verliert der Tod ein wichtiges Stück Öffentlichkeit. Das schadet auch den traditionellen Orten des Todes. Die Friedhöfe mit ihren Kapellen sind hochbedeutsame Kulturräume. Auf Dauer lassen sie sich nur erhalten – und zwar nicht bloß wirtschaftlich –, wenn sie ihrer Bestimmung gemäß genutzt werden.

Allerdings gilt auch hier: Kein Trend ohne Gegentrend. Bei den einen passiert kaum noch etwas, bei den anderen dafür umso mehr. Bestattern, Pastoren und Redner begegnet, wenn sie es mit sprachfähigen Menschen zu tun haben, heute eine große Bereitschaft, ausführlich über den Verstorbenen Auskunft zu geben oder eigene Beiträge zu liefern, damit die Feier individuell gestaltet wird. Es genügt nicht mehr, ein amtliches Ritual abzuspulen oder vorgefertigte Textbausteine vorzulesen. Das macht mehr Arbeit, aber auch mehr Freude. Man sollte es nicht als „Eventisierung“ abtun. Denn das Ergebnis solcher langen Vorbereitungsgespräche sind oft sehr schöne Trauerfeiern.

Die schlichte Alternative „Abschied nehmen oder nicht?“ führt zu grundsätzlichen, aber offenen Fragen. Viele sind hier herausgefordert – besonders natürlich die Kirchen. Für sie ist es seit jeher eines der wichtigsten „Werke der Barmherzigkeit“, möglichst vielen Menschen ein angemessenes Begräbnis zu verschaffen. Doch liegt darin heute eine Aufgabe für die ganze Gesellschaft. Eine der großen Leistungen des modernen Sozialstaats war es, seit dem 19. Jahrhundert auf kommunalen Friedhöfen auch den Armen eine anständige Beerdigung und ein eigenes Grab zu geben. Dieser christlich-humanitäre Fortschritt steht in Frage, wenn viele Menschen mit ihrem Tod direkt in die Namenlosigkeit fallen. So ist es notwendig, dass sich alle ernsthaft mit diesem Thema auseinandersetzen. Jeder einzelne sollte vorsorgen, mit Angehörigen oder Freunden darüber sprechen. Aber es müsste auch ein gemeinsames Anliegen werden. Gute Ansätze gibt es schon: Kirchengemeinden feiern Trauergottesdienste für Obdachlose oder gründen – ebenso wie Hospize oder soziale Einrichtungen – Gemeinschaftsgrabstätten. Noch viel mehr wäre hier möglich und könnte helfen, im Angesicht des Todes eine Antwort auf die Frage zu finden, wer wir sind und sein wollen.

P.S.: Sehr zu empfehlen ist ein neues evangelisches Trauerportal, für alle die für sich oder andere nach Orientierung suchen.

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Bei Unglücken ist niemand da. Schicksal. Bei Krankheiten ist der Abschied ein längerer, beiderseits quälender Prozess. Wem nutzt der Abschied? Dem Verstorbenen dauerhaft am wenigsten. Für die Hinterbliebenen kann er ein gutes oder ein schlechtes Gefühl der Verantwortungs-Erinnerung geben. War SIE/ER gut, böse? Ändern tut sich an der Erinnerung durch eine noch so schöne Beerdigungskultur nichts. Der wesentlichste Teil des Abschiedes findet in der ganz persönlichen Erinnerung statt. Diese Erinnerung wird geprägt durch die gegeneitige Erinnerungsbilanz, und die ist doch sehr relativ. Alles andere ist zu sehr nur eine schöne Form. Häufig auch genutzt zur scheinheiligen Rechtfertigung.

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