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Statt-Predigt
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
28.03.2020

Im vergangenen Sommer waren wir einige Tage in Bergamo, wunderschön. Heute scheint mir, ich hätte das nur geträumt. Atemraubende Kirchen haben wir dort besucht. Aber neben unserer Unterkunft gab es eine gewöhnliche Quartierskirche, die nachts freundlich beleuchtet war und uns nachts den Weg nach Hause wies. Ich hoffe, dass ihre Lichter heute noch brennen, auch wenn ihre Türen geschlossen bleiben.

Das bringt mich zu der Frage, wie man den Sonntag christlich begehen kann, wenn es keinen Gottesdienst gibt. Viele Gemeinden experimentieren jetzt mit den unterschiedlichsten digitalen Formen. Das ist ein schönes Zeichen. Aber es gibt Menschen, die sich von medial vermittelten Gottesdiensten nicht angesprochen fühlen. Sie könnten etwas Gutes lesen. Früher war dies eine erfolgreiche Literaturgattung: die Lesepredigt. Sie ist aus nachvollziehbaren Gründen aus der Mode gekommen. Eine Predigt soll ein lebendiges Wort sein. Einfach so abgedruckt, fehlt ihr der Atem. Aber es gibt eine Sammlung von biblischen Essays, die biblische Orientierung und existentielles Nachdenken so verbinden, dass ein stimmiges Leseerlebnis daraus wird. Die „Denkskizzen“ zu den Predigttexten der Sonntage im Kirchenjahr kann man direkt beim Radius-Verlag oder der örtlichen Buchhandlung (viele von ihnen liefern aus) bestellen und dann jeweils am Sonntag um 10h diejenige von ihnen lesen, die gerade dran ist.

Für diesen Sonntag hat der Mainzer Theologieprofessor Kristian Fechtner einen sehr feinen Aufsatz über ziemlich dunkle Verse aus dem Hebräerbrief geschrieben.

Jesus hat, damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut, gelitten draußen vor dem Tor. So lasst uns nun zu ihm hinausgehen vor das Lager und seine Schmach tragen. Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.

„Nun wird es ernst. Mit dem Sonntag Judika beginnt nach alter Ordnung die Passionszeit im engeren Sinne. Es sind nur noch wenige Tage bis zur Karwoche; das Leiden Christi kommt in den Blick und damit all das, wodurch Leben misshandelt und verächtlich gemacht wird. Das Entscheidende und Beängstigende findet draußen statt, außerhalb der gesicherten Mauern, jenseits des Zauns. Da ist es gut, drinnen zu bleiben, sich unterzustellen, Schutz zu suchen in der umfriedeten Stadt. Geht das, und wo führt das hin?

drinnen / draußen 1

»Da sind wir doch froh, dass wir alle gesund sind.« Sagt Gerhild fast immer, wenn es schlechte Nachrichten von anderen gibt: Die Nachbarin muss doch länger im Krankenhaus bleiben und der Mitstudent der Enkelin hatte einen schlimmen Unfall. »Wir« meint für Gerhild die Familie der Mitachtzigerin: den Bruder, die Kinder und Schwiegerkinder, die zwei Enkelinnen. Und wenn die Kinder berichten, dass sich Freunde von ihnen oder Arbeitskolleginnen scheiden lassen, dann sagt sie: »Wie gut, dass es bei uns nicht so ist.« Wie hartherzig das klingt und unberührt von dem, was anderen passiert! Die Krankheit, die Trennung – Hauptsache, nicht bei uns. Und irgendwie klingt es auch beschwörend, wie Abwehrworte. Die Äußerungen sind Grenzzäune gegen die Angst. Gegen das Wissen oder wenigstens das Ahnen, dass die eigene Tochter nicht gesund ist und die Ehe des Sohnes auf der Kippe steht. Wenn sie nur drinnen bleibt in der Familienwelt, die sie sich in ihren Bildern zurechtlegt, und die verstörende Welt außen vor hält, dann wird es gutgehen.

Gerhild hat in ihrer Kindheit Dinge erlebt, die Kinder nicht erleben dürfen. Und Erwachsene eigentlich auch nicht. Jetzt, im Alter, will sie nicht mehr raus aus dem sicheren Unterstand ihrer Familie. Intakt soll es sein, unversehrt, wenigstens bei uns. Und das geht nur, wenn sie sich innerlich abschottet. Gegen das Leid der anderen und damit auch gegen das eigene, gegen die Erfahrung, dass Leben verwundbar ist und angefochten. »Ich lass’ das alles nicht mehr an mich heran«, hat sie jüngst gesagt, »es ist mir zu viel.« Sich seelentaub stellen, das ist ihre Strategie, nichts spüren. Der Sicherheitsabstand hat seinen Preis. Die anderen halten innere Distanz zu ihr, auch in der Familie. Es ist kühl in ihrer Nähe.

drinnen / draußen 2

Er ist immer mit dabei, Gerhilds Bruder Hartmut. Einmal im Monat, von November bis März, Filmabend im Gemeindehaus. Er ist für die Technik zuständig. Manchmal gefallen ihm die Filme, manchmal nicht. Er kommt eher wegen der Besucher, ein Drittel vertraute Gesichter aus dem Kirchenvorstand und dem inner circle; die anderen von draußen: etliche, die sozial gestrandet sind, eine ganze Reihe Wohnsitzloser. Warm ist es im Saal, Schnittchen gibt es und Wein. Es riecht etwas streng, wenn diese Filmgemeinde zusammenkommt, aber für Hartmut tut dies nichts zur Sache. Er ist zehn Jahre jünger als seine Schwester, ein Nachkriegskind, das es zwischenzeitlich aus der Bahn geschmissen hat. Nach der frühen Scheidung hat er auch eine Zeit lang auf der Straße gelebt. Er war draußen und weiß, wie das ist. Dann ist er, wie auch immer, sozial wieder in die Spur gekommen, beruflich und auch persönlich. Von der Zeit davor weiß hier niemand etwas. Über seine Vergangenheit spricht er nicht, hier nicht und auch nicht andernorts. Selbst im Familiengedächtnis ist die Erinnerung abgedeckt und verschlossen. Für die Filmabende und die Dienstagabendgemeinde ist es wichtig, dass Hartmut mit von der Partie ist, nicht nur, weil er sich um die Gerätschaften kümmert. Wenn er da ist, kann man spüren: Die Tür ist offen. In den langen Wochen, als Gerhilds Tochter auf ihren Krankheitsbefund wartete und ihre Mutter nicht beunruhigen wollte, hat ihr Mann das Gespräch mit Hartmut gesucht. Der kann nämlich zuhören.

Der Appell der biblischen Worte, hinauszugehen und das Lager zu verlassen, richtet sich an Menschen mit »müden Händen und wankenden Knien« (Hebr 12,12). Es sind nicht die Glaubenssicheren und Selbstgewissen, die angesprochen werden, sondern diejenigen, deren Herz nicht »fest« ist (Hebr 13,9), weil sie selbst etwas vom »draußen« spüren: Angst vorm Leben; Erinnerungen, die plagen; Schamempfindungen und Schulderfahrungen. Es ist viel Draußen im Drinnen. Die Ordnungen sind nicht selten porös, die Schutzmauern des Alltags sind durchlässig. Gilt dies auch in die andere Richtung? Sind die Tore auch offen für diejenigen, die »draußen vor der Tür sind« (Wolfgang Borchert), die nicht dazugehören? Die Kreuze stehen immer vor der Stadt.

Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.

Wir sind – so sehr wir uns einleben in unseren Städten, Wohnungen und Lagern, in unseren Geschichten, Berufen und Familien, in unserem Leben – dann eben doch nicht sesshaft, sondern unterwegs, drinnen und draußen.“

(Herzlichen Dank an Verlag und Autor!)

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