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Macht/Missbrauch in Kultur und evangelischer Kirche
Am Dienstag haben wir etwas Neues versucht. Es war eine kleine, konzentrierte Runde, aber meines Wissens hat so etwas bisher noch nicht stattgefunden: ein Gespräch über Macht/Missbrauch und Grenzen/Verletzungen zwischen zwei benachbarten „Branchen“.
11.11.2022

Üblicherweise ist es so, dass man empört auf Enthüllungen bei anderen schaut und eigene Problemanteile lieber nicht ansieht. Aber gesellschaftlich kommen wir nur weiter, wenn alle selbstkritisch das Eigene bedenken und sich über Sparten, Schichten und Milieus hinweg darüber austauschen, wie Freiheit, Selbstbestimmung, Schutz und Respekt für alle gegeben sein können.

Drei Mal im Jahr veranstaltet das Kulturbüro der EKD gemeinsam mit dem Deutschen Kulturrat, Deutschlandradio Kultur und der Berliner Kunstkirche St. Matthäus kulturpolitische Debatten. Sie finden in der Kirche statt und werden später im Radio übertragen. Dieses Mal wollten wir endlich darüber sprechen, wie man in der Kulturbranche und der evangelischen Kirche Fälle von Machtmissbrauch und sexualisierter Gewalt aufarbeitet, wie man Prävention betreibt, vor allem aber welche besonderen Probleme oder Versuchungen es jeweils gibt.

Eingeladen hatten wir Maren Lansink von „Themis“, der Vertrauensstelle gegen sexuelle Belästigung und Gewalt in der Kulturbranche, die bildende Künstlerin Ivana Rohr sowie Eva Spaeth vom Mädchenchor an der Sing-Akademie Berlin. Für die evangelische Kirche war ich dabei, weil ich im Sommer ein Buch zum Thema veröffentlicht hatte. Unser Moderator war Hans Dieter Heimendahl.

Ich will das Gespräch auf dem Podium und die Diskussion nicht nacherzählen. Wenn ich den Link zur Sendung habe, gebe ich ihn hier weiter. Jetzt nur ein paar Stichworte, die mir nachgehen.

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„Wir haben jeden Tag Weihnachtsfeier“, sagte eine Schauspielerin, als sie sich bei Themis beschwerte. In ihrer Welt gebe es keine angemessene Unterscheidung von beruflich und privat, das Miteinander sei entgrenzt, Abgrenzung kaum möglich. So ist es in der evangelischen Kirche eher nicht. Aber die Kultur in manchen Gemeinden und Gruppen ist zu „freundschaftlich“, zu „familiär“, so dass Grenzen verschwimmen und Übergriffigkeiten normal erscheinen.

Beschwerdestellen, gesetzliche Regelungen, Schutzkonzepte, Fortbildungen sind wichtig, helfen aber nicht, wenn sie nicht mit Leben erfüllt werden. Dazu gehört, dass alle sich über ihre jeweilige Rolle klar sind und eine angemessene Balance aus Nähe und Distanz einüben. Bin ich jetzt Regisseur, Lehrer, Seelsorger, Kurator, Prediger, Kollege – oder bin ich Freund, Bruder, Kumpel oder noch mehr? Wie kann ich als Person präsent sein und zugleich den professionellen Abstand wahren? Diese Fragen müssen alle wieder und wieder in der Kulturbranche und der evangelischen Kirche für sich bedenken und angstfrei miteinander reflektieren.

Eine Voraussetzung dafür ist, dass Macht ehrlich wahrgenommen wird. Das ist in der Kunstszene und der evangelischen Kirche ein besonderes Problem. Denn hier wie dort meint man für gewöhnlich, besonders emanzipatorisch und autoritätskritisch zu sein. Das ist nicht unsympathisch, vernebelt aber den Blick dafür, dass es sehr wohl asymmetrische Verhältnisse gibt, einige mächtiger und andere abhängig sind. Doch wie soll man Machtmissbrauch kritisieren, wenn die Meinung vorherrscht, „bei uns“ gebe es überhaupt keine Macht?

Wie zählen immer nur die Zahlen?

Schließlich kam in der Diskussion eine Frage auf, die ich zwar für sehr wichtig halte, die mich aber auch ratlos macht: die Fragen nach den Zahlen. „Wie viele ‚Fälle‘ gibt es in der Kulturszene, in der evangelischen Kirche oder zum Beispiel beim Sport?“ Natürlich ist es notwendig, hier besser Bescheid zu wissen als zurzeit. Denn wie soll man wirksam handeln, wenn man nicht weiß, wo das Problem welches Ausmaß hat? Also braucht es Studien, und dafür braucht es Ressourcen. Zugleich störe ich mich daran, wenn Journalisten sich bloß für scheinbar eindeutige Zahlen interessieren und Politiker nur auf hohe Zahlen reagieren – als ob eine einzelne betroffene Person nicht so wichtig wäre. Und was würde es für mich und meine evangelische Kirche bedeuten, wenn man statistisch exakt berechnen könnte, dass es in der katholischen Kirche x-Mal mehr Fälle von Machtmissbrauch und sexualisierter Gewalt gebe? Hieße das, dass ich mich zurücklehnen sollte?

Eine Stunde lang haben wir auf dem Podium diskutiert, danach noch länger mit dem Publikum und anschließend in kleinen Gruppen. Vieles ist natürlich offengeblieben. Also hoffe ich, dass es Fortsetzungen gibt.

P.S.: Matthias Matschke ist sehr bekannt als Schauspieler und Comedian. Nun hat er einen wunderschönen Roman geschrieben. In „Falschgeld“ erzählt er über die Kindheit und Jugend von „Matthias Matschke“. Was daran Wahrheit oder Erfindung oder erfundene Wahrheit ist und warum der Protestantismus darin solch eine überraschend große Rolle spielt, darüber spreche ich mit ihm in meinem Podcast „Draußen mit Claussen“.

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