Blog: Antje Vollmers Vermächtnis als Pazifistin

Die letzten Worte einer Pazifistin
Berlin, 11.05.2022, Streitgespräch zwischen Antje Vollmer (Grüne, ehemalige Bundestagsabgeordnete)  und Jamila Schäfer (Grüne, Bundestagsabgeordnete) über den Krieg in der Ukraine in der Hauptstadtredaktion der Süddeutschen Zeitung, hier Antje Vollmer

Regina Schmeken/Süddeutsche Zeitung Photo

Antje Vollmer, ein Bild aus dem Jahr 2022

Über Tote soll man nichts Schlechtes sagen, empfiehlt eine gute alte Pietätsregel. Aber wenn jemand kurz vor dem Lebensende einen Debattenbeitrag zu einem wichtigen Thema liefert, sollte man diesen ernst nehmen und diskutieren. Bei mir jedenfalls hat der letzte Artikel von Antje Vollmer einiges ausgelöst.

Kurz vor ihrem Tod – ein geschätzter Kollege wies mich darauf hin – hat Antje Vollmer, die evangelische Theologin und Grünen-Politikerin, in der „Berliner Zeitung“ einen Text zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine veröffentlicht. Er steht in Zusammenhang mit ihrer Unterstützung der links-rechten Friedenspetition von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer. (Dass ich diese Initiative für problematisch halte, habe ich schon einmal dargelegt.)

Zum Inhaltlichen nur so viel: Es befremdet mich, wenn die russische Aggression zwar kurz als völkerrechtswidrig gekennzeichnet wird, die Argumentation im Ganzen aber darauf zielt, die Verantwortung für dieses Grauen primär „dem Westen“ zu geben. Nicht, dass keine Versäumnisse, Fehler, problematische Absichten oder unlautere Motive auf „unserer“ Seite zu finden wären.

Aber dass Vollmer die „Schuld“ primär in der „Hybris“ von „Europa“ (und den USA) erkennt, leuchtet mir nicht ein. Auch scheint mir ihr Begriff von „Europa“ sehr eng zu sein. Nicht nur die Ukraine, auch Polen oder das Baltikum scheinen sie nicht interessiert zu haben.

Noch mehr irritiert mich an Vollmers letztem Artikel, mit welcher Härte und Verachtung sie über ehemalige Weggefährten aus der Bürgerrechtsbewegung und ihre Nachfolgerinnen bei den Grünen schreibt. Auf mich wirkt dies – als letztes Wort – unversöhnlich und gehässig. Die „Berliner Zeitung“ hat diesen Text als Vollmers „Vermächtnis“ vorgestellt. Ich sehe in ihm eher eine innerparteiliche Abrechnung.

Aber ich habe leicht reden. Erstens bin ich kein Politiker, habe also nicht wie Vollmer im Laufe meines Berufslebens viele böse Enttäuschungen, Niederlagen und Verletzungen einstecken müssen, wie es wohl zum politischen Berufsleben gehört. Zweitens bin ich keine öffentliche Person, die sich ständig positionieren muss und dafür unablässig bewertet wird. Drittens bin ich noch berufstätig, habe also die herbe Erfahrung noch vor mir, dass nach meinem Ausscheiden Jüngere alles anders machen werden und dass vieles, was mir am Herzen lag, aufhören wird. So lese ich den letzten Artikel von Antje Vollmer als Zeugnis einer persönlichen Verzweiflung und Verbitterung, über deren Berechtigung mir kein Urteil zusteht.

Wenn ich aber versuchen sollte, die bleibende Bedeutung einer pazifistischen Position zu beschreiben, für die Antje Vollmer ihr Leben lang gekämpft hat, dann würde ich (der ich kein Pazifist bin) es so versuchen:

Pazifistische Stimmen sind gerade mitten in einer kriegerischen Auseinandersetzung unverzichtbar, weil sie davor warnen, eine Lösung vom Waffeneinsatz zu erwarten. Denn zum einen wird man einen Frieden – als einzig sinnvolles Ziel – politisch und nicht bloß militärisch herbeiführen müssen. Zum anderen bleibt auch die legitime Anwendung von militärischer Gewalt eben dies: „Gewalt“ – und diese ist in ihrer zerstörerischen Dynamik letztlich nicht beherrschbar. Deshalb können pazifistische Stimmen mitten in einer kriegerischen Auseinandersetzung die Vernunft zu Wort kommen lassen, wenn sie auf die Grauenhaftigkeit des Krieges und die Notwendigkeit einer politischen Lösung hinweisen. Zudem können sie den Blick über die aktuellen Schlachtfelder hinaus weiten und dazu ermahnen, bei anderen Konflikten rechtzeitig mit nicht-militärischen Mitteln aktiv zu werden.

Also brauchen wir pazifistische Stimmen nicht bloß in friedlichen Zeiten, sondern gerade jetzt in unseren politischen, aber auch kirchlichen Debatten. Allerdings sollten diese sich daraufhin befragen lassen, ob der konsequente Verzicht auf Waffenlieferung und Waffeneinsatz nicht den Angreifern in die Hände spielt und die Angegriffenen in die Wehrlosigkeit entlässt. Nur wenn sie die möglichen Folgen der Anwendung ihres Prinzips mitbedenken, vertreten sie eine politische und nicht nur eine moralische Option.

P.P.S.: Mit der Schriftstellerin Helga Schubert spreche ich in meinem Podcast „Draußen mit Claussen“ über ihr wunderbares neues Buch „Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe“.

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Lesermeinungen

Vollmer: "Zum einen wurde der umfassende wirtschaftliche und politisch Zusammenbruch der Sowjetunion 1989 einseitig als triumphaler Sieg des Westens im Systemkonflikt zwischen Ost und West interpretiert, der damit endgültig die historische Niederlage des Ostens besiegelte."

Was danach über den Osten kam, war der "Siegeszug" der wettbewerbsbedingten Symptomatik mit all seinen ausbeuterischen und unterdrückerischen Mechanismen der "Freiheit" von/zu unternehmerischen Abwägungen (die stets nur die Kapitulation vor dem System vorsehen).
Aber es kam anders, denn vor allem China hat es dem Westen gezeigt, was eine wirksame Gegenoffensive ist und hat gewonnen, mit allen gewohnten Mitteln des Systems. Doch der Gewinn des "Spiels", wurde schon wie M. Gorbatschow und seine Bemühungen der Globalisierung ein menschlicheres "Antlitz" zu geben (USA 1996), von den Profitlern des Westens mit Gehässigkeit in Verachtung belohnt.
Angesichts der nun überwiegenden "Kommunikation" in Kadavergehorsam - Es käme schon einem Wunder gleich, wenn die auch von Vollmer angedrohte atomare Apokalypse nun doch nicht kommt.

@Claussen: "... habe also die herbe Erfahrung noch vor mir, dass nach meinem Ausscheiden Jüngere alles anders machen werden und dass vieles, was mir am Herzen lag, aufhören wird."

Ja, so kommt mir das auch vor, aber eben kein Wunder oder Phänomen, wenn die Zeitgeistlichen des imperialistisch-faschistischen Erbensystems, die Konfusion und den geistigen Stillstand seit der "Vertreibung aus dem Paradies", im Sinne der wettbewerbsbedingten Symptomatik bis zur totalen Verkommenheit mitpflegen - Die "herbe Erfahrung", die kommt noch, für Leute wie sie, dass kann ich aufgrund meiner aAKE garantieren.

Sehr geehrter Herr Dr. Claussen,

"wir beleidigen oder diskriminieren niemand" heisst es in den Regeln für Kommentare und Leserbriefe im chrismon. Gilt das nicht auch für die Blogger?

Ihr Beitrag verletzt m.E. die Persönlichkeitsrechte einer Verstorbenen. Mit der Sie sich fairerweise zu deren Lebzeiten hätten auseinandersetzen können.

Antje Vollmers hellsichtigen und warnenden Beitrag zu Frieden und Versöhnung deuten Sie um zu einem "Zeugnis einer persönlichen Verwerfung und Verbitterung".

Die Verstorbene , von so vielen als Brückenbauerin gerühmt, äußert sich Ihrer Meinung in ihrem Vermächtnis " unversöhnlich und gehässig".
Und das nur, weil sie es gewagt hat, Frau Birthler, Herrn Gauck und Frau Göring- Eckardt als gewissermassen selbsternannte Bürgerrechtler zu bezeichnen.

Wie groß der politische Beitrag der drei Genannten vor der Wende in der DDR war und was daraus nach der Wende gemacht wurde, kann man anhand von Zeitzeugen und Dokumenten jederzeit nachprüfen.

Das Manifest für Frieden, das Antje Vollmer unterstützte, nennen Sie links- rechts, obwohl weder Sarah Wagenknecht, noch Alice Schwarzer, noch die ErstunterzeichnerInnen dem rechten Spektrum zuzuordnen sind.

Das alles verclaussuliert als seelsorgerliches Bemühen, Antje Vollmer in ihrer Verbitterung zu verstehen. Für mich grenzt Ihr Beitrag an Rufmord.

MfG Helga Warsen

Sehr geehrte Frau Warsen,

vielen Dank für Ihre kritische Reaktion auf meinen Blog. Erst nach dem Tod von Frau Vollmer hatte ich ihren Text gelesen. Er hat mich beschäftigt, weil in ihm Aspekte zum Vorschein kommen, die ich für signifikant und diskussionsbedürftig erachte. Ich habe Frau Vollmer sicherlich nicht beleidigt, sondern versucht, ihren Text ernst zu nehmen. Indem ich ihn kritisch, aber doch auch selbstkritisch diskutiere, würdige ich sie als Autorin.

Dieser Text steht im Kontext einer hochproblematischen Initiative, die sehr wohl von Querfront-Fantasien mitbestimmt ist und die eine – wie ich meine – verzerrte Sicht der Dinge präsentiert. Dies habe ich kritisiert, zugleich versucht, den Sinn des Pazifismus zu beschreiben, und damit meine Position zur Diskussion gestellt. Das nennt man demokratischen Diskurs und hat mit „Rufmord“ nichts zu tun.

 

Viele Grüße!

Ihr

Johann Hinrich Claussen

Lieber Herr Claussen,
ich habe Ihren Blog zu Antje Vollmer gelesen und bin beeindruckt. Ich betreibe selbst einen Blog mit 2 Mitstreitern rund um aktuelle politische Fragen. Ich habe in meinem Blog zum Vermächtnis eine Passage von Ihnen übernommen (zitiert), weil ich damit konform gehe.
https://www.feininger.eu/das-vermaechtnis-der-antje-vollmer/

Zum Thema Russlands Ukraine-Krieg habe ich ein ganzes Buch geschrieben, weil mich die Vorgeschichte so beschäftigt.
In dieser Frage sehe ich bei Antje Vollmer nicht nur in dem Vermächtnis Geschichts-Defizite, die sie ihrerseits den Grünen unterstellt.

Beste Grüße
Thomas Ertl

Lieber Herr Ertl, in Ihrem sehr lesenswerten Blog gehen Sie noch viel kundiger und ausführlicher auf die historischen Ursachen des russischen Angriffskriegs ein. Umso problematischer wirken da die Ausführungen von Frau Vollmer.

Über diesen Blog

Auch das Überflüssige ist lebens­notwendig: Der Autor und Theologe Johann Hinrich Claussen reist durch die Weiten von Kunst und Kultur

Johann Hinrich Claussen
Johann Hinrich Claussen ist Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland. Das heißt, er kümmert sich um das Gespräch zwischen Kirche und Kultur.

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