Doppelter Pflegenotstand

Das lange Warten nach dem Klingeln

upixa / Getty Images

Unter dem Mangel an Pflegekräften leiden die Pflegenden und die Gepflegten. Die einen können nicht mehr und die anderen kämpfen um ihre Würde.

„Machen Sie doch einfach in die Windel, wenn Sie so leiden, weil sie auf Toilette müssen“, diesen freundlichen Rat bekam eine vornehme alte Dame von einer Altenpflegerin, nachdem sie über eine Stunde auf Hilfe gewartet hatte. Die Frau erzählte mir Wochen später davon, immer noch fassungslos.

In ihrer Klage war kein Vorwurf enthalten, sie wusste, wie viel Pfleger*innen rennen und leisten und tun. Trotzdem erlebte sie die Situation als unerträglich und demütigend.  

Gut erinnere mich auch an die harschen Worte eines Patienten, der seine Pflegebedürftigkeit kaum ertragen konnte. Niemand könne doch alles alleine machen, wir brauchen doch einander, mal mehr, mal weniger, so ähnlich hatte ich als Klinikseelsorgerin zu trösten versucht. „Sie haben gut reden, warten Sie mal ab, wie sich das anfühlt, wenn Sie Hilfe brauchen und niemand hat Zeit “, antwortete er mir bitter.   

Das lange Warten nach dem Klingeln

Auf Pflege angewiesen zu sein ist allein schon eine große Herausforderung. Gesund und selbstständig habe ich mir ehrlicherweise nicht vorstellen können, wie es ist, von einem jungen Mann professionell gewaschen zu werden. Es geht, ich hatte das Glück vieler guter Erfahrungen. Pflege auf Augenhöhe ist möglich und eine wunderbare menschliche Hilfe.

Aber es braucht nicht viel, um Hilfebedürftigkeit völlig anders zu erleben. Wenn ich eine Stunde lang heftigen Druck auf der Blase ertragen muss, dann hämmert mir jede Minute ein, dass ich eine Last bin, dass andere wegen mir an ihre Grenzen kommen. Das Gefühl, immer die eine zu viel zu sein, die jetzt schon wieder etwas will, ist zermürbend. Wer ständig wartet und vertröstet wird, fühlt sich klein und lästig.

Es ist einfach eine menschliche Katastrophe, wenn zu wenig Pflegende für zu viele Patient*innen da sein sollen. Dieser Pflegenotstand hat gleich zwei tiefdunkle Seiten.

Pflegende können nicht noch schneller rennen

Viele Pflegende können nicht mehr, wollen nicht mehr, sind ausgelaugt und erschöpft. Zugespitzt durch die Corona-Pandemie kommt die gesamte Berufsgruppe an ihre Grenzen und macht lautstark auf ihre Situation aufmerksam. Prämien für die Pflege sind nur ein Tropfen auf den heißen Stein und freundliches Klatschen auf den Balkonen reicht da mit Sicherheit nicht.

Doch den verletzlichen Menschen, die auf Pflege angewiesen sind, helfen solche kurzfristigen Maßnahmen erst recht nicht. Denn keine Prämie und kein Härtezuschlag können erreichen, dass die zu wenigen Pfleger*innen noch schneller rennen.

Es braucht schlicht und ergreifend mehr Menschen, die den Beruf erlernen und auch auf Dauer in der Pflege arbeiten wollen.

Ein Patentrezept, wie dieser Beruf wieder attraktiver werden kann, habe ich nicht. Und wenn ich gut begründete Forderungen der Pflege nach mehr demokratischen Entscheidungsprozessen im Klinikalltag, besseren Aufstiegsmöglichkeiten und weniger Dokumentation höre, denke ich an dicke Bretter, die da noch zu bohren sind.

Aber:  Die beste Wertschätzung der Arbeit ist und bleibt eine angemessene Bezahlung.

Diese Forderung ist sofort umsetzbar, ohne lange Vorbereitung. Es eilt, denn in der jetzigen akuten Situation ist weder den Pfleger*innen, noch den Pflegebedürftigen zuzumuten, noch lange auf bessere Zeiten zu warten.

Und wer auf Pflege angewiesen ist, wartet doch jetzt schon jeden einzelnen Tag mehr als genug.

Neue Lesermeinung schreiben

Wir freuen uns über einen anregenden Meinungsaustausch. Wir begrüßen mutige Meinungen. Bitte stützen Sie sie mit Argumenten und belegen Sie sie nachvollziehbar. Vielen Dank! Damit der Austausch für alle ein Gewinn ist, haben wir Regeln:

  • keine werblichen Inhalte
  • keine Obszönitäten, Pornografie und Hasspropaganda
  • wir beleidigen oder diskriminieren niemanden
  • keine nicht nachprüfbaren Tatsachenbehauptungen
  • Links zu externen Webseiten müssen zu seriösen journalistischen Quellen führen oder im Zweifel mit einem vertretbaren Prüfaufwand für die Redaktion verbunden sein.

Die Redaktion behält sich das Recht vor, Beiträge zu bearbeiten, macht dies aber stets kenntlich. Wir zensieren nicht, wir moderieren.
Wir prüfen alle Beiträge vor Veröffentlichung. Es besteht kein Recht auf Publikation eines Kommentars.

Über diese Kolumne

Als Klinikseelsorgerin und Krebspatientin kannte Pfarrerin Karin Lackus den medizinischen Alltag unterschiedlichen Perspektiven und hat darüber gebloggt. Ende April 2023 ist Karin Lackus gestorben. Der Blog bleibt online, und in Absprache mit den Angehörigen haben wir im Blog noch einige Texte veröffentlicht, die Karin Lackus vor ihrem Tod verfasst hat.

Karin Lackus
Als Klinikseelsorgerin besuchte Karin Lackus täglich schwerkranke Menschen. Eine eigene Krebsdiagnose beendete von heute auf morgen diese Berufstätigkeit. Darüber schrieb sie in ihrem Blog auf chrismon.de Ende April ist Karin Lackus gestorben. Ein großer Verlust für uns und unsere Leser*innen. Der Blog bleibt online, und in Absprache mit den Angehörigen haben wir an dieser Stelle noch einige Texte veröffentlicht,die Karin Lackus vor ihrem Tod verfasst hat.

Kolumnen auf chrismon.de

Hier finden Sie eine Übersicht aller Kolumnen auf chrismon.de
Und hier können Sie alle Kolumnen direkt abonnieren

Kolumnen

Text:
35 Beiträge

Als Klinikseelsorgerin und Krebspatientin kannte Pfarrerin Karin Lackus den medizinischen Alltag unterschiedlichen Perspektiven und hat darüber gebloggt. Ende April 2023 ist Karin Lackus gestorben. Der Blog bleibt online, und in Absprache mit den Angehörigen haben wir im Blog noch einige Texte veröffentlicht, die Karin Lackus vor ihrem Tod verfasst hat.

Text:
42 Beiträge

Die afghanische Frauenrechtlerin Tahora Husaini hat in Berlin Zuflucht gefunden. Oft ist sie mit ihren Gedanken in ihrer Heimat, bei ihrer Familie, bei den hochragenden Bergen um Kabul. In ihrem Blog nimmt sie uns mit.

Text:
38 Beiträge

Als das Hochwasser kam, war Pastor Thomas Rheindorf gerade zur Seelsorge unterwegs. Geschichten aus dem Ahrtal: über Trauer, Tod und Hoffnung.

Text:
Hanna Lucassen
41 Beiträge

Schwester, Schwester! Hanna Lucassen erzählt von Streiks, Spritzen und Sonntagsdiensten.

Text:
Susanne Breit-Keßler
31 Beiträge

Fußball ist ihr Leben - sagt die ehemalige Regionalbischöfin und Schiedsrichtertochter Susanne Breit-Keßler. Und da der Ball rund ist und das zugehörige Spiel mindestens die wichtigste Nebensache der Welt, schreibt sie - wie schon bei der EM 2016 und der WM 2018 - wieder auf, was sie während der EM 2021 bewegt.

Text:
Dominique Bielmeier, Dorothea Heintze, Anne Buhrfeind
30 Beiträge

Zwei Redaktionen, ein Blog: Dominique Bielmeier arbeitet bei der Sächsischen Zeitung in Dresden. Anne Buhrfeind und Dorothea Heintze bei chrismon in Frankfurt. Nun bloggen sie: Über ihren Redaktions-Austausch, ihr Leben als Ossi im Westen, ihr Leben als Wessi im Osten. Und ihren Alltag, hier wie dort.

Text:
Claudius Grigat
25 Beiträge

Schön bunt ist das Familienleben, manchmal auch zu bunt. Geschichten aus dem turbulenten Alltag von Claudius Grigat