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Körperscham und Bodyshaming
Scham ist ein natürliches Gefühl zum Schutz unserer Intimität. Falsche Scham jedoch ist nicht nur demütigend, sondern auch gefährlich.
05.07.2022

In den 70-Jahren besuchte ich eine Wohngemeinschaft, in der das Private öffentlich und die Toilettentüren ausgehängt waren. Das war nichts für mich, ich wollte lieber meine angeblich kleinbürgerliche Scham behalten.

Auf der Intensivstation erinnerte mich manches an diesen Besuch. Nichts konnte ich hinter einer Türe verbergen, stattdessen wurde akribisch notiert, was mein Körper so von sich gab. Viele Male am Tag wurde mein Bauch begutachtet und ich war froh, wenn die schützende Decke wieder drübergelegt wurde.

Wir schämen uns seit Adam und Eva

Diese Körperscham, so unangenehm sie ist, kennen wir schon seit Adam und Eva und ich mag sie auch weiterhin nicht überwinden. Ich erlebe sie als einen wichtigen Schutz von Intimität und Privatheit.

Völlig unbefangen bin ich hingegen, was meine Narben angeht. Es gibt berührende Aktfotos von Frauen mit Ecken und Kanten nach großen gynäkologischen Operationen, gegen die Scham, zur Enttabuisierung solcher sichtbaren Verletzungen. Für mich selbst waren meine Narben eigentlich nie schambesetzt.

Ganz anders ist das mit meinen Speckröllchen. Seit ich denken kann, will ich sie verstecken. Gemeinsam mit spargeldünnen Menschen habe ich immer ganz bescheiden gegessen, damit niemand auf die Idee kommt, mein Speck habe etwas mit mir und meinem Essverhalten zu tun. Mit der Muttermilch habe ich aufgesogen, dass jedes Kilo zu viel letztlich die Folge von Unwissenheit, fehlender Disziplin, Trägheit und schlimmeren Persönlichkeitsmerkmalen ist.

Zum Glück habe ich deswegen nie wirklich gelitten, nur etwas dünner wäre ich halt gerne gewesen.

Eine Krankheit ist kein Charakterfehler

Ganz anders erleben dies Menschen mit Adipositas, also krankhaftem Übergewicht. „Ich werde heute noch rot, wenn ich an die Bierbänke als Rutsche aus dem Fenster denke, um mich aus der Wohnung zu bekommen“, erzählte eine Patientin.

Eine andere Patientin passte nicht in den Krankenwagen und musste zutiefst beschämt alle Problemlösungsversuche mithören, die laut auf dem Flur verhandelt wurden.

Schwere Patienten sind zweifellos auch für Pflegende und Behandelnde einfach schwer. Sie brauchen mehr Personal, andere Hilfsmittel, andere Betten und sie sind eine Plage für die Rücken der Mitarbeitenden.

Trotzdem ist Adipositas eine schwere Krankheit und kein Charakterfehler. Wird ein Bett in Überlänge gebraucht, steht die Frage von Schuld und Scham ja auch nicht im Raum.

Diese Verknüpfung von Dicksein und schlechten Eigenschaften wird heute unter dem Dach des Begriffs Bodyshaming zu Recht grundsätzlich angeprangert. Menschen sollen wegen ihres Körpers nicht mehr vor Scham im Boden versinken müssen, es geht aber auch um ganz konkrete Sucht- und Gesundheitsgefahren durch solche Beschämung.  

Wie kurz der Weg vom kleinen Luxusproblem zum gefährlichen Verlust von gesundem Körpergefühl sein kann, habe ich selbst am Anfang meiner Erkrankung erlebt.   

Vor der Diagnose habe ich Gewicht verloren, wie das bei Krebs eben häufig so ist. Ich dachte ernsthaft und viel zu lange: „Was für ein schönes Geschenk ist das denn!“ Etwas weniger Naivität wäre schon sehr hilfreich gewesen.

Eine neue, ungewohnte Erfahrung war es dann für mich, während der Chemotherapie jenseits aller Schönheitsideale zu leben. Mit Glatze, ohne Wimpern und Augenbrauen, mit verdellertem Bauch und dranhängendem Beutel hatte ich aus meiner Sicht vor keinem Spiegel mehr eine Chance.

Schön war das nicht – aber einen klitzekleinen Hauch von Freiheit habe ich dann doch tatsächlich auch gespürt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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