Bronzeskulptur, bestehend aus einer menschlichen und einer Pferdefigur, aufgestellt vor der Kreisverwaltung Ahrweiler.
Bronzeskulptur, bestehend aus einer menschlichen und einer Pferdefigur, aufgestellt vor der Kreisverwaltung Ahrweiler.
Thomas Rheindorf
Zorn und Dunkelheit
Auf der Straße angesprochen zu werden ist zwiespältig: Kann sehr nett sein oder bedrohlich, ein gutes Gefühl vermitteln oder Ärger zurücklassen. Selten aber erlaubt ein zufälliges Treffen auf der Straße einen tiefen Blick ins Seelenleben eines Menschen. Manchmal aber doch.
17.09.2021

„Junger Mann, kennen Sie sich hier aus?“ Verstohlen sehe ich mich um. Vor und hinter mir auf der Wilhelmstraße, der Hauptverkehrsstraße von Ahrweiler, ist kein Mensch zu sehen, ungewöhnlich für die Mittagszeit. Von einem jungen Mann schon gar keine Spur. Auf der anderen Straßenseite entdecke ich eine Frau mit Hündchen, deren erblondetes Haar sie ansatzweise als Silver-Ager ausweist. Da offenbar ich gemeint bin, überquere ich die Straße. Sie wedelt mit einem Schreiben eines örtlichen Baumarkts. „Da gibt es 20%. Man muss aber Opfer sein.“ Ich überlege kurz, ob ich über die Bedeutung des Begriffs Opfer in der Jugendsprache aufklären soll, entscheide mich aber für konstruktive Höflichkeit: „Sie möchten eine Betroffenheitsbescheinigung. Die stellt die Kreisverwaltung aus.“ „Da war ich, das soll es aber hier irgendwo geben.“ „In diesem Haus haben die ein Büro“, zeige ich.

Inzwischen ist der Ehemann angekommen, tatsächlich silberhaarig über gebräuntem Teint, Pilotenbrille, umgeschlagenen Manschetten. Mit ein paar Gesten dirigiert sie ihn zum Eingang, bleibt selber stehen. „Wir wohnen in Neuenahr am Schwimmbad, alles weg, Wohnung, Auto, Kleider, einfach alles! Da ist man ja froh über jede Erleichterung“, wedelt sie erneut mit ihrem Rabatt. „Alles nicht meins“, sagt sie und zeigt an sich herab. Die Frau trägt einen kamelhaarfarbenen Pullover, der Kaschmir sein könnte, lindgrüne Chinos und stilsichere Sneaker. Um den Hals baumelt eine dünne Kette mit Goldkugel. So stelle ich mir ein Paar auf der Terrasse eines Golfclubs vor.

"Wir sind dem Staat total egal!"

„Den Bürgermeister könnte ich erschießen“, fährt sie bruchlos fort, „denken Sie, von denen wäre mal einer da gewesen und hätte sich nach uns erkundigt?“ „Leben Sie denn jetzt noch dort?“, erkundige ich mich. „Nein, nein, wir haben eine Wohnung im Brohltal. Wir fahren jetzt mit dem Auto unseres Sohnes.“ Ehe ich Luft geholt habe, geht es weiter: „Haben Sie den Leserbrief von dem AfD-Mann gelesen?“ Habe ich nicht. „Der bringt es mal auf den Punkt: Wir sind dem Staat total egal!“

„Haben Sie denn die Soforthilfen von Stadt und Kreis nicht erhalten?“ „Ach ja, das, haben wir“, wischt sie den Monatslohn eines Facharbeiters vom Tisch, „aber was ist mit den Millionen Spendengeldern? Die Bild meint es auch, die Flutopfer sind vergessen!“ „Hatten Sie denn gar keine Hilfe?“ „THW war da, die haben alles weggeschmissen. Den Modeschmuck haben die mir gegeben, das Gold soll weggeschwommen sein - komisch, oder?“ „Glauben Sie, die Ehrenamtlichen haben bei Ihnen lange Finger gemacht?“, frage ich, doch sie fährt fort: „Man kann nicht einmal mehr telefonieren! Nirgendwo geht ein Mensch dran, überall nur Warteschleifen. Warteschleifen und Anrufbeantworter.“

Angst vor der Dunkelheit

Sie hat sich in Rage geredet, als auf einmal etwas Unerwartetes passiert: Als hätte jemand den Stöpsel gezogen, fällt sie in sich zusammen und starrt auf ihren Terrier, der sie ansieht wie in der Cesar-Werbung. „Ich habe Angst vor dem November. Vor der Dunkelheit“, flüstert sie und meint nicht mehr mich. Ich schweige, denke an unseren Küchentisch, an dem wir nicht sitzen und Tee trinken werden, während es langsam dunkel wird. Später erfahre ich über öffentliche Kanäle: Bei der Soforthilfe gibt es einen Nachschlag, andere Gelder können jetzt beantragt werden. Hilfe gegen die Angst vor dem, was kommt, kann aber nicht per Formular bewilligt werden.

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