Thomas Rheindorf Hochwasser Gedicht
Thomas Rheindorf
Issis Gedicht
Ich lese ein Gedicht in der Zeitung. Dann höre ich es sonntags im Gottesdienst. Vorgetragen von der Autorin. Einfache Worte, wuchtige Wirkung. Sie haben die Herzen der Opfer getroffen.
16.08.2021

Als er noch nicht davongeschwommen war, landeten in meinem Briefkasten wöchentlich drei Käseblätter. Wenn ein neues da war, habe ich mich darüber gefreut, weil sich ein kleines Ritual anschloss: In den Prospektbeilagen, die das Heftchen an Volumen um ein Vielfaches übertreffen, kann man studieren, was die Discounter so als Aktionsware anbieten, und dann im Blatt selbst erkunden, ob jemand gestorben ist, den ich kannte. Früher war das die Leidenschaft meiner Oma – ich merke, man wir nicht jünger.

In Zukunft möchte ich respektvoll Lokalzeitungen sagen, denn durch das Hochwasser haben sie – kleiner Wortwitz – Auftrieb erhalten, qualitativ gesehen. Jetzt geht es um wirkliche Schicksale und großartige Initiativen. Das spornt die Lokalreporter spürbar an. Heute war das wieder der Fall. Ich schüttelte also die Prospekte heraus und blätterte in der Zeitung.

Gleich auf Seite drei finde ich ein Gedicht. Gedichte sind in solchen Blättchen selten literaturpreisverdächtig, manchmal unfreiwillig komisch, manchmal mundartlich. Hier ist es anders, ich kenne die Autorin: Ilse-Dore Schöpke, ihre Freundinnen nennen sie Issi. Wenn sie mir auf der Straße entgegenkommt, wechsele ich die Seite – wenn ich auf der bin, auf der sie nicht ist. Denn es ist immer erfrischend, ein paar Worte mit ihr zu wechseln.

Irgendwann hat sie zu dichten begonnen

Issi ist jetzt über achtzig, doch nur auf dem Papier. Achtzig ist das neue sechzig, wer sie kennt, wird das unterschreiben. Sie stammt aus dem Vogtland und zog vor Jahren aus Chemnitz nach Ahrweiler. Issi ist evangelisch und mag ganz normale Gottesdienste am Sonntagmorgen. Vor etlichen Jahren meldete sie sich als Lektorin. Den rheinischen Singsang hat sie nie angenommen, ihre eigene Herkunft ist beim Sprechen allenfalls zart zu hören. Issi nimmt Lesen ernst. Sie will die Texte vorher per Mail haben, druckt sie sich augenfreundlich aus und übt. Manchmal fragt sie nach der Aussprache eines biblischen Ortes oder Namens. Sie will, dass verstanden wird, was sie vorträgt. Aufgeregt wirkt sie nie.

Irgendwann hat sie zu dichten begonnen. Kleine Sachen, die ihr im Kopf herum gingen. Erst für die Schublade. Sie las Freundinnen etwas vor. Die waren angetan. Eine sagte: Schick das mal an die Zeitung. Issi tat es, war erstaunt, dass es gedruckt wurde. Noch erstaunter, als der Redakteur anrief und sie ermutigte, mehr zu schicken, wenn sie wieder mal was habe. Sie hat. Wenn Issi etwas erlebt und es bewegt sie, dann entstehen die Reime im Kopf.

Issis Haus wurde vom Hochwasser verschont. Ihre Wohnung liegt auf einer kleinen „Insel“ von Häusern, zu denen das Wasser nicht kam. Vielleicht gerade darum bewegt es sie so. Ich treffe sie freitags auf der Straße: „Ich habe Ihr Gedicht gelesen“, sage ich, „Wollen Sie das nicht am Sonntag im Gottesdienst vorlesen, statt Fürbitten?“ Sie will. Am Sonntag geht sie nach dem Lied „Ein feste Burg ist unser Gott“ ans Mikro.

„Ich bin durch die Stadt gegangen, und konnte nachts nicht schlafen, wegen der Bilder in meinem Kopf. Dann habe ich mich hingesetzt und dieses Gedicht geschrieben. Dann konnte ich einschlafen“, erklärt sie. Und beginnt: „Ahrweiler steht wieder auf...“ Die Stimme bricht, erstirbt. Issi schluckt. Dann trägt sie vor. Erst bebend, am Ende mit einer Spur Trotz:

Ahrweiler steht wieder auf!

Unvergesslich – diese Nacht!

Naturgewalt hat aus der Ahr ein Monster gemacht.

Menschen, Tiere, Autos, Häuser und Brücken können den entfesselten Gewalten nicht das Geringste entgegenhalten.

Das Schlimmste, wir müssen nach diesen Tagen

viele Menschenleben beklagen!

Und so viele haben kein Zuhause mehr,

von überall kam schnellstens Hilfe her.

Aus dem ganzen Land kamen mit Baugeräten viele Leute,

sie helfen den tapferen Ahrweilern bis heute.

Es zeigt sich im Ahrtal weit und breit

Für diesen Beistand große Dankbarkeit.

Ich gehe durch’s Städtchen –

die Häuser schau’n mich mit toten Augen an,

sodass ich mich der Tränen nicht erwehren kann.

Mit dem Neuaufbau werden Jahre vergeh’n,

und sicher wird es anders, aber auch wieder schön!

Wer helfen kann, hilft und wir hoffen darauf:

„Unser geliebtes Ahrweiler steht wieder auf“!

 

Schweigen. Schließlich leiser Applaus.

 

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