Foto: Sven Paustian
Lena Uphoff
18.08.2011

Wir saßen an diesem Sommerabend am Ufer des Rheins. Wir hatten uns 35 Jahre nicht gesehen und kannten einander eigentlich nicht. Was wir voneinander im Gedächtnis behalten hatten,  – der schlanke, stille Philipp und der kräftige, laute Arnd – er­sparten wir einander. Wir fragten uns vorsichtig heran, an das Leben, das Sein und das Werden des jeweils anderen. Kinder? Werdegänge, Stationen, Interessen? Ganz höflich und gesittet, respektvoll und sachte. Es tat uns beiden wohl.

Wir gingen in dieselbe Schule und mehrere Jahre in dieselbe Klasse. Unsere Freundeskreise überschnitten sich, so dass wir uns mehr als einmal auch auf wilden Feten, familiären Geburtstagsfeiern und rauschenden Festen begegnet waren. Doch so ganz persönlich waren wir uns nie besonders nahegekommen. Vielleicht lag es an unseren Hobbys, unseren Neigungen und Interessen oder an den verschiedenen Mädchen, denen unser jeweiliges Interesse galt. Unsere Gemeinsamkeiten, so stellten wir an diesem lauen Abend fest, lagen dort, wo wir nicht dazugehörten. Wir waren „keine“ Motorradfahrer, „keine“ Schlagerfans, „keine“ Segler.

Die üblichen Fragen nach alten Bekannten: Was macht der Udo, immer noch in München? Und ist Annette echt zum zweiten Mal geschieden? Bei diesen beiden Namen fiel uns ein, dass wir doch etwas gemeinsam hatten. Einzig in Annette waren wir ­beide – erfolglos – verliebt und mochten deshalb Udo nicht, der mit ihr „ging“. Und dann kamen wir drauf, dass das längst nicht alles war, was uns verband: Wir beide hatten gerne Theater gespielt und mindestens einmal zusammen auf der Bühne ge­standen. Ich hieb ihm auf die Schulter: „Antigone! Du Haimon, ich Theiresias! Nicht zu fassen!“ Und Philipp: „Annette als Antigone, Udo gab den bösen Kreon.“

„Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da“, murmelte Philipp, „kaum ein Satz hat mich so nachhaltig beschäftigt wie der.“ Er sah mich an und las in meinem Blick: nicht alleine ihm ging’s so mit diesem kleinen Antigone-Zitat. Der alte Sophokles. Wir hoben unser Glas.

Die Norweger verweigern sich der Logik des Mörders

In unserer beider Leben erwies sich die Annäherung an die Tragödie des Mädchens aus Theben im Schultheater als Schlüssel­erlebnis. Antigone, die Tochter des Ödipus, bricht das Gesetz, das ihr verbietet den Bruder Polyneikes zu begraben, der im Kampf gegen die eigene Stadt als Feind gefallen ist. Ihr Onkel, der Herrscher Kreon, lässt sie lebendig begraben. Sie begeht Selbstmord. Darin folgt ihr der Verlobte Haimon, der Sohn des Kreon. Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht. Antigone handelte in unseren Augen genau so, wie es Bertolt Brechts ge­flügeltes Wort forderte. Dass auch Brecht sich mit dem Stoff beschäftigt hatte, fanden wir toll. Und dass Annette mit im Spiel war, tat sicherlich ein Übriges. (Udo hätte nicht dabei sein müssen.)

Mir und auch meinem alten Mitschüler Philipp erscheint die fast ein halbes Jahrtausend vor Jesu Geburt entstandene Tragödie  ewig jung – frisch wie die Darstellung von Glaube, Hoffnung und Liebe im Brief des Apostels Paulus an die Korinther. Ich bin mir übrigens ziemlich sicher, dass der griechisch gebildete Paulus das Stück in- und auswendig kannte. Er wird es mehr als nur einmal auf einer Bühne in seiner Heimatstadt Tarsus, in Antiochia, in Korinth oder Damaskus gesehen haben. Und wahrscheinlich hat es auch der Zimmermann Jesus gesehen, vielleicht im Theater der galiläisch-griechischen Stadt Sepphoris, nur acht Kilometer, also zwei Stunden Fußweg von Nazareth entfernt.

Es wird niemanden überraschen, dass mir Antigones Bekenntnis in den Sinn kam, als die Antwort der Norweger auf das ­Massaker am 22. Juli im Jugend-Ferienlager Utoya bei Oslo durch die Medien ging: „Wir wollen auf den Hass mit noch mehr Liebe antworten.“ Die Norweger glauben daran, sie geben die Hoffnung nicht auf. Sie wollen auf die mörderische Logik des Bösen mit mehr als als nur mit härteren Gesetzen und noch besserer Polizeiarbeit reagieren. Es ist nicht weit von Theben nach Oslo.

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