Über die Frage, ob wir wirklich das Alte bewahren wollen, wenn wir Traditionen bemühen
Lena Uphoff
11.11.2011

In meiner Gegend halten sie es alle mit der Tradition. Wie mir scheint mit wachsendem Eifer und besonders gerne in der Vorweihnachtszeit. In den Veranstaltungshinweisen des Lokalblattes wimmelt es von „traditionellen“ Gänse-Essen, Chorkonzerten, Weihnachtsmärkten. Manche dieser Traditionen sind wirklich welche, reichen über ein Lebensalter, mindestens aber über ein Jahrzehnt hinaus. Andere behaupten schon nach der ersten Wiederholung, traditionell zu sein.

Tradition – was bedeutet dieses seltsame Wort eigentlich? Etwas, was im Rahmen einer Kultur, einer Lebensweise über Generationen hinweg entwickelt und weitergegeben wurde, sagen die Lexika. Und warum schmücken dann Gründer, Erfinder, Neu­schöp­fer die Werbung für ihre wenig erprobten, frisch ausgedachten Formen des Zusammenseins so gerne mit der Marke „althergebracht, überkommen, von gestern“?

Weil es heimelig und warm wirke, weil es Verlässlichkeit und Gemütlichkeit ausstrahle, hat mir eine psychologisch versierte Kollegin gesagt. Hm. Ich alter Sack betrachte mich eher als nicht eingeladen, wenn mich jemand mit dem Adjektiv „traditionell“ zu locken versucht.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Ich liebe es, den Heldinnen und Legenden meiner Jugend wieder zu begegnen. Neulich zum Beispiel, beim Jazzfestival, habe ich voller Andacht dem Pianisten McCoy Tyner zugehört. Kennen Sie nicht? Dieser rüs­tige Siebziger hat vor fünfzig Jahren mitgespielt, als John Coltrane den Free Jazz erfand. Ich fragte mich zwar zwischendurch, was mir an dieser publikumsabgewandten Art der Musik als Jung­spund gefallen hatte, aber die Rührung, den alten Herrn noch einmal lebendig auf der Bühne zu sehen – und zu hören – war diesem Anfall von Ratlosigkeit gewachsen.

Die schönste Wiederholung
ist immer wieder neu

Damals, vor mehr als dreißig Jahren, als ich Tyner zum ersten Mal im Konzert gehört hatte, mag es das radikal Neue des Free Jazz, die Aufkündigung jedes dogmatischen Musikbegriffes gewesen sein, was mich bis in die Euphorie reizte. Innovation, Erneuerung – heißt auch und vor allem: das große Nein zum Üblichen, zum Überkommenen, zum „So machen wir es alle“. Mich reizt dieses Nein immer noch, das Aufreißen der Fenster, die Freiheit, die Spannung beim Vordringen ins Neuland, ins Unbekannte.

Und gleichzeitig muss ich einräumen, dass ich die Kunst des Wiederholens schätzen gelernt habe. Das Liebgewordene ersehnen, auf dass es sich erneut einstelle. In der Familie, in Freundschaften wieder „froh vereint“ sein, wenn man zusammen einen Geburtstag feiert oder ein Gansessen oder auch Weihnachten – das erfasst auch mich.

Und während ich über diese beiden Pole meines Menschseins nachdenke, entdecke ich für mich den Schlüssel zu seinem Verständnis in diesem gerade nicht sehr bewusst eingestreuten „erneut“. Ich möchte etwas „erneut“ erleben, also das Bewährte und Wohlbekannte nicht als hundertprozentige Kopie des Gewesenen, sondern weiterentwickelt, im Augenblick überraschend. In Deutschlands traditionellem Silvester-Fernsehsketch „Dinner for One“ fragt Butler James: „The same procedure as last year, Miss Sophie?“ Und die Dame antwortet: „The same procedure as every year, James.“ Immer dasselbe – und immer wieder anders.

Weil wir uns ändern, ändert sich alles. Weil wir dasselbe mit  anderen Augen, auf dem Hintergrund neuer Erfahrungen wahrnehmen, ist es etwas Neues. Das gilt für Dinge, an denen wir beteiligt sind – vor allem für die Liebe. Der französische Philosoph Bruno Latours erklärt das in seinem Buch „Jubilieren“. Wenn der Liebende seiner Geliebten zum zehntausendsten Mal „Ich liebe dich“ gesteht, dann beschreibt er etwas, was sich gerade neu ereignet, und meint nicht: Wie ich dir bereits vor zehn Jahren gesagt habe, liebe ich dich. Ich wünsche mir und Ihnen, dass wir in dieser Vorweihnachtszeit viel von dem, was überkommen ist, in diesem Sinne erleben.

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