Lena Uphoff
25.01.2011

Eine gute Ordnung ist wichtig. Verlässliche Öffnungszeiten von Geschäften und Behörden etwa, Abgabetermine für Steuerer­klärungen, feste Termine für Abteilungskonferenzen im Betrieb, Stundenpläne in der Schule, geregelte Abläufe in Gottesdiensten, bei Feiern oder Vereinsfesten. Eine Ordnung, Agenda, Liturgie, eine Zeremonie streng nach Protokoll sorgt dafür, dass alle ungefähr wissen, wie der Hase läuft, sich nicht fremd fühlen.

Wenn solche Ordnungssysteme über Jahre, Jahrzehnte oder gar über mehrere Generationen hinweg funktionieren, werden sie von den Organisatoren und Verantwortlichen mit dem Adjektiv „traditionell“ versehen, was aus dem Lateinischen kommt und so viel bedeutet wie „überliefert“, „weitergegeben“.

Bei uns im Club gibt es auch eine schöne Tradition. Im Februar, wenn der Vorstand zur Jahreshauptversammlung lädt, so war es wohl mal gedacht, sollte es nicht beim Abarbeiten der Tagesordnung bleiben. Also haben die Funktionäre dereinst beschlossen, im Anschluss an die Regularien zu einem sogenannten gemütlichen Teil einzuladen. Es muss wirklich schon lange her sein, denn auch die Älteren im Verein haben Mühe, sich genau zu ­erinnern, wann das war.

Manche sagen, die Idee stamme aus den frühen 60er Jahren, andere meinen, sicher zu wissen, dass der „gemütliche Teil“ in den 70ern eingeführt wurde. Alle Zeitzeugen aber berichten übereinstimmend, dass es triftige Gründe für die Stiftung des „fröhlichen Miteinanders“ gab. Über Bauprojekte, den Umgang mit Geld und den Zustand der Jugendabteilung seien Vorstand und Mitgliedschaft in einem Maße zerstritten gewesen, dass bei einer der Versammlungen schon der Antrag zur Auflösung vorgelegen habe.

Kampf um die Seele des Clubs –
Kulturbanausen gegen Ewiggestrige

Dann aber habe der legendäre Ehrenvorsitzende Matze Schmidt spontan das Wort ergriffen und gerufen: „So gehen wir nicht auseinander, so gehen wir nicht in die Nacht hinaus!“ Daraufhin habe er ein Lied angestimmt. „Schwarzbraun ist die Haselnuss“ sei es gewesen, erzählt Onkel Herbert. „Nein. ‚Die Gedanken sind frei‘“, behauptet Matzes Neffe Rolf. „Beide Lieder wurden gesungen“, weiß Schorsch Raster. Er muss es wissen, denn er ist unser ehrenamtlicher Archivar. Jedenfalls war Matze Schmidts Initiative erfolgreich.

Erst zögernd, dann immer lauter und fröhlicher sangen alle mit. Daraufhin kam Lore, die Schriftführerin, auf die Idee, die schönste Krawatte des Abends auszuzeichnen, Kurt, der ­Heimatdichter, las eine Mundartgeschichte vor, und schließlich wurde noch mal gesungen. Irgendwann nach Mitternacht lagen sich alle in den Armen. Und sie beschlossen, künftig nach jeder Hauptversammlung in froher Runde zusammenzukommen, um das menschliche Fundament zu stärken.

Matze Schmidt und der Dichter Kurt sind lange tot. Andere sind in ihre Rollen geschlüpft. Jetzt gibt es wieder großen Krach im Club. Und sein Grund ist der „gemütliche Teil“, genau gesagt sein immer gleicher Ablauf: Der Vorsitzende begrüßt und stimmt ein Lied an („Schwarzbraun“ oder „Die Gedanken“), der Vize liest eine seiner langweiligen Mundartgeschichten, und dann gibt es irgendeinen blöden Preis für irgendeine sinnlose Aktion. Das mit der Krawatte geht nicht mehr, weil niemand mehr eine trägt. Nun hat eine Opposition den Antrag gestellt, den „gemütlichen Teil“ oder zumindest dessen Programm abzuschaffen. Mit diesem ­spießigen Quatsch müsse endgültig Schluss sein.

Das überraschenderweise gar nicht so große Lager der Traditionalisten reagierte empört: „Wer den gemütlichen Teil kippt, zerstört die Seele des Clubs!“ Eine Kampfabstimmung drohte. Kulturbanausen gegen Ewiggestrige. Doch wir haben einen schlauen Vereinsboss (der im Übrigen gar keine Lust hat, Lieder anzustimmen und Preise zu verleihen). Sein Kompromissantrag wurde letztlich fast einstimmig verabschiedet. Der gemütliche Teil gehört nicht mehr zum ordentlichen Programm, sondern ­findet „inoffiziell“ statt, auf freiwilliger Basis. Und alle, die Lust haben, können etwas vortragen oder singen, aber nicht länger als fünf Minuten. Beste Aussichten für eine neue Tradition.

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