Lena Uphoff
15.11.2010

Irma und ich kennen uns fast vierzig Jahre. Irma und ihr verstorbener Mann Kurt waren mit meinen Eltern befreundet. Ihre Kinder sind in etwa so alt wie meine Geschwister und ich. Die Familien haben viel gemeinsam unternommen. Im Winter fuhren wir zusammen Ski, im Sommer traf man sich im Freibad, lud einander zum Geburtstag ein, grillte.

Als Zehnjähriger war ich schwer verliebt in Irma. Sie war die Erste, von der ich das so sagen würde. Ich war fasziniert von dieser sportlichen, sprühenden, redegewandten, humorvollen Frau. Als mütterlich empfand ich Irma nie.

Mit 13 ging mir der Puls schneller, als sie mir und meiner Tanzstundenpartnerin ­ ihrer Tochter ­ beibrachte, wie man "eng" tanzt. Wie sie roch! Wie sie sich anfühlte! Die dreißig Jahre Altersunterschied, wo waren sie? Damals glaubte ich, dass sie gar nicht mitbekam, wie ich sie anschmachtete. Heute weiß ich, dass ihr das sehr wohl bewusst war.

Die Wege trennten sich, wie das immer so ist. Die Lebenszeichen wurden seltener.

Neulich ist mir Irma wieder begegnet. Eher zufällig in einer Theaterpause. Sie hatte mich erkannt, ich sie nicht. Und als sie mich ansprach, mir ihren Namen sagte, bin ich zutiefst erschrocken. Diese kranke, alte Frau soll Irma sein? Die Augen ohne das mir vertraute Leuchten. Die Zunge schwer, die Sätze wirr. Ich war schockiert. Spürte sie es?

Was ich nicht sagen mochte, besorgte ein anderer alter Freund, der sich zu uns gesellte. Fritz, ein frisch pensionierter Kunstlehrer, zehn, zwölf Jahre jünger als Irma und ein so genannter alter Charmeur. "Nein, Irma, du siehst jedes Mal jünger aus. Wie machst du das? Fantastisch! Schade, dass man sich so selten trifft." Ein kleines Licht huschte über das vom Leiden gezeichnete Gesicht der alten Dame.

Als sie sich für ein paar Minuten entschuldigte, raunte mir Fritz zu: "Wir machen uns alle große Sorgen um sie." Und ich fragte ihn: "Warum lügst du sie an? Warum sagst du ihr, sie sähe blendend aus?"

Fritz starrte mich an, als hätte ich ihn geohrfeigt. Habe ich ja eigentlich auch. Dann zischte er: "Tja, mein Lieber, werde erst mal so alt wie wir, dann verstehst du das vielleicht. Wir Älteren wollen was Positives hören. Das gibt Kraft, das hilft durch den Tag." Er hatte es plötzlich ziemlich eilig, auf seinen Platz zurückzukehren.

Als Irma zurückkam, ging die Pause gerade zu Ende. Ich fragte noch rasch: "Wie geht es dir?" ­ "Heute nicht so doll. Aber ich will mich nicht beklagen." Ich versprach, mich zu melden, wenn ich mal wieder in der Stadt bin.

Parzival aus der Sage braucht eine zweite Chance. Bei der ersten Begegnung mit dem todeswunden Gralskönig Amfortas hat der Ritter taktvoll geschwiegen, das Leiden übersehen, wie er es als höfisches Benehmen gelernt hatte. Von seinem Leiden erlöst wird der König erst, als ihn der Gast beim zweiten Besuch nach seinem Befinden fragt.

Wer fragt, wie es geht, muss sich darauf einlassen, eine Antwort zu bekommen. Und die kann den Hörenden in Zugzwang bringen, ihn zu einer weiteren Frage veranlassen: "Kann ich dir helfen?" Wer davor Angst hat, wer nur pro forma fragt, wer nur "gut" zur Antwort haben will, der sollte es lieber lassen.

Wer nicht fragt und stattdessen Komplimente macht, die weit weg von der Wahrheit sind, mag immerhin geltend machen, dass er es gut meint. Und Irma haben Fritzens Schmeicheleien tatsächlich gefreut ­ auch wenn sie weiß, dass sie nicht stimmen.

Ich habe mich ein bisschen davor gefürchtet, Irma zu besuchen. Ich habe es dann doch getan ­ versprochen ist versprochen. Sie hat mir von ihrer Krebserkrankung erzählt. Aber wir haben auch viel gelacht. Und sie gestand mir, wie gern sie es gesehen hätte, wenn ich ihr Schwiegersohn geworden wäre. Es war schön. Am Ende fragte ich sie, was ich ihr Gutes tun könne. "Du könntest mir zwei Kästen Mineralwasser besorgen und das Leergut abgeben. Ich kann das nicht mehr schleppen." Klar, konnte ich.

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