Arnd Brummer über Kopftücher in Mittelfranken
Lena Uphoff
11.12.2013

chrismon Chefredakteur Arnd Brummer
Kopftuch! Klar bin ich dagegen, dass Frauen gezwungen werden, aus religiösen oder sonstigen Gründen Kopftücher zu tragen. Und dies nicht erst seit neuestem. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie seltsam ich diese Kopfbedeckung schon in den 60er Jahren fand. Im Jahr 1966 war es, als meine Urgroßmutter im Alter von 94 Jahren gestorben war und begraben wurde. Im schönen Bad Mergentheim an der Tauber. Uroma stammte aus einer riesengroßen mittelfränkischen Familie.

So war es nicht weiter verwunderlich, dass eine gewaltige Schar von Männern und Frauen aus dem halben Frankenland zu dieser Beerdigung erschien. Für mich, gerade mal neun Jahre alt, der aufregendste Tag meines bisherigen Lebens.

Um 15 Uhr sollte die Trauerfeier in der Kapelle des Friedhofs beginnen. Eine Stunde vorher begannen die Trauernden ein­zutrudeln. Und so, wie sie ankamen, klinkten sie sich ein in das fortlaufende Rosenkranzgebet, wie es unter dem Warten vor katholischen Begräbnissen damals gesprochen wurde. Der halblaut gemurmelte Singsang beeindruckte den kleinen Arnd.
Aber was mich noch mehr faszinierte, war die Tatsache, dass die Hereinkommenden ohne langes Zaudern nach Geschlechtern getrennt in die Bänke strebten. Die Männer links, die Frauen rechts. Und aus diesen Bänken erscholl nun im Wechselgesang hell, dunkel, hell, dunkel das vielteilige Rosenkranzgebet mit mehreren „Gegrüßet seist du, Maria“ und – soweit ich mich erinnere – abschließendem Vaterunser.

Die Männer hatten fast alle beim Weg durch den Friedhof  schwarze Hüte getragen, die sie beim Eintreten abnahmen. Die Frauen trugen Kopftücher – auch im Inneren der Friedhofs­kapelle. Meine geflüsterte Frage beantwortete die neben mir sitzende Oma knapp und fauchend: „Ehrbare Frauen machen das so.“

"So läuft man nicht einmal in München rum!"

In einer Gebetspause wollte ich dann wissen, was „ehrbar“ sei. Und Oma: „Keine Schicksen halt. Mütter, verheiratet, im Glauben an Gott.“ Es klang wieder sehr harsch, wie meine geliebte Großmutter das rausfeuerte. Sie bemerkte, dass der Enkel ein wenig irritiert neben ihr saß. „Schau, da drüben“, flüsterte sie mir ins Ohr, „das ist die Frau des Landrats. Lutherisch, das falsche Gesangbuch. Aber sie weiß, was sich gehört. Trägt Hut.“ Stimmt. Einen scheußlichen hellbraunen Hut, mit Federn hinten und einem Schleier vorne. Ich sagte Oma, ich müsse kurz noch einmal austreten.

Draußen vor der Tür stand die Stadt-Verwandtschaft und rauchte im nieseligen Regen. Männer und Frauen in schwarzen oder dunkelblauen Nylonmänteln. Die Jungs barhäuptig. Viele von ihnen mit einer sogenannten Elvis-Tolle und reichlich Gel. Die Mädels mit pompösen, hochtoupierten Frisurkunstwerken, zusammengehalten von vielen Dosen Haarspray, ihre Beine in schwarzen Nylonstrümpfen, dazu hochhackige Pumps. Gefiel mir, wie sie da standen, scherzten und rauchten. Gefiel mir gut!

Als ich dann wieder auf meinen Platz neben Oma schlüpfte, erzählte ich ihr, was ich gesehen hatte. Naserümpfend und ziemlich laut schimpfte sie: „Das sind Schicksen! Und Spitzbuben, die nicht wissen, was sich gehört. So läuft man nicht einmal in ­München rum!“ Und Tante Gerdi fügte hinzu: „Und in Stuttgart auch nicht. Des isch so empörend! De Jonge wisset oifach net, wie mer sich benimmt.“ Dreißig Hüte wackelten im selben Rhythmus. Das energische, zustimmende Nicken der anständigen Frauen nahm kein Ende.

„Ich find’ aber die Frisur von Tante Babsi mit den schwarzen Haaren schon ganz toll!“ Was ich da mit heller Stimme in die ­Trauerversammlung krähte, ließ strafende Blicke zu meiner ­Mutter folgen. Sie saß hinter uns. Und als dann auch noch Cousine Beate in glockenhellem Sopran ergänzte – „Das ist halt modern. Wenn ich groß bin, toupiere ich auch!“ –, schien das Ende eines kultivierten Zeitalters in der Familie anzubrechen.

Neulich habe ich Tante Gerdi, inzwischen hochbetagt, wieder getroffen. Sie klagte über die armen türkischen Frauen, die Kopftücher tragen müssen. An Uromas Beerdigung und ihren Spruch damals mochte sie sich nicht mehr erinnern. „Bub, des isch doch  scho fuffzich Jahr her!“ Das ist nicht lange, finde ich.

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Als ein Türkischstämmiger islamischen Glaubens, der sporadisch und gerne Chrismon liest, möchte ich Herrn Arnd Brummer zu seinem trefflichen Artikel "Ohne Kopftuch! Die wissen doch nicht, was sich gehört" gratulieren.

Viele vermeintlich religiös-kulturell bedingten Unterschiede (Deutsch / Christlich versus Türkisch / Islamisch) entpuppen sich bei genauerem Hinschauen als das Ergebnis einer zeitversetzten Industrialisierung und Urbanisierung, ergo einer zeitversetzten Liberalisierung und gesellschaftlichen Diversifizierung.

So gilt es ganz nüchtern und sachlich festzuhalten, dass

- die Jungfräulichkeit von Frauen noch in den 1920'er Jahren eine häufig nachgefragte "Tugend" in Deutschland war und ohne die Verwerfungen des II. Weltkrieges wohl noch einige weitere Jahrzehnte geblieben wäre,

- noch bis Anfang der 1970'er Jahre Frauen in der Bundesrepublik Deutschland das Einverständnis ihrer Ehemänner einholen mussten, um eine Berufstätigkeit aufzunehmen,

- bis Ende der 1970'er Jahre Homosexualität in der Bundesrepublik Deutschland eine Straftat darstellte.

Folglich gab es in Deutschland vor gerade mal 40 Jahren noch gesetzliche Regelungen und weit verbreitete Einstellungen in der Bevölkerung, die wir heute als archaisch betrachten und eher mit dem islamischen Kulturkreis oder Ländern wie bspw. Russland assoziieren.

Gerne möchte ich die obigen, soziologisch-empirisch verifizierbaren, Anmerkungen mit einer persönlichen Anekdote abrunden. Als ich Ende der 1990'er Jahre eine türkische Familie im katholisch-bürgerlichen Paderborn besuchte und die kopftuchtragende Mutter der Familie (die ihrer Tochter und ihrem Sohn sehr viel Freiraum gewährte) mit der bewusst provokativen Frage konfrontierte, ob sie keine Probleme damit hätte, ihre Kinder nach westlich-deutschen Maßstäben zu erziehen, erwiderte diese traditionell geprägte aber nicht bornierte Frau: "Warum sollte ich?! Die (also die Deutschen in Paderborn) sind uns (d.h. "Türken") sehr ähnlich. Die haben solide Werte wie wir und schätzen und achten die Familie und den Familienzusammenhalt."

Es ist nur logisch, dass in kleineren deutschen Gemeinden (insbesondere in Bayern oder Baden-Württemberg), wo "die Welt noch in Ordnung" ist, sich die Integration oftmals viel geschmeidiger vollzieht als in den Problembezirken deutscher Großstädte, wo es zumeist an Leitbildern eines intakten und bürgerlichen deutschen Familienlebens mangelt.

Mit besten Grüßen. Ertugrul Uzun

Ich kann nur sagen, dass ich diese Beobachtung teile! Bei der Kopftuchdebatte erinnere ich mich manchmal an meine Mutter,
die noch eine Schublade voller Kopftücher hatte (in den frühen siebziger Jahren) und allmählich Zweifel hegte, ob Sie diese den immer noch tragen sollte. Andererseits fand es sie eben auch ungehörig, ohne Kopftuch auf die Strasse zu gehen. Sie war in den zwanziger und dreißiger Jahren auf dem Lande groß geworden.

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In allen Erdteilen schützt sich die hellhäutige Bevölkerung vor den Sonnenstrahlen.
Die Beduinen mit Kaftan, Turban und Burnus, die "Westernreiter" mit Sombrero und
Staubtuch usw.
Ganztägige Feldarbeit zog Kleiderordnungen nach sich, die sich am jeweiligen Klima
orientierten. Ist es erstaunlich, dass sich aus Scham vor Nacktheit ästhetische und
kulturelle Normen entwickelten, deren ursprünglicher Sinn nicht mehr hinterfragt
wurde?
In unseren Breiten genügte den Männern zur Körperbekleidung Hut oder Mütze, den
Frauen Kopftuch oder Haube. Wer sich daran nicht hielt, riskierte gebleichtes Haar,
Sonnenbrand und Hautkrebs.
Dem gegenüber dient die heutige Kleidermode fast ausschließlich dem Umsatz:
Unterwasche wird vernachlässigt, weil sie zeitlos ist. Das "Outfit" wird direkt auf
der Haut getragen. Darüber gegen Kälte modische Warmhalter. Bei Wärme reduziert sich die "Kleidung" auf "fast nichts", das mit kostspieligen Sonnencremes und Haarpflegemitteln vervollständigt wird. Damit steigt der umweltbewusste Urlauber,
der sonst auf jeden Ölspritzer hysterisch reagiert, ungeniert ins Meer.

G-H Tebben

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Die angebliche Bekenntnisfrage scheint in Wirklichkeit nur eine Frage der Integration in den Lebensstil der deutschen Mehrheitsgesellschaft zu sein. Mit der Zeit wird das Kopftuchtragen immer seltener werden.

Mal etwas anderes zur Zeitdifferenz: Christen und Muslime sind ja stolz auf ihren Schöpferglauben. Geht man von 13,6 Milliarden Jahren der Schöpfung aus, entfällt die meiste Zeit auf die physikalisch-chemische Entwicklung mit ihrer Tendenz zu größeren Einheiten. Die Zeit der Säugetiere und der Menschen ist vergleichsweise kurz. Selbst wenn man diese Zeit verzehnfacht, weil sie wichtig ist, macht sie nur einen kleineren Teil insgesamt aus. Wie kann dann jemand an einen baldigen Abschluss der Schöpfung glauben? Viele Menschen heute beklagen, sie wüßten nicht, ob es einen Schöpfer überhaupt gibt. Der Schöpferglauben gehört doch zu einer vollständigen Schöpfung dazu. Siegmund Freud, der Psychonalytiker des 19. und 20. Jahrhunderts, sah als seine Hauptentdeckung an, daß der Mensch mehr unterbewußt agiere als bewußt. Zu diesem Unterbewustsein gehört der Glaube dazu.SS

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